Unter der Überschrift „Die Krise und ihre Folgen“, war im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2008 Folgendes höchst Interessantes zu lesen:
„Das Epizentrum der Krise liegt in der Wall Street; dort könnte das Ende der finanziellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eingeläutet werden. Amerika ist militärisch geschwächt und geopolitisch ermüdet. Die Welt befindet sich im Übergang vom amerikanischen Hegemon zu einer multipolaren Ordnung. Die Rechnung für die Krise wird nicht an einem Tag, sondern über Jahre beglichen. Es wird eine globale Lastenverteilung geben. Amerikas Gläubiger haften mit. Das kommunistische China hat geschätzt 500 bis 600 Milliarden Dollar in der Krise verloren. Die Devisenreserven der Volksrepublik schrumpfen täglich. Kaum besser ergeht es Russland und den Golfstaaten, die ihre Erlöse aus Öl- und Gasgeschäften künftig nicht nur in Dollar anlegen wollen. Diese und viele andere Länder sind der Wall Street gefolgt und enttäuscht worden. Das bevorstehende Gipfeltreffen der G-7-Staten könnte das letzte seiner Art sein. Es ist an der zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden. Das Beben an den Finanzmärkten führt zu einer tektonischen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse der Welt. Darin liegen Risiken, aber auch Chancen für Europa.“
Wow! Gestern noch Gegenstand der Hetze, des Hohns oder bestenfalls als russische Marotte belächelt, sieht sich das Unwort der „Multipolarität“ unversehens zum Stichwort einer neuen Ordnung erhoben. Und nicht nur das: Mit einem Mal scheint es auch „an der Zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden.“ Was musste geschehen, damit eine seit zwanzig Jahren real stattfindende, aber beharrlich geleugnete Entwicklung der Diversifizierung, der Pluralisierung der Welt, der Entstehung neuer Zentren im globalen Geschehen plötzlich einen Ehrenplatz im Leitkommentar des konservativsten deutschen Blattes findet?
Bricht sich angesichts der Finanzkrise tatsächlich Bahn, was sich im Georgischen Krieg andeutete, aber noch nicht begriffen, sogar wütend bekämpft wurde? Dass nämlich die USA, die NATO, die Europäische Union nicht mehr allein über die Geschicke der Welt entscheiden? Dass es andere, neue Kriterien in den Beziehungen zwischen den Völkern geben könnte als die unilaterale Durchsetzung hegemonialer Interessen einer „einzigen Weltmacht“, wie die USA von ihrem wichtigsten Strategen, Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion getauft wurde? Kooperative, gleichberechtigte, auf friedliches Miteinander der Völker orientierte Beziehungen in einer gemeinsam gepflegten Welt.
Oder ist der Kommentar vielleicht gar nicht so zu verstehen? Ist mit „Einbindung“ vielleicht gar nicht Kooperation, Gleichberechtigung und friedliches Miteinander gemeint, sondern eben genau das, was Banker uns soeben weltweit vorführen – die Sozialisierung der Verluste, nachdem die Gewinne in Schwindel erregenden Höhen und brutalster jahrelang Weise privatisiert wurden? Soll „Einbindung“ diese Methode nun vielleicht nur in die Politik und auf die internationalen Beziehungen übertragen – Sanierung der USA auf Kosten der Welt, indem der „ermüdeten“ Weltmacht in Zukunft geholfen wird, die schwere Bürde der Weltherrschaft zu tragen? Barak Obamas Botschaft ging schon vor der Krise in diese Richtung.
Die Kritik, die Sbigniew Brzezinski in seinem neuesten Buch „Second Chance“ an Bush I, Clinton und Bush II (wie er sie aufzählt) vorbringt, endet mit dem Aufruf, die „Hybris“ der unilateralen Alleinherrschaft über die Welt hinter sich zu lassen und sich für Bündnispartner zu öffnen – jedoch ohne dabei den Anspruch auf Hegemonie zu hinterfragen, im Gegenteil, um ihn zu erneuern. Im selben Geiste führen Banker, Wirtschaftsbosse und herrschende Politik jetzt reihenweise vor, dass nicht etwa das „System“ die Ursache des Finanzcrashes sei, sondern Gier, Dummheit und Verantwortungslosigkeit einzelner Personen. Einzeltäter.
Mehr noch und wahrlich schon grotesk in seinen konkreten Formen der Darstellung: Um nur „das System“ nicht in Frage stellen zu müssen, verwandeln sich Ideologen und Praktiker des seit dem Ende der Sowjetunion propagierten und praktizierten Neo-Privatismus reihenweise in Fürsprecher eines neuen Etatismus: der Staat soll es richten. Aber wer, bitte sehr, ist heute „der Staat“? Der Staat ist heute mehr denn je nichts weiter als der „geschäftsführende Ausschuss“ des Kapitals. Das war er im „realen Sozialismus“, das ist er allen „Deregulierungen“ und selbst Mafianisierungen zum Trotz auch in der nach-sozialistischen Globalisierung und wird es bleiben – wenn nicht Wirtschaft und Gesellschaft endlich personell und institutionell getrennt werden.
Die Lösung liegt nicht darin, vom Neo-Liberalismus zum Staatsdirigismus zurückzupendeln, um wie Hamster im Käfig dann wieder zum Liberalismus zurückzukehren und so never ending wie eine Ratte immer wieder dasselbe Rad von Liberalismus zum Dirigismus zu durchlaufen. Die Aufgabe – und auch die Chance – besteht vielmehr darin einen Weg zu finden, der die zur Zeit bestehende Totalität eines mit der Wirtschaft undefinierbar verflochtenen sich selbst irgendwie regulierenden Staates, also einer Totalität, der die Gesellschaft in sich aufsaugt, differenziert, in eine Entflechtung von Wirtschaft, Staat und geistiger Lenkung überführt. Wirtschaft, Staat und Kultur im Sinne geistiger Orientierung müssen als drei voneinander unabhängige, gleichwertige Teile der Wirklichkeit miteinander kooperieren.
Nur so werden wir aus der bloßen Wiederholung des ewig gleichen Kreislaufes herauskommen. Das Gleiche Prinzip gilt auch für die globale Ordnung, bei der es auch nicht nur darum gehen kann, die bestehende Hegemonie eines Superimperiums USA, einer mit den USA verbundenen EU durch „Einbindungen“ Russlands, Chinas oder anderer zu stützen, was zweifellos auch geschehen muss, um schlimmste Abstürze zu verhüten. Es geht vielmehr darum eine kooperative Wechselwirkung voneinander unabhängiger, gleichberechtigter Integrationsräume und Kulturen herzustellen, die sich in gegenseitiger Hilfe verbinden, genauer, die schon vorhandenen Ansätze und Möglichkeiten dazu zuzulassen und zu fördern.
Es sei vielleicht noch ein Letztes angemerkt, um diese kleine Betrachtung, die nur eine Anregung sein kann, abzurunden: Der multipolaren Weltordnung und der skizzierten multisektoralen Organisation von Staat Wirtschaft und Kultur entspricht die Entwicklung eines multidimensionalen Menschen. Das sind Menschen, die sich nicht mehr allein durch Geburt, Blutsbande, Nation, vorgegebene Religionen oder Leitkulturen oder auch durch ihren Lohnberuf, sondern durch die freie Wahl ihrer Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen wie zu der von ihnen gewünschten Tätigkeit definieren.
Dies alles wäre der Umkreis des Wortes „Multipolar“, wenn man es nicht zur Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, sondern zu deren Transformation heranzieht. Die gegenwärtige Krise und ihre Folgen geben die Chance dazu.
Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de
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