Arabische Umbrüche

Auswertung des 10. Treffens vom 26.02.2011, Einladung zum Treffen am 19.03.2011

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums integrierte Gesellschaft,

unser Treffen zu den Umbrüchen im arabischen Raum war sehr intensiv. Wir haben natürlich keinen Fahrplan für eine arabische Revolution entworfen – dafür sahen wir uns umso intensiver mit der Frage konfrontiert, was wir Westler, konkret auch wir in unserem Alltag mit diesen Ereignissen zu tun haben. Ausgangspunkt unserer Gesprächsrunde waren drei Fragen: Wer sind die Träger der Proteste und worum geht es? Welche Rolle spielt der Islam in den Protesten? Welche Rolle spielt der Westen?

In der Untersuchung der ersten Frage – wer? wofür? – ist der jugendliche Charakter der Proteste selbstverständlich ein auffälliges Merkmal. Hier war ein Blick auf die Analysen des Terrorforschers Gunnar Heinsohn nützlich, der auch die arabischen Unruhen entsprechend seiner Theoreme vom drohenden Jugendüberschuss („Youth bulge“) wesentlich auf den Bevölkerungsüberdruck der muslimischen Staaten zurückführt. Man muss die monokausale Zuspitzung seiner Analysen nicht teilen; nichtsdestoweniger weist er auf ein wichtiges Phänomen hin. Unter den von ihm genannten Gesichtspunkten wären die Unruhen als Wunsch nach Teilhabe der arabischen Jugend an den Werten der globalisierten Welt und deren Glücksversprechen zu interpretieren, die sie in ihren Heimatländern wegen des überquellenden Überschusses an jungen Menschen, Youth bulge“ nicht verwirklichen können.

Tatsache ist allerdings, dass nicht nur Forderungen nach Teilhabe an den Möglichkeiten der globalisierten Konsumwelt aus den Reihen der arabischen Regimekritiker und Demonstranten zu hören sind, sondern auch – um es kurz zu sagen – Sehnsucht nach Sinn, nach eigener, von westlichen Werten durchaus unterschiedener, sogar in der Kritik an westlichen Werten auftretender eigener Identität. Worin diese eigene Identität bestehen könnte, ist noch keineswegs klar – auf jeden Fall aber steht sie in enger Bindung an den Islam als die kulturbildende Kraft dieses Teiles der Welt, sei es in dogmatischer Rückwendung, sei es in Gestalt einer wie auch immer gestalteten Säkularisierung. Dabei verbindet sich die Orientierung am Islam untrennbar mit der antikolonialen Dynamik dieser Proteste. Diese Aussage gilt – ungeachtet aller Differenzierungen zwischen Ländern des von den Umbrüchen erfassten Raumes – für alle diese Länder, insofern sie nicht nur Teil der vom Westen kolonisierten Welt waren, sondern es in der modernen Form des Globalismus auch heute noch sind.

In welchem Mischungsverhältnis der Wunsch nach Teilhabe am Glücksversprechen des globalen Kapitalismus und Sehnsucht nach Sinn in einer eigenen, vom Westen unterschiedenen Identität miteinander sich bewegen, ist nicht entschieden und auf jeden Fall für uns von außen zur Zeit nicht erkennbar. Wir können lediglich ein paar historische Linien anschauen, entlang derer sich die Entwicklungen dieses Raumes bisher vollzogen haben: Aufstieg des muslimischen Kulturraumes zur hegemonialen Kraft in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung; Niedergang, bzw. Stagnation dieses Kulturaumes rund um das 13. Jahrhundert bei gleichzeitigem Aufstieg des christlich-abendländischen. Schrittweise Kolonialisierung dieses Raumes durch die Europäer bis zum ersten Weltkrieg; seit dem ersten Weltkrieg, verstärkt nach dem zweiten wachsende Modernitäts- und Identitätskrise einer sich wieder auf ihre Geschichte besinnenden muslimischen Welt –  die aber zugleich über den Grundreichtum der modernen Welt verfügt, das ÖL. All dies im Zusammenhang einer sich nach dem Zerfall der Systemkonkurrenz neu gruppierenden globalen Ordnung.

