Europa oder Deutschland first? – Anmerkungen zu einer Scheinalternative im Asylstreit

Europa retten? Deutschland retten? Vor wem? Es scheint, dass die in den zurückliegenden Jahren allgegenwärtige ‚russische Bedrohung‘ in Deutschland und Europa zurzeit von einem Problem in den Hintergrund gedrängt wird, von dem in staatstragenden Kreisen offenbar noch mehr als von der ‚russischen Gefahr‘ befürchtet wird, dass es die Einheit Europas, zumindest die Regierungsfähigkeit der Großen Koalition Deutschlands sprengen könnte.

Geredet wird grob von „Asyltourismus“, der von Deutschland „gesteuert“ werden müsse, so Markus Söder, Ministerpräsident Bayerns im Chor mit Heimatminister Horst Seehofer und der CSU. Etwas gemäßigter spricht die Generalsekretärin der CDU, Annegret Kram-Karrenbauer von ‚Migranten‘, die von Europa, speziell von Deutschland, wie von einem Magneten angezogen würden und gegen die Europa seine Außengrenzen schützen müsse.[1]

Die AfD darf sich erfolgreich fühlen. Von Seiten der SPD und der übrigen politischen Szene wird der Schaukampf zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer verhalten beobachtet.

Alternativen werden aufgebaut, wie mit den Asylsuchenden in Europa umzugehen sei, getragen von der Bundeskanzlerin Merkel einerseits, die für eine ‚solidarische‘ Lösung wirbt, soll heißen, für eine Lösung, die von allen Mitgliedsstaaten der EU gemeinsam getragen wird. Eine solche Lösung würde bedeuten, dass schon an den Außengrenzen der EU entschieden würde, wer in den Binnenraum der EU, also nach Deutschland hineingelassen werden soll und wer nicht und was mit denen geschehen soll, die aufgehalten werden.

Demgegenüber steht Horst Seehofer, hinter ihm Markus Söder, beide getrieben von der Sorge, dass die AfD sie mit ihrer Kritik an der ‚Willkommenskultur‘ bei den bevorstehenden Bayerischen Landtagswahlen aus ihrer langjährigen Mehrheitsposition im Bayerischen Landtag verdrängen könnte.

Unter diesem Druck verlangt die CSU, dass Asylsuchende, die von den europäischen Randstaaten nach Deutschland ‚durchgewunken‘ worden seien und in Zukunft ‚durchgewunken‘ werden könnten, an den deutschen Grenzen ohne Prüfung der Asylanträge abgewiesen und zurück in die Ankunftsländer geschickt werden.

Das hieße, entweder würde die Last der Entscheidungen den Randstaaten der EU aufgebürdet, was sie aus unterschiedlichen Gründen nicht zu tragen bereit sind, oder Deutschland verließe den Konsens der EU, was bei den übrigen Mitgliedern der EU den Eindruck hinterließe, als ob der Schutz des nationalen deutschen Interesses gegen die Einheit Europas stünde. Die konkrete Lebenssituation der Menschen spielt bei alledem keine Rolle mehr.

In dieser Polarität ist das Problem der Asyl Suchenden nicht zu lösen, schon gar nicht in einer den Werten des Europäischen Union entsprechenden Weise, selbst wenn Deutschland bereit wäre, sich an den Kosten für Asylprüfungsverfahren, für Unterbringung u.ä. in den Grenzländern  zu beteiligen. Als Solidargemeinschaft, die sich humanitären Werten verpflichtet sieht, steht die EU vor ihrem Bankrott. Nur ein Kompromiss könnte helfen,  der das Problem in der Hoffnung auf eine europäische Einstimmigkeit verschöbe, aber der ist nicht in Sicht. Der einzig zur Zeit erkennbare Ausweg liegt in der Aushandlung bilateraler Verträge zwischen den einzelnen Mitgliedern der EU, insbesondere Deutschlands, in denen die besonderen Bedingungen der jeweiligen Länder, die Anlaufstellen von Flüchtlingen waren und absehbar auch in Zukunft sein werden,  berücksichtigt würden. Eine solche Regelung könnte sogar die Ahnung einer zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union als lockere Gemeinschaft selbstbestimmter Staaten aufkommen lassen.

 

Festungsbau als Lösung?

Langfristig ist die Frage der Zuwanderung durch ‚Migranten‘ und Flüchtlinge, in der Tat weder mit Einreisesperren, noch mit Abschiebungen aus dem Weg zu schaffen, gleichgültig auch, ob diese Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen oder an nationalen Grenzen erfolgen, solange die Europäische Union einem starren Einstimmigkeitszwang folgt.

