(Schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kasseler Friedensforum: „Die Welt nach Bush“, vom 5. – 7-.12.2008)
Kai Ehlers
Liebe Freunde, liebe Freundinnen, Ziel dieses Beitrages ist es, über den bloßen Wunsch nach Veränderung hinaus, weiterführende Argumente dafür zu liefern, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen heute keine Utopie mehr ist, oder wenn eine Utopie, dann eine konkrete, die zu verwirklichen ist und das dies angesichts der Finanzkrise umso aktueller ist.
Zweites Ziel des Beitrages ist, sich der Frage weiter zu nähern, wie das geschehen kann, wenn Grundsicherung nicht nur als monetärer Vorgang verstanden wird.
Die Ausgangssituation ist: Wir erleben heute eine Intensivierung der Arbeit, eine enorme Steigerung der Produktivität, allerdings auf der Basis fossiler Energieträger und unter der Voraussetzung, dass neue Wege der Energieversorgung im Zuge dieser Intensivierung gefunden werden. Hier könnte, wenn das nicht gelingen sollte, ein kritischer Einbruch in der Entwicklung der Menschheit liegen, denn gleichzeitig vermehrt sich die Weltbevölkerung weiterhin exponential. Aus dem Zusammentreffen beider Bewegungen ergibt sich die Krise der Globalisierung, die wir heute erleben.
Für den methodischen Ansatz zum Verständnis dieser Entwicklung macht es Sinn, die Begriffe zu aktualisieren, die Karl Marx seinerzeit in den Frühtagen des Kapitalismus gefunden hat: Die Produktivität schreitet voran, aber ihre Entwicklung wird durch die bestehenden Produktionsverhältnisse behindert. Dabei ist unter Produktivität im Weiteren die Fähigkeit zur Wertschöpfung zu verstehen, unter Produktionsverhältnisse die rechtliche Organisation des Lebens, die bestehenden Eigentums- und Besitzverhältnisse.
Konkret: Produktivität heute bedeutet Bildung von Kernbetrieben und Vernetzung der Produktion durch Auslagerung von Teil- und Zulieferbetrieben, sowie Einzelarbeiten, nicht zuletzt auch intellektuellen. Es bedeutet weiterhin Reduzierung der physischen Arbeit, Einsparung, vermehrte Freisetzung von Arbeitskräften relativ zur wachsenden Produktivität.
Vernetzung bedeutet dabei zugleich, dass das, was heute Fremdversorgung genannt wird, also die gegenseitige Versorgung über den Markt, zunimmt, die Fähigkeit und Möglichkeit der Eigenversorgung jedoch schwindet. Mehr noch, die materielle Basis und die Fähigkeiten zur Selbstversorgung werden systematisch zerstört. Ergebnis ist eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit, in marxistischen Kategorien ausgedrückt, eine zunehmende Vergesellschaftung von Produktion und Konsumption, modisch formuliert, eine zunehmende globale Interdependenz.
Weiter: Die Produktionsverhältnisse sind heute durch das Privateigentum an Produktionsmitteln bestimmt; der Zweck des Produzierens – entgegen dem realen Effekt – ist aber nicht die gegenseitige Versorgung, also Fremdversorgung, sondern ganz wie Adam Smith es seinerzeit beschrieb, das private Gewinnstreben, aus dem der Markt resultiert, Profit um des Profites willen. Gegenseitige Versorgung ist unter heute den herrschenden Verhältnissen nur ein Abfallprodukt. Aber auch die traditionelle Selbstversorgung verwandelt sich; sie nimmt faktisch die Form der abstrakten Selbstvermehrung des Kapitals an.
Die Überschüsse aus gesellschaftlicher – arbeitsteilig, kollektiv und gemeinschaftlich organisierter – Arbeit werden nicht gesellschaftlich verfügbar gemacht, sondern privat genutzt. Sie werden nicht für die bewusste Veredelung der unbeabsichtigt aus dem Gewinnstreben hervorgehenden Fremdversorgung in eine allgemeine, planmäßige Grundversorgung aller genutzt, sondern gehen allein in die Selbstvermehrung des Kapitals ein. In der Finanz-Spekulation findet diese Realität ihre Spitze – Verselbstständigung der Selbstvermehrung des Kapitals, die sich von der gesellschaftlichen konkreten Produktion nahezu vollkommen löst. Überflüssiges, frei vagabundierendes Kapital.