Ein weiterer wichtiger Faktor, den wir uns genauer angeschaut haben, ist der Charakter des Islam als Angebot einer, sagen wir es ruhig so, ganzheitlichen Welterklärung und Weltordnung, einschließlich der sozialen Alltagsordnung bis hin zur Beziehung von Männern, Frauen und Kindern zueinander. Ibn Waraqu kritisiert in seinem Buch „Warum ich kein Muslim bin“ den Islam von der Lehre her (!) als totalitäre Ideologie, die nach dem Versagen von Faschismus wie auch des Stalinismus als neue autoritäre Heilslehre sich zu verbreiten drohe und ruft zu einem „kalten Krieg“ gegen die Islamisierung der Welt und für eine Säkularisierung des Islam auf. Im Gefolge Waraqu`s ziehen – auf weit niedrigerem Niveau und in dümmlichen Vereinfachungen seiner Argumentation – zahllose Agitatoren diverser Couleur gegen die angeblich drohende Gefahr einer Islamisierung der Welt zu Felde. Diese Kampfrufe muss man nicht übernehmen, den demagogischen Zuspitzungen sogar aktiv entgegentreten, aber der von Ibn Waraqu aufgezeigten „Totalität des Islam“ liegt real der  Kern zugrunde, dass der Islam, bzw. die verschiedenen „Islame“, soweit sie sich auf den Koran berufen, nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische und soziale Orientierung bieten, in der das Politische und das Soziale zu einer Ganzheit verbunden sind. Und so stellt sich unvermeidlich die Frage, welche Rolle diese Orientierung in den gegenwärtigen Umbrüchen spielt und zukünftig spielen wird.

Nur mit größten Vorbehalten haben wir uns der ganz anderen Frage genähert, welche Rolle die westlichen Hegemonialmächte für die gegenwärtige Entwicklung im arabischen Raum gespielt haben und welche sie jetzt spielen. Wenig bekannt – aber unbedingt zur Kenntnis zu nehmen – sind die von Gunnar Heinsohn rückhaltlos offenbarten US-Strategien der präventiven Eindämmung der „Youth bulge“-Problematik, die eine unmissverständliche präventive Interventionspolitik der heute herrschenden Hegemonialmacht USA und der mit ihr verbündeten „entwickelten Länder“ beinhalten. Es darf nach allen Erfahrungen mit CIA, NATO etc. davon ausgegangen werden, dass diese Strategien zum „Abbau der Überschüsse“, die seit dem Ende der Sowjetunion entwickelt wurden, nicht nur entworfen, sondern auch in den arabischen Ländern verfolgt wurden. Aktuelle Meldungen machen bmerkenswsert spärlich zwar, aber unmissverständlich deutlich, dass der „Westen“ vor den jetzigen Unruhen aktiv in diesem Raum engagiert war.  Offen ist noch – wie. Es wäre aber ein schwerer Fehler, die gegenwärtigen Ausbrüche von Massenprotesten für ein Werk der CIA, NATO oder anderer westlicher Interventionskräfte zu erklären. Eher ist davon auszugehen, dass den westlichen Interventionisten – wieder einmal – die reale Bewegung aus dem Ruder gelaufen ist. Man wird genau hinzuschauen haben, inwieweit sie mit präventiven Interventionen am Zustandekommen der jetzigen Unruhen beteiligt waren, bzw. auch, wie versucht wird,  die Proteste jetzt einzugrenzen, bevor ihre Dynamik nicht nur die örtlichen Despotien, sondern auch die westliche Hegemonie in Frage stellen kann.

Damit ist auch schon die letzte Frage erreicht, die am Ausklang unseres Treffens stand, nämlich, was die Ereignisse in Arabien für uns bedeuten. Bei aller Schwierigkeit, darauf eine Antwort zu finden, waren wir uns sehr schnell in einem Punkt einig, nämlich, uns davor zu hüten zu müssen, den Ereignissen einen „westlichen Hut“ überzustülpen. Vielmehr muss es im Interesse einer kooperativen und friedlichen Zukunft darum gehen, sich um ein historisches und aktuelles Verständnis des muslimischen Kulturraumes zu bemühen. Des Weiteren geht es darum, unseren eigenen Politikern auf die Finger zu schauen, wie sie mit den Ereignissen umgehen und Strategien der Vereinnahmung ebenso wie Eindämmungsversuchen entgegenzutreten.

Die angeschnittenen Fragen sind so offen wie der Prozess selbst.

Wir werden deshalb diese Diskussion beim nächsten Treffen auf Grund der dann vorliegenden Ereignisse fortsetzen.

Zur Vorbereitung empfehle ich für die, die sich etwas Zeit nehmen wollen – abgesehen von der Verfolgung der Tagesereignisse –

–          einen Text von mir zur  „Youth bulge“-Strategie der USA/NATO (siehe dazu meine Website www.kai-ehlers.de – Stichwort: „Kraft der Überflüssigen“)

–          Tamin Ansary, Die unbekannte Mitte der Welt, Büchergilde Gutenberg

–          Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, orell füssli Verlag

Wenn Ihr weitere Texte empfehlen könnt, die Einsicht in die Hintergründe und Rahmendaten der gegenwärtigen Bewegung geben können – bitte, teilt sie mir mit; ich gebe sie dann durch.

herzlich, Kai Ehlers

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