NATO, Russland, Ukraine – ein Versuch Rote Linien zu erkennen

(Überarbeiteter und gekürzter Vortrag von der Konferenz:
„1955 – 2015: 60 Jahre BRD in der NATO – 60 Jahre Herausforderung für Friedenspolitik und Friedensbewegung“)

Siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, im zweiten Jahr des ukrainischen Krieges findet die Moskauer Parade zum Sieg über den Faschismus in Abwesenheit der damaligen Alliierten und heutigen westlichen Partner, dafür in demonstrativer Gegenwart des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping statt. An der Parade auf dem Roten Platz beteiligen sich anstelle westlicher Abordnungen wie in den Jahren zuvor dieses mal Paradetruppen aus China, Indien, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Kirgisien und der Mongolei. Demonstrativ führt Russland sein modernisiertes Waffenarsenal vor. In seiner die Parade begleitenden Rede fordert Putin allerdings nicht etwa die Weltherrschaft, wie manche Medien ihm andichten, sondern die Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

Bei einer eigens für sie in Moskau am Tag darauf anberaumten Nachfeier nennt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Aufnahme der Krim in die russische Föderation – nach einem kurzen Stocken beim Ablesen der Textvorlage ihrer Presseerklärung – eine „verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion“. Wladimir Putin, am Rednerpult zwei Meter neben ihr, der deutschen Sprache mächtig, schweigt dazu. Die Website der deutschen Bundesregierung dokumentiert den Vorgang unter dem ausdrücklichen Hinweis: „im Wortlaut“ ohne Kommentar; die russische Diplomatie fordert keine Stellungnahme.

„Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine hat diese Zusammenarbeit einen schweren Rückschlag erlitten, schwer, weil wir darin eine Verletzung der Grundlagen der gemeinsamen europäischen Friedensordnung sehen.“

In den weiteren Erklärungen der besagten Pressekonferenz am 10. Mai beschwören Angela Merkel wie auch Wladimir Putin die deutsch-russische Versöhnung und „Freundschaft in schwierigen Zeiten“. Sie bekräftigen ihre Übereinstimmung gemeinsam auf die Erfüllung des Abkommens von Minsk II hinzuwirken zu wollen – allerdings formulieren sie dazu diametral konträre Positionen.
Wladimir Putin betont mit Blick auf die Ukraine: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine langfristige Konfliktlösung nur durch den direkten Dialog gewährleisten können, einen Dialog zwischen Kiew, Donezk und Lugansk. Ich bin der Meinung, dass das eine der Schlüsselvoraussetzungen für eine Konfliktlösung ist. Ich halte es für notwendig, die Wirtschaftsblockade aufzuheben, Finanz- und Bankverbindungen wiederherzustellen und eine Verfassungsreform durchzuführen unter Beteiligung der südöstlichen Regionen. All das ist in den Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar festgeschrieben. Ich möchte noch einmal unterstreichen: Sie müssen erfüllt werden.“ Ergänzend bekräftigt er seine am Vortag während der Parade auf dem Roten Platz erhobene Forderung nach Schaffung eines weltweiten Sicherheitssystems ohne Blöcke.

Merkels Floskeln, Kerry`s Wende

Angela Merkel antwortet mit allgemeinen Floskeln zur Notwendigkeit der Waffenruhe im Donbass und der Forderung nach lokalen Wahlen, die durchzuführen seien, ohne jedoch auf Putins Anmahnung des direkten Dialoges zwischen Kiew und den östlichen Regionen und ohne auf Putins Vorschläge zur Schaffung eines blockfreien internationalen Sicherheitssystems einzugehen: „Worum geht es bei der Umsetzung des Minsker Maßnahmen Paketes?“, fragt sie stattdessen: „Es geht darum, dass wir zum Schluss die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen.“

Mit der Aussparung des direkten Dialogs zwischen den ukrainischen Parteien ist das genau die Position, die Kiew mit seiner „Anti-terroristischen-Aktion“ vertritt, an deren Ende nach Petro Poroschenkos und Arseni Jazenjuks Plänen die Unterwerfung der Lugansker und Donezker „Terroristen“, im Sprachgebrauch der Kiewer ebenfalls Verbrecher, unter die Kiewer Zentralmacht v o r den geplanten Lokalwahlen und außerdem die Widereingliederung der Krim in eine „Souveräne Ukraine“ stehen soll. Gegensätzlicher kann eine Übereinstimmung wohl kaum noch sein.