Immer mehr „Überflüssige“
Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass relativ zur wachsenden Produktivität immer weniger physische Arbeitskraft gebraucht wird. Trotz Ausweitung der Produktion im globalen Maßstab sind immer mehr Menschen als Produzenten „überflüssig“. Als Konsumenten werden sie jedoch gebraucht und werden daher systematisch unfähig gemacht sich selbst zu versorgen, in Abhängigkeit vom Fremd-Konsum gebracht. In sog. Entwicklungs- oder Schwellenländern ist das besonders krass zu erkennen, wo die traditionellen Selbstversorgungskulturen vor aller Augen zerstört werden. Eine andere Seite desselben Prozesses vollzieht sich auf höherem Niveau jedoch auch immer noch in den Metropolen, wo die Abhängigkeit die Form des Weg-Werf- und Fast-Konsums annimmt, der durch leichte Kredite aus der Finanzblase ermöglicht wird. Ergebnis ist auch hier eine zunehmende Abhängigkeit des Einzelnen von industriellen Fertigprodukten und eine wachsende Unfähigkeit sich selbst zu versorgen. Zusammen mit dem weiterhin exponentiell ansteigenden Wachstum der Weltbevölkerung ergibt das eine wachsende Zahl von Marginalisierten, die keine Möglichkeit der eigenen Versorgung mehr haben. Globalisierte Arbeitslosigkeit entsteht, modernes Sklavenwesen, mit dem Unterschied, dass der klassische Sklave in der Regel zumindest grundversorgt war.
Not-Massnahmen…
Diese Situation kann durchaus auf längere Dauer aufrechterhalten werden – ideologisch, gewaltsam, indirekt oder direkt, durch Bürokratie, Justiz, Polizei oder auch Militär. Selbst die Ausgabe von Unterstützungsgeldern, also Sozialhilfe, Einführung von Mindestlöhnen, staatliche Almosen für die Armen und dergl. sind zunächst nur Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse. Sie sind notwendig um den Konsum aufrechtzuerhalten. Als Kaufscheine, die zum Konsum berechtigen, als jederzeit widerrufbare Ausnahmegenehmigungen, die gegen Wohlverhalten ausgegeben werden, sind sie die unauffälligste Lösung, die den zu erwartenden „Crash“ durchaus eine Weile hinauszögern können. Alle diese Maßnahmen aber sind gleichbedeutend mit einer Nicht-Nutzung der heute gegebenen Entwicklungspotentiale, der Nicht-Nutzung der „überflüssigen“, freigesetzten Kräfte, wie auch der Möglichkeiten der weiteren Intensivierung der Produktion – wie auch der Nicht-Nutzung der Kapitalien, die keine Anlage in der Produktion mehr finden.
Stattdessen verschärft eine solche Entwicklung, in der sich das Kapital ein Heer arbeitsloser Konsumenten hält, den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Kern-Gesellschaft und Marginalisierten in katastrophaler Tendenz: Zunahme des unproduktiven Kapitals, überbordende Spekulation, Stillstand der Modernisierung, Zerstörung, Krieg. Am Horizont einer solchen Entwicklung steht die leerlaufende Produktions-Diktatur des Kapitals, die nur in dessen Selbstzerstörung enden kann.
