Fragen zum Deutsch-Sein heute

Bericht vom 63. „Forum integrierte Gesellschaft“ am 28.10.2018

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden
Bericht vom 63. „Forum integrierte Gesellschaft“ am 28.10.2018
und Einladung zum nächsten Treffen am 25.11.2018

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.

Liebe Freunde, liebe Freundinnen des Forums,

die Frage für das zurückliegende Treffen lautete, ob es für Deutsche in der heutigen Weltentwicklung eine besondere Aufgabe gibt, geben könnte oder dürfte, die nicht in alte oder neue nationalistische Muster abgleitet. Das ist, zugegeben, eine heikle Frage und nur mit Behutsamkeit anzufassen.

Entsprechend gespannt waren wir, wie sich das Gespräch zu dieser Frage entwickeln würde. Um es gleich vorweg zu sagen: Wir kamen weder zerknirscht noch zu besonders aktivem Deutschsein angestachelt aus dieser Runde, vielmehr mit dem klaren Impuls, Antworten auf diese Frage nicht im Deutschsein, sondern in der Suche nach dem Menschwerden zu finden.

Das sind natürlich große Worte, die nicht sofort so im Raum standen und auch nicht ohne weitere Erläuterungen so stehen bleiben können. Zudem hatte der Ablauf des Gespräches, wie es nachträglich erkennbar wird, in der labyrinthischen Weise, wie es sich durch den Dschungel dieser Fragen von einer Seite zur nächsten bewegte, offenbar etwas Exemplarisches. Es macht daher Sinn, die Stationen nachzuzeichnen, die zu diesem Ergebnis des Gespräches geführt haben, so dass daran mit späteren Vertiefungen angeknüpft werden kann.

Die Runde begann mit einem offenen Widerspruch:
Deutsch-Sein, so die erste Position, die geäußert wurde, das heiße, die Individualität zu schützen. Dieser Forderung folgte sofort die Gegenposition, dass über Deutsch-Sein überhaupt nicht gesprochen werden könne, ohne dabei nationalistisch zu werden. Damit war bereits die erste Hürde aufgestellt, die sich bei solchen Gesprächen stellt, die Aufforderung nämlich, zwischen nationalistisch und national differenzieren zu müssen.

‚National‘, das meint zunächst nicht mehr als das Geburtsland, die Geburtsgemeinschaft, aus der ein Mensch stammt. ‚Nationalistisch‘ meint die politisierte Form, die sich aus der Entstehung des einheitlichen Nationalstaats und dessen Missbrauch im Laufe der Geschichte seit der französischen Revolution und beschleunigt nach 1848 Europa entwickelte, als die deutschen Revolutionäre von 1848 sich entschieden ein föderales Mitteleuropa zugunsten eines preußischen Nationalstaats hinter sich zu lassen.

Die weiterführende Frage lautete dann: Wie gehe ich mit der Verengung des Nationalen, mit dessen späterem Missbrauch als Nationalismus und den heutigen nationalistischen Tendenzen um? Konkret, was antworte ich den Menschen, die ich im Ausland treffe, wenn sie mich auf die rechten Entwicklungen in Deutschland ansprechen?

Diese Frage verdichtete das bis dahin noch widersprüchlich Diskutierte auf einen ersten provokativen Kernsatz: Als Deutscher bin ich Individualist.

Mit diesem Satz war die Polarität gegeben, entlang derer sich der weitere Klärungsprozess entwickeln musste: Das Verhältnis von ‚deutsch‘ und ‚ich‘. Was ist deutsch, wer bin ich? Lässt sich mein Ich von der deutschen Geschichte trennen? Anders: ist deutsche Geschichte ohne Ich-Entwicklung denkbar?
Und noch die andere Frage: Gilt dieser Satz nur für Deutschland? Was ist mit den Menschen anderer Völker und Staaten, Russen. Amerikanern, Franzose und anderen.

Gut, wir beschränkten uns zunächst auf die Frage des Deutschen. Deutsch – das ist deutsche Geschichte. Widersprüchliche Vokabeln fielen wie: ‚Deutsch‘ etymologisch möglicherweise von ‚deuten‘, in alle Richtungen orientiert sein. Viele Dialekte. Einheitlicher Sprachraum aber erst seit Luther. Verlust der Mitte durch die Entscheidung der Revolutionäre von 1848, den Ersten Weltkrieg, den Faschismus. Deutsch – gleich tiefes Verlierertrauma. Deutsche Teilung. Aber deutsche Geschichte ist auch germanische Völkerwanderung. Glanzvolles Mittelalter. Deutscher Idealismus, Goethe, Schiller, Hegel, Marx usw. Deutsches „know how“, „made in germany“. Deutsche Führungsrolle im heutigen Europa.

Hier erhob sich die Frage von der anderen Seite: Welche Lehre zieht das Individuum, ziehe Ich aus der deutschen Geschichte? Sätze fielen, die aus dem Bewusstsein eines tiefen Traumas gesprochen wurden, das sich aus der Trennung zwischen dem Kulturraum Deutschland und der Geschichte der deutschen Staatlichkeit ergibt: In der Spaltung von Ost- und Westdeutschland habe sich die Spaltung der Welt in Ost und West, in Faschismus und Sozialismus konzentriert. Die Deutschen hätten die Spaltung der Welt in ihrer eigenen Geschichte am Extremsten erlebt. Als historische Konsequenz folge daraus für Deutsche die Lehre: verbinden, nicht trennen, voneinander lernen, statt einander zu bekämpfen. Dies sei eine Erfahrung, die auch für Menschen anderer Völker gelte, für deutsche habe sie sozusagen existenziellen, fundamentalen Charakter. Deutschsein heiße vor diesem Hintergrund Mahner zu sein, dafür aktiv zu werden, dass sich solche Spaltungen in der Welt nicht widerholen dürfen, dies aber weder im Kotau vor den Siegern der beiden Weltkriege, noch in neuer Überheblichkeit an der die Welt neuerdings genesen müsse. Ein Balanceakt, also, ganz offensichtlich.