Zwar ist die Position Angela Merkels ‚offener‘, ‚solidarischer‘, ‚demokratischer‘, soweit es die politischen Beziehungen innerhalb der EU angeht, als die Positionen Horst Seehofers und seines Lagers. Merkels Haltung mag von manchem sogar als ‚kleineres Übel‘ gegenüber dem Rückfall in das nationale Denken Seehofers verstanden werden. Bei genauerem Blick in die Struktur der Vorschläge wird aber doch erkennbar, dass sie beide, Merkel wie auch Seehofer, demselben Denkmuster folgen, vom Schutz des deutschen Nationalstaates  zum Schutz europäischen Superstaates nur um eine Ebene ins Allgemeinere verschoben: In Seehofers Position geht es um die Abschottung des deutschen Nationalstaats, in Merkels Argumentation um die  Abschottung der Europäischen Union, deren Repräsentanten angesichts der allgemeinen Verwerfungen der bestehenden Völkerordnung soeben dabei sind, die Union zum übernationalen Einheitsstaat entwickeln zu wollen.

Etwas gröber gesagt, liegt der Unterschied zwischen den Positionen Horst Seehofers und Angela Merkels allein in der Dimension: Festung Deutschland oder Festung Europa, die – so oder so – gegen den Ansturm der Flüchtlinge und der generellen weltweiten ‚Migration‘ aufgebaut werden sollen.

Europa wird sich aber, in welcher Formation auch immer, daran muss hier wohl doch erinnert werden, wie die übrigen ‚entwickelten Länder‘ der ‚westlichen‘ Welt  darauf einstellen müssen, in Zukunft Einwanderungsland für die Teile des Globus zu sein, deren Entwicklungsdynamik immer mehr Menschen hervorbringt, die an den Rand der Gesellschaften gedrängte ‚Überflüssige‘ nach Möglichkeiten der Verwirklichung  ihres Lebens suchen. Tendenziell wird das zweifellos auch zu einer Nivellierung des Wohlstandsgefälles zwischen dem Norden und dem Süden führen. Die demographischen Daten über das dynamische Bevölkerungswachstum im Süden und die „Schrumpfung“ im Norden lassen keine andere Erwartung zu. Diese Tatsachen sind ja schon lange kein Geheimnis mehr. [2]

 

Öffnen statt schließen

Was angesichts dieser Entwicklung gebraucht wird, ist nicht die Festigung der überholten Ideologie des Nationalstaats, weder als deutscher, noch als europäischer Superstaat, sondern die Öffnung und Transformation der Europäischen Union in Richtung einer europäischen Föderation. Sie könnte den Völkern und Kulturgemeinschaften Europas, die Möglichkeit geben, sich ihrer Eigenheiten und ihrer Kräfte entsprechend in gegenseitiger Förderung selbst zu entscheiden und diesen Impuls zugleich an die sich heute herausbildende neue Völkerordnung weitergeben, statt sich zum Superstaat zu verhärten.

Darüber hinaus  ist ganz sicher nicht ein europäischer Magnetismus die Hauptursache für die Migration, sondern die Tatsache, dass die Länder der ehemaligen Kolonien  aufgrund der nach wie vor anhaltenden, wenn auch verdeckten imperialen Abhängigkeiten, in denen diese Länder von den ‚entwickelten Staaten‘ noch immer gehalten werden, nicht in der Lage sind, eine Infrastruktur aufzubauen, die es ihren Bevölkerungen erlaubt ein ökonomisch und politisch abgesichertes Leben zu führen. Da ist Hilfe beim Aufbau lokaler Wirtschaften zu leisten, die den Menschen ein Bleiben vor Ort ermöglichen. Die Rede ist, um nicht missverstanden zu werden, von aktiver Hilfe zur Selbsthilfe, die an den gewachsenen Bedingungen vor Ort anknüpft, aufgelaufene Schulden abbaut und keine neuen Kreditabhängigkeiten herstellt.

Zum Dritten ist das Problem der Migration ganz sicher weder im Alleingang  Deutschlands, noch Europas, auch nicht des ‚Westens‘ zu lösen, sondern nur in Kooperation mit den Völkern und Staaten der Weltgemeinschaft, die sich dafür engagieren, die globalen Kriegsherde zu löschen, aus denen die Flüchtlingsströme hervorgehen.  Das erfordert allem voran eine Kooperation Deutschlands und Europas mit Russland und China, soweit diese Länder der Botschaft des „Amerika first“ entgegenwirken. Es erfordert selbstverständlich auch ein Zusammenwirken mit den USA, sofern diese selbst von ihrer Politik des fortwährenden Zündelns Abstand nehmen sollten.   

Werden diese Aspekte nicht in die Suche nach Lösungen zur weltweiten Migrationsbewegung einbezogen, müssen alle Wege zur „Steuerung“ der Migration national gebundene Scheinalternativen nach dem Motto Deutschland oder Europa first bleiben oder sogar als bewusste Verschleierungen der Ursachen der Flüchtlingsprobleme verstanden werden.  

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen, BoD, 2016, zu bestellen über www.kai-ehlers.de 

[1] Alle Zitate aus „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 18.Juni 2018

[2] Siehe dazu: Kai Ehlers, die Kraft der Überflüssigen, S. 25 ff