Moskauer Deutsche Zeitung 22 (245)
Wie bewerten Sie die Forderung Medwedews nach einer aktiven Rolle des Bürgers in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Ernsthafte Pläne oder leeres Gerede?
Meiner Meinung nach ist Medwedew – wie Putin vor ihm – in höchstem Maße daran interessiert, in Russland eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Er will dabei russische Traditionen mit westlichen Standards, zum Beispiel im Management, verbinden. An der Ernsthaftigkeit seiner Absichten ist dabei nicht zu zweifeln.
Glauben Sie, ihm wird der Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft gelingen?
Ein Problem ist, dass in Russlands Geschichte Reformen immer von oben kamen. Das gilt auch für die neuere Entwicklung: Ob nun Perestrojka, Privatisierung oder Restabilisierung unter Putin – das haben immer einige wenige beschlossen und durchgesetzt. Dadurch ergibt sich auch für Medwedew der Widerspruch: Er will einen Mittelstand schaffen, kommunale Strukturen stärken, den Bürger zu mehr Aktivität animieren. Doch das alles funktioniert nur, wenn die Menschen dazu auch in der Lage sind. Deswegen muss erst einmal die Bildung verbessert werden, damit die Menschen überhaupt wissen, wovon die Rede ist. Es braucht einen auf Bildung fußenden, ehrlichen und offenen sozialen Dialog zwischen Regierung und Bürgern, damit die Menschen sich engagieren. Reformen können, müssen sogar von oben ausgehen, aber es müssen auch Impulse von unten kommen.
Stichwort Bürokratie: Was bedeutet Medwedews Kritik am bestehenden administrativen Apparat?
Einerseits hat er natürlich Recht, wenn er die Missstände in der Bürokratie anprangert. Anderseits ist der russische Staat historisch als bürokratische Verwaltungsstruktur angelegt. Sie ist Russlands Innovator, ausführendes Organ für alle Reformen und Triebkraft für Neuerungen. Sie hat sowohl die Perestrojka als auch die Privatisierung durchgeführt. Das ist die russische Art, einen Staat zu machen. Durch ihre enorme Machtstellung kommt es hierbei natürlich zu Wucherung und Korruption. Dass Medwedews zur Durchführung seiner Reformen also zunächst die Bürokratie erneuern will und muss, ist nur konsequent.
Viele sehen Medwedews verbalen Schlag gegen die Administration als Kritik an Putin, während dessen Regierungszeit die jetzigen Strukturen entstanden. Wendet sich der Präsident tatsächlich gegen seinen Vorgänger?
Ich sehe hier keinen Bruch zwischen Medwedew und Putin. Ganz im Gegenteil, die Kampfansage Medwedews gegen Korruption zeugt gerade von Kontinuität. Schon Putin prangerte dieselben Missstände an, und vor ihm Jelzin, und vor diesem Gorbaschtschow. Gerade weil die Bürokratie im russischen Staat eine so große Rolle spielt, muss sie immer wieder erneuert werden. Für Medwedews Pläne ist es hierbei abermals wichtig, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Administration in einen sozialen Dialog mit dem Bürger tritt. Das ist aber nicht gegen Putin (oder alternativ : Putins Erbe – bitte nicht „System Putin“) gerichtet. Medwedew will die Bürokratie ja nicht abschaffen, sondern effektivieren, eben weil sie, wie schon gesagt, ein wichtiger Teil des russischen Staates ist.
Wie passt diese liberale Innenpolitik zu den außenpolitischen Drohgebärden Medwedews, etwa, was die Aufstellung von Raketen in Kaliningrad angeht?
Außenpolitische Drohgebärden? Wenn ich das schon höre! Sobald ein russischer Politiker den Mund aufmacht, schreiben die westlichen Medien , dass er „drohe“! Das Problem ist, dass im Westen ein krankhafter Anti-Putinismus herrscht. Er ignoriert komplett, dass die Russen seit Jahren konstruktive Vorschläge für eine multipolare Neuordnung der Welt machen, die eine klare Alternative zu den jetzt herrschenen Verhältnissen darstellen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen zur Entmilitarisierung, nicht um Kriegstreiberei. Anstatt ein Ping-Pong-Spiel aus gegenseitigen Drohungen zu inszenieren, sollte der Westen sich lieber anhören, was der Inhalt dieser Vorschläge ist.
Glaubt man westlichen Medien, wird Medwedew ohnehin nicht mehr lange genug Präsident sein, um all dies durchzusetzen. Seinen Vorschlag zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten sehen viele als Zeichen der baldigen Rückkehr Putins…
Diese Logik verstehe ich nicht. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Präsident fünf oder sechs Jahre im Amt ist? Wenn die Russen denken, dass ihre Politiker mehr Zeit brauchen, um Reformen durchzusetzen, dann brauchen sie sie eben. Auch was die Wiederkehr Putins angeht, verstehe ich nicht, wo das Problem liegt. Erstens hat er selbst gerade gesagt, dass es derzeit zu früh ist darüber zu reden. Zweitens würde er sich, wenn er wieder als Präsident antreten wollte, wohl kaum an die Macht putschen wollen. Wenn die Wähler ihn aber als nächsten Präsidenten haben wollten, dann, bitte sehr, wäre es eben so.