Die gegenwärtige Finanzkrise treibt die skizzierte Entwicklung ins Extrem. Spekulation ist zwar ein „normaler“ Zug des Kapitalismus; im Zusammenbruch der Blase, die wir zur Zeit erleben, schrumpft das Kapital sich „gesund“; neue Rationalisierungswellen, Intensivierung der Produktion, weitere Entlassungen werden daraus hervorgehen. Die quantitativen Ausmaße der gegenwärtigen Finanzkrise und ihr globaler Charakter führen jedoch schon an die Grenze zu einer neuen Qualität, an der die Alternative von Selbstvernichtung des Kapitals in den Fesseln der bestehenden Produktionsverhältnisse, d.h., privaten Verfügungsgewalt über Produktions- und daraus folgend Finanzmittel, oder Übergang zu neuen gesellschaftlichen Organisationsformen sichtbar wird. In den sich abzeichnenden möglichen zukünftigen Verhältnissen werden die Produktionsmittel nicht mehr Privatbesitz sein und Banken werden zu gesellschaftlichen Organen, die Geld im Dienst und zum Nutzen der Gesellschaft und nicht nur zur Selbstvermehrung verwalten.
… und echte Alternativen
Der richtige, lebensfördernde, in der abgegriffeneren Formulierung gesagt, nachhaltige Schritt in der geschilderten Situation ist jedoch die Befreiung der Produktivkräfte durch Umwandlung der sozialen Ausnahmehilfen in ein bedingungsloses Grundrecht auf Existenzsicherung, sprich, die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens, oder auch, allgemeiner gefasst, einer allgemeinen bedingungslosen Grundversorgung. Die Grundversorgung schließt die monetäre Grundsicherung durch ein individuelles Grundeinkommen mit ein, geht aber darüber hinaus in den Bereich allgemeiner sozialer und infrastruktureller Existenzsicherung und –fürsorge. Sie soll jedem Menschen die Möglichkeit geben, ohne Angst vor Existenznöten zu leben und seine Kräfte optimal zu entfalten. Der Gesellschaft soll sie den Weg öffnen, die Fessel der Selbstvermehrung des Kapitals zu sprengen und den Weg für dessen Modernisierung frei zu machen, wobei unter Modernisierung die Entwicklung einer Arbeits- und Lebensorganisation verstanden wird, die optimal an den Bedürfnissen des einzelnen Menschen in einer wachsenden Menschheit orientiert ist.
Soweit, so klar – und kein leeres Gedankenspiel, sondern ein notwendiger und begehbarer Entwicklungsweg, wenn die Richtung politisch gewollt wird. Aber man täusche sich nicht: Zur Verwirklichung dieses Weges muss der Staat von einem „geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals“, der die private Nutzung der Überschüsse garantiert, in einen rechtlichen Garanten eines allgemeinen Grundeinkommens (bzw. einer wie auch immer gearteten allgemeinen Grundversorgung) verwandeln werden, der die Überschüsse der gesellschaftlichen Produktion verteilt. Diese Umwandlung ist nicht ohne seine grundlegende Transformation, insbesondere der Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft zu haben.
Für die Umwandlung stellen sich Fragen: Was geschieht, wenn es nichts zu verteilen gibt? Um etwas zu verteilen, muss ja zuvor etwas produziert worden sein. Was werden die „Überflüssigen“ tun, wenn ein Grundeinkommen eingeführt wird? Wie kommt das „überflüssige“ Kapital an die Empfänger/innen, wie wirklich damit arbeiten? Wie sehen die Schritte aus, die in Richtung der notwendigen Transformation führen? Generell: Wie kommen wir zu Verhältnissen, in denen Fremdversorgung und Eigenversorgung auf einem neuen Niveau wieder miteinander in Beziehung gebracht werden, statt – wie jetzt – in einem zerstörerischen Entweder-Oder auseinander zu driften? Fragen über Fragen, die vor allem anderen erst einmal an den ideologischen Grundfesten rütteln, in denen wir heute sozialisiert sind: Kapital, Lohnarbeit, individuelle Freiheit, Gemeinschaft. Alle diese festen Größen müssen neu durchdacht und auf ihre zukünftig mögliche Bewegung hin überprüft werden.
