Glaubt man der Presse, dann hat sich bei dem deutsch-russischen Gipfeltreffen in Samara ein „Neuer Realismus“ hergestellt. Andere Meldungen sprechen von „schwerer Krise“ zwischen EU und Russland. Kritisiert wird ein „imperiales“, „arrogantes“ Auftreten Wladimir Putins, der die EU zu spalten versuche und die Menschenrechte verletze. Die Eu-Politik müsse sich darauf einstellen. Andererseits verstehe man ihn, so wird die deutsche Delegation zitiert, weil er „neues Selbstbewusstsein“ demonstriere und sich im Übrigen angesichts der der bevorstehenden Wahlen auf die innere Entwicklung des Landes konzentrieren müsse, um ein Rückfall in das Chaos der Jelzinschen Zeit zu verhindern.
Soviel Kritik bei gleichzeitigem Verständnis gab es lange nicht in der Russland-Berichterstattung. Was geschah also in Samara? Ging es wirklich darum, Putin eine Lehrstunde im Demonstrationsrecht zu geben? Wohl kaum, denn es scheint, dass Putin die Lektionen, was Demokratie für westliche Staaten bedeutet, bereits bestens gelernt hat: Davon zeugt jedenfalls seine Antwort, präventive Maßnahmen gegen potentielle Demonstranten seien doch allgemein üblich und würden ja auch in Deutschland aktuell im Vorfeld des G8-Treffens in Heiligendamm praktiziert. Also, man hat sich gegenseitig nichts vorzuwerfen. Frau Merkels „Kritik“ erweist sich als schlichte PR-Maßnahme, die für sie allerdings eher zu einem Bumerang werden könnte.
Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wovon die Kritik ablenken sollte. Und da kommt man schnell an den Kern, denn schon im Vorfeld hatte Frau Merkel den russischen Gastgebern gegenüber ausdrücklich klarstellen lassen, dass sie nicht als Vertreterin eines Landes, sondern als Vertreterin der gesamten EU nach Samara komme. Aus Brüssel verlautete ebenfalls im Vorfeld, man habe keine großen Erwartungen an das Treffen, dennoch sei es wichtig, mit den Russen zu sprechen: „Die Botschaft der Europäer muss sein, dass sie sich von Moskau nicht auseinander dividieren lassen,“ forderte der für 2009 designierte Ratspräsident der EU, Sloweniens Ministerpräsident Jansa, EU-Kommissionspräsident José Barrorso erklärte nach dem Treffen, Putin habe „gemerkt, dass die europäische Einheit nicht zu knacken“ sei.
Wo so deutlich die Einheit beschworen wird, tut man gut, nach der Realität der Differenzen Ausschau zu halten.
Tatsächlich kann von Einheit in der Russlandpolitik der EU nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Seit mehr als einem Jahr blockiert Polen die Aufnahme von Gesprächen zwischen der EU und Russland zur Verlängerung des zwischen ihnen bestehenden Kooperations- und Partnerschaftsabkommens, mit einem Veto, solange Russland das Einfuhrverbot polnischer Fleischlieferungen nicht aufhebe. Der Vertrag läuft Ende 2007 ab. Russland begründet das Verbot mit mangelnder Qualität des Fleisches. Wladimir Putin betrachtet die Frage als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und Polen, die die generellen Beziehungen zwischen Russland und EU nicht berühre. Frau Merkel, unterstützt durch Borroso erklärte, die polnischen Lieferungen entsprächen den EU-Standards und diese lägen auf höchstem Niveau.
Eine Einigung war bisher nicht möglich. Die polnische Blockade führte jetzt dazu, dass Putin und Merkel sich nur darauf verständigen konnten, den laufenden Vertrag um ein Jahr zu verlängern. Statt den Vertrag zu erneuern, wurden eine Reihe von Einzelmaßnahmen beschlossen wie Erleichterung der Visaregelung, Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Investitionen und ähnliches.
Aber geht es wirklich nur um polnisches Fleisch? Nein, die Fleischfrage ist nur ein Detail. Hinter dem mit der Fleisch-Frage begründeten Veto steht zunächst auch noch die weitergehende Forderung Polens, Russland müsse die internationale Energiecharta unterzeichnen. Das würde bedeuten, das russische Energie-Monopol zugunsten polnischer Beteiligungen zu lockern oder ganz aufzulösen. Polen ging so weit in dieser Frage Sanktionen gegen Russland zu fordern. Dem polnischen Veto könnte sehr bald ein weiteres folgen, das die litauische Regierung für den Fall angekündigt hat, dass die Öllieferungen nicht sofort wieder aufgenommen würden, die Russland Ende 2005 mit der Begründung, die Leitungen sei beschädigt, gestoppt hatte. Litauen bringt diese Maßnahme Russlands damit in Verbindung, dass der Verkauf einer litauischen Raffinerie an das polnische Unternehmen PKN Orlen statt an eine russische Firma erfolgte und spricht von einer russischen Strafmaßnahme.