Zwei Tage später eröffnet US-Außenminister Kerry, begleitet von der im US-Außenministerium für Europa zuständigen Victoria Nuland, überraschend eine diplomatische Offensive in Moskau. Seitdem pendelt Victoria Nuland zwischen Kiew und Moskau hin und her. Auch die USA wollen sich nun für die Einhaltung des Minsker Abkommens einsetzen – allerdings mit dem bemerkenswerten Zusatz, dass Victoria Nuland, nicht zuletzt bekannt als Sonderbeauftragte für Regime-Change-Interventionen Washingtons, in Moskau nicht nur mit Diplomaten, sondern auch mit Vertretern der liberalen Opposition Gespräche führt.

Rote Linien? Kalter Krieg?

Im Hintergrund wird der Kriegsschauplatz Ukraine von der NATO weiter aufgerüstet. Noch kein halbes Jahr liegen die Beschlüsse von Wales zurück, in denen die NATO den Ausbau ihrer schnellen Einsatzkräfte entlang der russischen Grenzen verkündete, soeben legte sie in bei einem erneuten Treffen in Antalya mit Beschlüssen für eine zukünftige „hybride Kriegführung“ weiter nach. Dies alles geschieht mit Verweis auf die „russische Aggression“ gegen die Ukraine und die angeblich zu befürchtenden Übergriffe Russlands gegen die baltischen Staaten und andere Länder des Korridors zwischen der EU und Russland.

Im Grundton der Propaganda klingt das alles nach einer Wiederholung alter Muster des kalten Krieges: Friedenssicherung durch Abschreckung, Gleichgewicht des Schreckens, Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche.Selbst ein moderater Vertreter der NATO, wie Ex-NATO-General Harald Kujat, der in Talkshows und Interviews in den letzten Monaten entgegen der Propaganda des NATO-Hauptquartiers offen die Sicht vertrat, dass „Putin keine direkte Konfrontation“ beabsichtige, das die russischen Manöver der letzten Zeit „maßvolle Demonstrationen“ seien, kommt unter dem Strich doch zu der Sicht, die NATO versuche heute deutlich zu machen, „dass es eine rote Linie gibt.“ In Bezug auf die Ukraine müsse der Konflikt „nach Auffassung des Bündnisses politisch gelöst“ werden. Niemand wolle eine militärische Lösung. Auf der anderen Seite gehe es „um die Sicherheit der Mitgliedstaaten wie der baltischen Staaten und der Polen.“
Stellt sich also letztlich die Frage, von welcher „roten Linie“ ist hier die Rede?

Strategische Eckdaten…

Antworten auf diese Frage sind nicht aus der Propaganda zu gewinnen, weder aus westlicher noch aus russischer. Sie ergeben sich aus einer Analyse der Hauptelemente der gegenwärtigen Krisenentwickelung. Deren Kern ist: Wir leben immer noch in der nachsowjetischen Transformation. Sie ist inzwischen, nach kurzen Siegestaumel der kapitalistischen Welt in eine allgemeine, den ganzen Globus erfassende Krise der heutigen profitgesteuerten Industriegesellschaft übergegangen. Eine grundlegende Neuordnung steht heute auf der Tagesordnung der heutigen Weltgesellschaft.

Diese Entwicklung stößt an die Grenzen eines bloß ökonomisch definierten Wachstums, sie drängt immer mehr Menschen als „Überflüssige“ an den Rand der Gesellschaft. Durch den Zerfall der festen Strukturen der bipolaren Welt entsteht zugleich einen Prozess nachholender Nationenbildung, der in seiner plötzlich freigesetzten Dynamik radikale Nationalismen hervorbringt. Schließlich ließ das Aufbrechen der Blockpolarität nach dem Zerfall der Sowjetunion eine globale Pluralität von Staaten und Regionen entstehen, die sich nach vorübergehender Unterordnung unter die Hegemonie der USA inzwischen zu einer neuen pluralen Völker- und Staatengemeinschaft zusammenfinden müssen und wollen, bei dem die bisherigen Hegemonialmächte nur Gleiche unter Gleichen sein können.

