Putins Russland ist wieder in der Schlagzeilen. Die Ermordung Anna Politkowskajas brachte neben berechtigter Empörung und notwendiger Kritik schrille anti-russische Töne hervor. Mit Anna Politkowskaja sei „das andere, das moralische Russland endgültig gestorben“ schrieb Helge Donath beispielsweise in der taz. Statt Vertrauen in russische Stabilität herrsche zunehmend Angst der Wirtschaft vor einem Russland, das den Energiehahn zudrehe, wenn es kritsiert werde. Die „Frankfurter Rundschau“ erschien mit einem Bild, das den russischen Präsidenten in einer höchst unvorteilhaften Pose mit vorgeschobenem Kinn, bulligem Gesichtsausdruck und halbgeschlossener Faust zeigt. Schaut her, der Aggressor’, ist die Botschaft dieses Fotos. Bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden wurde Putin mit „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen. Ebenso in München. Was spielt sich ab, woher dieser neuerliche Schub an Russophobie?
Eine Erklärung findet man möglicherweise in der Art, wie Wladimir Putin bei seinem jetzigen Deutschlandbesuch in Dresden und München die „Furcht der Deutschen vor seinem Land …,dass im Westen immer häufiger als starker Investor auftritt,“ ( „Süddeutschen Zeitung“, 11.10) zu zerstreuen versuchte und in den Vorschlägen, die er dazu in Dresden machte: Er bot der Bundeskanzlerin Merkel – nach pflichtschuldigem Austausch offener Kritiken in der „Menschenrechtsfrage“, in dessen Verlauf beide den Mord an Frau Politkowskaja verurteilten – eine engere Zusammenarbeit in Energiefragen an. Er stellte Deutschland in Aussicht, als „Hauptkonsument“ und größter Verbraucher russischen Gases „zu einem großen europäischen Verteilerzentrum des russischen Gases“ zu werden – vorausgesetzt, die geplante Ostseepipeline werde zügig verwirklicht.
In dem Falle plane Russland auch das sog. Stockmann-Feld in der Barentsee zu erschließen und dessen Vorkommen anders als in der bisherigen Planung vorgesehen, nicht in die USA zu schaffen, sondern nach Europa, das heißt über Deutschland umzuleiten. Vorstellbar seien in diesem Falle, so Putin, zusätzliche Erdgaslieferungen nach Deutschland von jährlich 50 bis 55 Milliarden Kubikmeter Gas. Das werde das „energetische Gesicht Deutschlands“ verändern wie auch seine Position in europäischen Energieangelegenheiten in Europa stärken.
Frau Merkel, soeben gebeutelt durch den deutschen Energiedialog, zeigte sich erfreut. „Ich gehe für die deutsche Seite ganz fest davon aus, das dieses Projekt verwirklicht wird“, erklärte sie und ergänzte, nicht ohne Grund, das Projekt sei gegen niemanden gerichtet. Grund hat sie, denn es gab und gibt reichlich Unruhe über die neue Rolle Deutschlands in Europa, die sich hiermit abzeichnet und die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Auch England, das von einem eigenen Zugang zum russischen Gas träumte, sah sich düpiert.
Die Ostseepipeline, daran sei erinnert, wurde im Dezember 2005 offiziell in Angriff genommen. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ ist Gerhard Schröder, Generaldirektor Matthias Warnig von der Dresdner Bank. Die Pipeline soll über 1200 km vom russischen Wyborg bis zum deutschen Greifswald verlegt werden. Von Greifswald aus kann das Gas nach Süden und nach Westen quer durch Europa und bis nach Großbritannien transportiert werden. Zunächst ist der Ausbau eines Stranges geplant. Er soll ab 2010 rund 27,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas transportieren. Ein zweiter Strang mit gleicher Kapazität soll später folgen. Der Bau soll 2008 beginnen.
Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet, fürchten auch unabsehbare ökologischen Folgen. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten. So wie jetzt Merkel, hatte seinerzeit Schröder auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“
Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten um das russische Gas wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.
Ein weiterer Aspekt dieses Vorgangs kann erhebliche Auswirkungen haben: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres 2005 sollte ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50. Inzwischen treten Russen immer massiver als potente Investoren an den unerwartetsten Stellen Europas auf wie beispielsweise Gazprom als Sponsor von „Schalke 04“.
Bei all dem wird nun allmählich der unter Wasser liegende Teil des Eisberges erkennbar, von dem offiziell nicht die Rede ist, der aber in den letzten Jahren, speziell seit dem Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine im letzten Jahr, eine immer größere Rolle spielt: Die Europäer beargwöhnen die Russen, sich zu einer auf ihre Energie-Ressourcen gestützten neuen Hegemonialmacht aufbauen zu wollen und sind bereit, das mit allen Mitteln der politischen Intervention zu verhindern; gleichzeitig versuchen sie Russland mit langfristigen Verträgen so an sich zu binden, daß die eigene europäische Abhängigkeit von russischem Gas durch die Abhängigkeit Russlands von seinen Lieferungen an Europa in der Waage gehalten wird. Aus dieser Doppelstrategie heraus bewegt sich Deutschland zwischen den Polen einer besonderen deutsch-russischen Energiepartnerschaft und dem US-amerikanischen Bemühen, Russland als Energie-Diktatur, gar potentiellen Energie-Faschismus international zu isolieren und von seinen früheren Energie-Monopolen zu trennen. Dabei ist die Angst, Russland könnte sich durch Verbindungen nach China, Japan, Indien und anderen Teilen Asiens von Europa unabhängig halten, ein stärker werdendes Motiv.
Deutlichster Ausdruck dieser doppelten Realität war der G8-Gipfel, der im Mai in St. Petersburg erstmals unter russischer Präsidentschaft stattfand. Russland hatte im Vorfeld angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland hatten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vorgebracht und ihrerseits angekündigt, Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als Energie-summit, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis allerdings verabschiedete der Gipfel einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben scheinen: Einerseits werden „offene und transparente Märkte“, werden „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“ vereinbart, andererseits verpflichten sich die G 8 zu den Zielen der „Energieeinsparuung, der Energieeffizien, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“
Zur Krönung heißt es dann auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Angesichts solcher Verlautbarungen könnte man schon fast in ein dankbares utopisches Schwärmen verfallen, wenn man nicht wüsste, dass zugleich alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, um Russland im Süden von seinen früheren Monopolen zu trennen, Iran von Russland und Russland von China. Hier ist wohl richtig, daran zu erinnern, dass die ermordete Anna Politkowskaja auch den Krieg in Tschetschenien als Kampf ums Öl charakterisierte. Die Janusköpfigkeit dieser Politik spiegelt sich in einer krassen Gesichtslosigkeit der herrschenden deutschen Ost-Politik wieder, die Russland kritiklos umwirbt und zugleich mit politischen Interventionismus zu „Menschenrechtsfragen“ traktiert. Die grellen Töne, mit denen auf den Mord an Anna Politkowskaja reagiert wird, sind, soweit sie über die Mordtat hinausgehen, ein Reflex dieser doppelbödigen Politik.
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