Polen und Litauer fühlen sich durch die EU in dieser Frage nicht genügend unterstützt. Sie sehen sich durch den Vertrag zwischen Deutschland und Russland zum Bau der Ostseepipeline, welche die baltischen Länder und Polen ausdrücklich umgeht, wie auch durch das Angebot Russlands, die Gas-Vorkommen der Stockmannfelder direkt nach Deutschland als Verteiler zu leiten, vielmehr ausgegrenzt und bedroht. Umso dankbarer wurden die Erklärungen der USA, insbesondere des US-Vizepräsidenten Dick Cheney aufgegriffen, der Russland 2005 vorwarf, Öl und Gas zur Erpressung und Einschüchterung seiner Nachbarstaaten einzusetzen und Rückendeckung aus Washington versprach.
Gegenstand der Auseinandersetzung waren in Samara auch die Konflikte um die Entfernung eines noch aus sowjetischer Zeit stammenden antifaschistischen Kriegerdenkmals in Tallin durch die estnische Regierung; ein Toter ist in diesem Zusammenhang zu beklagen. Gegenstand war des Weiteren natürlich der US-Vorstoß, in Polen und der tschechischen Republik Raketen aufstellen zu wollen. Auch in diesen Fragen stehen alte und neue EU-Länder auf gegensätzlichen Positionen. Das gilt auch, wenn Kommissionspräsident Barroso zu glätten versucht, idem er erklärt, die EU würdige die Leistungen und Opfer Russlands im Kampf gegen den Faschismus, aber jedes EU-Land sei selbstverständlich souverän in seinen Entscheidungen. Für Russland ist dieses Sowohl-als-Auch nicht akzeptabel. Ähnliches gilt für die Raketenpläne der USA, die Russland nach wie vor als überflüssige Aggression begreift, erst recht, wenn Polens Regierung damit droht, sich gegen mögliche Aufrüstungs-Reaktionen der Russen mit der Aufstellung eigener Raketen schützen zu wollen.
Die Summe dieser Widersprüche führte wenige Tage vor dem Russland-EU-Gipfel in Samara zu einem heftigen Streit innerhalb der EU über deren zukünftige Russlandpolitik, als die Botschafter der EU-Staaten sich in Brüssel trafen, um das Treffen in Samara vorzubereiten. Die drei baltischen Staaten sprachen sich in drastischer Weise für eine „Denkpause“ im Ringen um die Erneuerung des Abkommens aus, indem Polen sein Veto bekräftigte, Litauen eines ankündigte und Estland erklärte, ebenfalls über ein Veto nachdenken zu wollen.
Schwere Konflikte deuten sich an, die noch weit über die aktuellen Anlässe hinausgehen: Die alten EU-Mitglieder suchen den Dialog mit Russland unter dem Stichwort „Wandel durch Verflechtung“. Polen, Litauen und Estland sehen sich, durch gute Beziehungen zwischen Russland und den alten EU-Staaten, insbesondere Deutschland bedroht. So warf die polnische Außenministerin Fotyga der deutschen Rats-Präsidentschaft vor, die speziellen Sorgen von Polen und Balten nicht angemessen zu berücksichtigen. Die verlangen deshalb, die bisherige Linie der EU-Russland-Politik zu verlassen.
Die Konflikte konkretisieren sich zudem noch auf die Auseinandersetzung um den durch die „Berliner Erklärung“ angekündigten Grundlagenvertrag, der bis zu den Europawahlen 2009 durchgebracht sein soll. Die polnische Regierung lehnt die in dem Entwurf vorgesehene Beschlussregel ab, die das Gewicht der neuen EU-Länder im Verhältnis zu den alten stark mindern könnte. Die Mehrheit der der EU-Mitgliedsländer lehnt erneute Debatten um diese Frage ab.
Kurz gesagt, der Sloweniens Ministerpräsident Jansa, hat allen Grund, die Einheit der EU zu beschwören, denn alle Zeichen stehen auf Sturm. Objektiv bilden die Neu-Mitglieder der EU, ebenso wie die der EU vorgelagerten Nicht-Mitglieder Weißrussland, die Ukraine und Moldawien, sowie die kaukasischen Staaten, einen sich von der Ostsee bis zum schwarzen Meer hinziehenden cordon sanitaire zwischen den Integrationsräumen Russlands und der Europäischen Union, der im Tauziehen zwischen USA, EU und Russland hin und her gerissen zu werden droht. Einer stabilen Ordnung in diesem Teil der Welt wäre es vermutlich dienlicher, wenn dieser Kordon sich in einen Streifen der Neutralität verwandelte.
Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de
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