Soziale Proteste, Revolten, nationalistische Exzesse und geopolitische Zusammenstöße im Zuge der Neuordnung, der Abgrenzungen von Märkten und Einflusssphähren, der wechselnden politischen Bündnisse sind in dieser Übergangssituation vorprogrammiert.

 …exemplarisch in der Ukraine

In der Ukraine haben sich diese Elemente zu einer besonders explosiven Situation verbunden. Sie trägt exemplarischen Charakter: Der radikale Sturz der ukrainischen Gesellschaft aus der Höhe sozialistischer Illusionen in den Abgrund primitivster Formen des oligarchischen Willkür-Kapitalismus bringt besonders eruptive und radikale Kräfte der sozialen Revolte hervor.
Der Nationalismus bekommt aufgrund der realen Zersplitterung des Landes eine brutale Dynamik. Sie verbindet sich zudem mit nach- und antisowjetischen von Teilen des Landes zu einer anti-russischen, in ihren radikalen Formen rassistischen Phobie.

Die geopolitische Situation der Ukraine zwischen Russland und Europa dient den USA als Hebel zur Schwächung Russlands. Über den gleichen Hebel versuchen die USA ein Zusammengehen zwischen der EU, speziell Deutschlands und Russlands, bzw. der Eurasischen Union zu verhindern, das heißt, Eurasien unter Kontrolle zu halten.

Wenn die Ukraine „souverän“ wäre…

Vor dem Hintergrund dieser Eckdaten wird die Schlüsselrolle transparent, die das ukrainische Konfliktfeld für die gegenwärtige Strategie der NATO hat. Es kann hier nicht die ganze Geschichte der NATO- und EU-Ost-Erweiterung aufgerollt werden.

Nur so viel: Man könnte versucht sein zu sagen, die Rote Linie, von der Harald Kujat spricht, zieht sich voll durch die neuere Geschichte der Ukraine. Auf der Krim endet sie jetzt. Die Ukraine war nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 das erste Land, in das die NATO vorstieß. Seitdem wird das Land immer enger an die NATO herangezogen, ohne Mitglied werden zu können. Widersprüche zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, widersprüchliche Interessen im NATO-Bündnis, speziell zwischen Deutschland/Frankreich auf der einen, den USA auf der anderen Seite, die rote Karte, die Russland einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine im Georgischen Krieg 2008 entgegen gehalten hat, haben eine Mitgliedschaft bisher verhindert.

Jetzt wäre die Mitgliedschaft der Ukraine der letzte Baustein, mit dem sich die Einkreisung Russlands durch Stützpunkte der NATO vollenden könnte – wenn Kiew die Krim wieder eingemeinden könnte. Wenn die Westmächte bereit wären, Kiew dabei zu unterstützen. Wenn eine derart vorgehende Ukraine zudem ihre sozialen Probleme lösen, wenn sie ihre Minderheiten schützen, vor allem aber, wenn sich die NATO von heute, das heißt, das jetzt gegen Russland gerichtete Kriegsbündnis, verpuppen könnte, um morgen als kollektives Sicherheitssystem widergeboren zu werden.

Solange dies aber alles nicht so ist, mündet die rote Linie der Krim , anders als von der NATO angestrebt, in der zum 70. Jahrestag vorgeführten demonstrativen Entschlossenheit Russlands, sich dem Erweiterungs- und Einkreisungsdruck der NATO, USA und EU nicht weiter zu beugen und sich durch keine Provokation zu blinden Reaktionen hinreißen zu lassen. Da verschwindet sogar Angela Merkels Auftritt vom 10. Mai im diplomatischen Giftschrank. Jeder Versuch jedoch die rote Linie durch Rückeroberung der Krim zu überschreiten, wäre für Russland ein casus belli, der zudem Russlands neue Verbündete mit auf den Plan riefe. Damit ist dieses Kapitel der Ukrainischen Geschichte vorerst beendet. Eine Lösung des Grundkonfliktes, der aus der Überlagerung von sozialen, nationalen und geopolitischen Krisenströmen im ukrainischen Raum entsteht, ist das jedoch noch keineswegs. Das wird an den nebeneinander stehenden Statements Wladimir Putins und Angela Merkels einen Tag nach dem „Tag des Sieges“ in Moskau mehr als deutlich.

www.kai-ehlers.de Mittwoch, 20. Mai 2015