Wie kann der Balanceakt gelingen, ohne wegen der finsteren Seiten der deutschen Geschichte im dem Kotau zu versinken oder sich in Überheblichkeit neu erworbener „Menschenrechtlichkeit“ zu verlieren? Mit dieser Frage ging das Gespräch in die dritte Runde.

Die Antworten dazu knüpfen wieder an den Eingangssätzen an. Ja, die Geschichte zeigt, dass es darum geht, dem Individuum Raum zur Entwicklung zu lassen. In der Essenz erfordert das eine Fragekultur zu entwickeln, eine Philosophie des gegenseitigen Zuhörens. Aber die Geschichte zeigt zugleich, dass das Individuum diesen Raum auch ergreifen muss. Ergreifen kann es ihn aber nur, wenn es sein Eingebettet-Sein in seine Geschichte versteht. Für das deutsche Individuum, besser das Individuum in Deutschland ist es eine manifeste Erfahrung, dass Wirtschaft, Staat und Kultur im Laufe der deutschen Geschichte nicht identisch waren. Deutscher Kulturraum, Wirtschaft und deutscher Staat waren nicht identisch – nicht im deutschen Reich römischer Nation, nicht im alten Mitteleuropa, nicht im deutschen Nationalstaat Bismarcks, nicht in der Weimarer Zeit – und am allerwenigsten im gespaltenen Nachkriegsdeutschland.

Was folgt daraus? Es ist nicht einfach, die Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen. Aber einige Kernpunkte lassen sich doch benennen: Es geht auf jeden Fall um ein anderes Staatsverständnis als das, was mit dem einheitlichen Nationalstaat 1848 erhofft und dann von Bismarck in „Blut und Eisen“ umgesetzt wurde. Dieses Staatsmodell kollidiert mit seinem Anspruch alle Lebensbereiche von oben über ein zentrales Gewaltmonopol einheitlich organisieren zu wollen nicht nur mit dem selbstbestimmten Leben der Menschen, sondern zugleich auch mit den staatlichen Nachbarn, die den gleichen Anspruch auf wirtschaftliche Ressourcen und kulturelle Räume stellen. Diese, auf existenzieller Konkurrenz von Nationalstaaten aufgebaute Welt lässt zu wenig Raum für kooperative Entwicklung.

Wie also dann? Die nationalstaatliche Organisation ist die bisher letzte Antwort auf die Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Aber ist sie die einzige? Selbstverständlich nicht. Es wird Zeit sich an frühere, ebenso wie an heute bestehende Formen des Zusammenlebens zu erinnern: An die antiken Vielvölkergesellschaften. An die dynastischen Reichsorganisationen des „Mittelalters“. An die vom „Rütli-Schwur“ bis heute getragene kooperative Rätestruktur der Schweiz. An die Vielvölkerstruktur Russlands, die multinationale der USA. – In Wahrheit gibt es auch heute viele Formen. Sie werden aber alle in das Korsett des immer noch geltenden Credos vom einheitlichen Nationalstaat gezwungen, auch wenn das lebendige Fleisch der Gesellschaften hinten und vorn aus den Nähten quillt – und obwohl Wirtschaft und Kultur sich heute längst in übernationalen Verhältnissen bewegen.

Zurück zur Frage, für welche Botschaft wir als Deutsche in dieser Situation, in der Staat, Kultur und Wirtschaft allen extremen Versuchen zum Trotz NICHT identisch waren und nicht in einem zentralistischen Einheitsstaat zusammengefasst werden konnten, jetzt stehen, stehen können, stehen dürfen, ohne überheblich, chauvinistisch oder gar nationalistisch zu sein.

Die Antwort ist klar: Es gilt die nationenübergreifenden, föderalen, demokratischen Impulse der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, wie sie sich u.a. im Grundgesetz der Bundesrepublik ansatzweise niedergeschlagen haben, erneut aufzugreifen, gegen die sich abzeichnenden Rückfälle in nationalistische Tendenzen zu verteidigen und stattdessen konkrete Impulse in Richtung der Entflechtung, Demokratisierung und Föderalisierung der Nationalstaatsordnung zu entwickeln.

Dabei können Anregungen hilfreich sein, die schon nach dem ersten Weltkrieg dazu vorlagen, aber durch den Nationalstaat, besonders in seiner Form des Faschismus wie auch Stalinismus beiseitegeschoben wurden, die aber ihre Aktualität nicht verloren haben. Die Rede ist von Rudolf Steiners Ideen zur „Dreigliederung des sozialen Körpers“, in der schon damals reale Formen der Entflechtung des einheitlichen Nationalstaates beschrieben wurden.

Die Versammlung kam daher überein, Rudolf Steiners „Kernpunkte der sozialen Frage“ (insbesondere die beiden Vorworte), in denen diese Ideen dargestellt sind, zum Thema des nächsten Treffens zu machen.

Das nächste Treffen ist für den 25.11.2018 um 15.00 Uhr geplant

Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich.
Freunde und Freundinnen, Interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen.
Anmeldungen ggflls. über die Adresse www.kai-ehlers.de

Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner