Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €
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