So wird eine Wirtschaft gebraucht, die nicht als Nebenprodukt, nicht aus Versehen, sondern bewusst mit Blick auf Fremdversorgung produziert, das beinhaltet: konsumorientiert, bedarfsorientiert, grundversorgungsorientiert und die entsprechende Organe einer Bedarfsforschung dafür entwickelt. Sie muss das gesellschaftliche Grundeinkommen arbeitsteilig produzieren und über soziale Organe verteilen. Das sind Kooperativen unterschiedlicher Größe, die Produktion und Konsum miteinander ausgleichen, Lebensgemeinschaften, Netze, Kommissionen, staatliche Verteilerstellen. Um diese zu leisten, müssen unsere bisherigen, z.T. leider auch bitter schlechten, Erfahrungen mit kollektiver Wirtschaft, Gemeinschaftszwang und Volksgemeinschaft aufgearbeitet werden.
Und es wird nicht nur Geld verteilt, es muss zunächst ein sozialer Grundstandard für die Allgemeinheit hergestellt, bzw. auch für die Zukunft garantiert werden. Erst auf dieser Grundlage wird berechenbar, wie hoch ein darüber hinausgehende individuelle Grundabsicherung, bzw. ein individuelles monetäres Grindeinkommen sein kann oder auch sein muss. Darüber hinaus müssen Kooperativen, Gemeinschaften, Netze sich zu eigenproduktiven Puffern entwickeln, die imstande sind soziales Leben zu entfalten und im Notfall Krisen aufzufangen. Auch hierzu sind historische Erfahrungen aufzuarbeiten, nicht zuletzt die soeben zugrunde gehenden Selbstversorgungsstrukturen der sog. Entwicklungsländer, bzw. auch die der russisch-sowjetischen Entwicklung.
Diese Entwicklung beinhaltet die Transformation der traditionellen Selbstversorgung in eine gemeinschaftliche, vernetzte Eigenproduktion mit Querverbindungen zu Handwerk, Industrie und allgemeiner Wirtschaft. Hier wird soziale Verantwortung und „Heimat“ hergestellt, wird Entwicklungsraum für individuelle Initiativen freigesetzt, soziale, kulturelle, geistige Erneuerung geschaffen.
Diese Dreiheit von Wirtschaft, Gemeinschaft und Eigeninitiative nenne ich eine integrierte Gesellschaft, in der die Bereiche der Wirtschaft, der sozialen Organisation und der Kultur als selbstständige Souveränitäten wie drei voneinander getrennte, aber sich überschneidende Kreise aufeinander und miteinander wirken.
Ein neues Menschenbild
Hinter der skizzierten Entwicklungs-Erwartung steht ein Welt- und Menschenbild
das sich von dem gegenwärtigen herrschenden des „homo konsumens“ unterscheidet
und das ebenfalls „befreit“ werden will, soll und kann, soll heißen, das in seinen Keimformen bereits herausgebildet ist, nur erkannt, benannt und gefördert wurden muss.
Es ist die Welt der der Multipolarität, die das Entweder-Oder-Denken hinter sich lässt. Sie lässt sich, stark vereinfacht, in drei Begriffen skizzieren, die sich ebenfalls in vielfältigster Weise überschneiden und ineinander greifen: der mehrdimensionaler Mensch, die multikulturelle Gesellschaft, die mulitipolare Welt-Ordnung.
Der Weg dorthin ist nicht mit einem einzigen und nicht gewaltsam zu schaffen. Erst recht kann eine multipolare Ordnung sich nicht unter der Hegemonie eines einzigen Zentrums entwickeln, wie das nach der aktuellen Finanzkrise einige zu glauben scheinen, die jetzt von einer multipolaren Ordnung unter einem erneuerten „amerikanischen Traum“ sprechen. Erfolg auf dem Weg in eine multipolare, integrierte Gesellschaft kann nur Resultat eines vielgestaltigen Prozesses gleichberechtigter Kräfte sein, der dann und nur dann Wirkung haben wird, wenn seine einzelnen Elemente in eine bewusste Synergie gebracht werden.
Das heißt nicht zuletzt auch den Mut zu haben, die Frage des bedingungslosen Grundeinkommens mit der Frage nach der sozialen Verantwortung und der Frage nach dem Sinn des Lebens zusammenzuführen. Und es heißt, eine andere als die gegenwärtig bestehende imperiale Weltordnung und ihrer Ideologie für möglich zu halten.
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