Beeindruckend, was da in Berlin am Wochenende von den siebenundzwanzig Mitgliedern der Europäischen Union unterschrieben wurde: „Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“
Wunderbar! Was für ein großes Wir! Das weckt Erinnerungen und soll es wohl auch. Die Formulierungen erinnern an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die ja auch eine europäische Wiedervereinigung wurde. „Wir sind das Volk“ hieß es damals, als die Menschen für die Öffnung der DDR demonstrierten. Es war der Wille des DDR-Volkes, der sich in einer gewaltlosen Revolution von unten so artikulierte. Und es entsprach mit Sicherheit auch dem Willen der Mehrheit der Menschen Europas, insbesondere auch der östlichen Länder Europas, dass mit der deutschen auch die europäische Teilung fiel. Aber wer sind „Wir“ heute?
Sind damit die Franzosen gemeint, die vor zwei Jahren den Verfassungsvertrag per Referendum ablehnten? Oder die Niederländer, die das Gleiche taten? Oder ist die polnische Regierung gemeint, die Bedenken gegen den Verfassungsvertrag vorgebracht hatte? Und was ist mit uns „Bürgern und Bürgerinnen“? Wurden wir gefragt? Ich wurde jedenfalls nicht gefragt, ob ich dieser Erklärung zustimmen möchte; ebenso wenig der von mir gewählte Abgeordnete im deutschen Parlament. Das Gleiche gilt für andere nationale Parlamente im Rahmen der EU. Auch das Europäische Parlament in Brüssel hat den Text vor seiner Unterzeichnung nicht zu Gesicht bekommen. Nicht einmal die nationalen Regierungen der siebenundzwanzig Mitgliedsländer waren in die Erarbeitung der Erklärung einbezogen. Anerkennend schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dazu: „Dass es bei allen Bekenntnissen zu Transparenz und Bürgernähe gelingt ,Diskretion zu wahren, zeigt die Tatsache, dass der gesamte Wortlaut der Berliner Erklärung – in ihrem letzten Entwurf – erst am Freitag bekannt geworden ist.“
In der Tat, „Diskretion“ ist das am klarsten hervorstechende Merkmal im Entstehungsprozess der „Berliner Erklärung“. Die Diskretion steht im umgekehrten Verhältnis zur dem beschworenen Wir. Der Wille des EU-Volkes ist in diese Erklärung nicht eingegangen. Mehr noch, die Beschwörung des großen Wir erscheint wie das Pfeifen im Walde, wenn man bedenkt, wie uneins die Reaktionen aus der EU auf den Vorstoß der US-Amerikaner sind, in Osteuropa und dem Kaukasus Raketen aufstellen zu wollen. Von Einigkeit auch auf Führungsebene keine Spur! Die Ratspräsidenten der EU und deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnt vor „Alleingängen“ und will die Amerikaner auf eine Debatte in der NATO verpflichten. Die polnische und die tschechische Republik folgen dagegen mit ihrer Zustimmung zu den US-Plänen ihren eigenen nationalen Interessen, ganz zu schweigen von der seitens der EU auf Abstand gehaltenen Ukraine, die eine Chance sieht, sich wenigstens für die USA unentbehrlich zu machen. Hinzuzufügen ist, dass die Zustimmung zu den US-Plänen von den Bevölkerungen der genannten Länder nicht geteilt wird. Selbst die deutsche Regierung, obwohl zur Zeit mit der Ratspräsidentschaft der EU betraut, zeigt sich uneins: Der deutsche Außenminister, SPD, warnt vor Wettrüsten und Alleingängen; der deutsche Verteidigungsminister, CDU, möchte die EU in die US-Planung einordnen. Kurz, von einheitlicher Strategie kann so wenig die Rede sein wie von der in der „Berliner Erklärung“ beschworenen „Offenheit“. Die Erklärung ist vielmehr der offensichtliche Versuch, die Strategie- und Legitimationskrise der EU-Bürokratie mit populistischen Floskeln zu überspielen. Anders gesagt: An einer Befragung der Einwohnerinnen und Einwohner der europäischen Staaten zu der am Schluss der „Berliner Erklärung“ in Aussicht gestellten Erarbeitung „gemeinsame(r) Grundlagen“, die ja auf nichts anderes als einen erneuten Anlauf zu einer EU-Verfassung hinausläuft, wird wohl kein Weg vorbei führen können.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.
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