Russland-Politik der EU: Vorne lächeln, hinten zündeln.

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes wurde allenthalben Frieden und Partnerschaft beschworen. US-Präsident Bush, ebenso wie Gerhard Schröder eilten zur Siegesfreier nach Moskau. Die Siegesparade auf dem roten Platz stand demonstrativ unter dem Zeichen der Versöhnung. Der russische Präsident Putin durfte vom Roten Platz aus unwidersprochen der Opfer gedenken, die die sowjetische Bevölkerung für die Befreiung Europas vom Faschismus brachte und die Verdienste hervorheben, welche die Sowjetunion an der Niederschlagung des Faschismus hatte. Es war eine erhebende Feier, die nur den kleinen Schönheitsfehler hatte, dass die Moskau Bevölkerung dafür die Innenstadt räumen musste.

Auf dem anschließenden EU-Russland-Gipfel in Moskau setzte sich diese Linie fort: langfristige Zusammenarbeit, sogar gemeinsame Konfliktlösungen im Kaukasus wurden verkündet. Deutsche Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konstatierten die „einfache Erkenntnis“, dass man einander brauche. Besonders deutlich zeige sich die gegenseitige Abhängigkeit in der Energiefrage: Russland besitze große Energiereserven an Öl und Gas, ohne die die Energieversorgung der EU langfristig nicht gesichert werden könne. Andererseits sei Russlands Aufschwung in den letzten Jahren fast ausschließlich von dem Rohstoffexport nach Europa getragen worden. In den Wochen zuvor hatte Russlands Präsident schon erklärt, er wolle die Zusammenarbeit Russlands mit der NATO verstärken, sogar die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, also den Zusammenschluss von zentralasiatischen GUS-Staaten und Russland in Verbindung mit dem NATO-Rusland-Rat bringen.

Bei so viel Einigkeit könnte man die kleinen Unstimmigkeiten, die diese Demonstrationen des guten Willens begleiteten, fast übersehen, wenn – ja, wenn sie nicht so penetrant hervorstechen würden wie der Besuch George W. Bushs in Lettland, wo er einen Tag vor seiner Teilnahme an der Moskauer Siegesfeier betonte, dass Amerika niemals die „Besetzung und kommunistische Unterdrückung“ der Balten vergessen werde. Er hob Litauen, Estland und Lettland als Symbole dafür hervor, dass die Liebe zur Freiheit stärker sei als der Wille eines Imperiums und ließ es sich schließlich nicht nehmen zu prophezeien, dass auch Russland von der Verbreitung demokratischer Werte profitieren werde.

Provokativer konnte die Antwort auf Putins wenige Tage zuvor bei seiner Rede an die Nation getroffene Feststellung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei, nicht ausfallen.

Nicht weniger penetrant war der Auftritt der frisch gekürten US-Außenministerin Condoleeza Rice, die im Vorfeld des Bush-Besuches in Vilnius die Weißrussische Bevölkerung dazu aufrief, bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr gegen Lukaschenko aufzubegehren. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Azerbeidschan, Georgien und der Ukraine ist das ein unverhüllter Aufruf zum Umsturz in Weißrussland selbst und zur Fortsetzung der gegen Moskaus Einfluss gerichteten sog. demokratischen Revolutionen vor den Grenzen Russlands.

Das bemerkenswerteste Ereignis in dieser Reihe allerdings war ein Gipfel-Treffen der sog. GUAM-Staaten im moldauischen Chisinau nur wenige Tage vor den großen Einigkeitsfeiern. Auf diesem Treffen beschlossen die Anwesenden, dieses bisher eher unbedeutende Spaltprodukt der G.U.S. zu einem Instrument aufzuwerten, das in Zukunft die Interessen seiner Mitglieder gegenüber Moskau stärker zur Geltung bringen solle. Bei ihrer Gründung 1996/7 gehörten der GUAM die Staaten Georgien, Ukraine, Azerbeidschan und Moldawien an, 1999 kann nominell noch Usbekistan dazu. Seinen Namen erhielt das Bündnis von den Anfangsbuchstaben dieser Staaten. Die GUAM beschränkte sich faktisch auf die Bildung eines Transportkorridors für Azerbeidschanisches Öl und auf die Beteiligung am Geschäft mit diesem Öl. Jetzt wurde die Zurückkämpfung des „von Russland unterstützten Separatismus“ zum gemeinsamen Ziel erklärt.

Von Seiten Juschtschenkos, des neuen ukrainischen Präsidenten, besteht seit seiner Wahl sogar das Angebot, die russischen Friedenstruppen in den georgischen Krisengebieten Abchasien und Südossetien durch ukrainische zu ersetzen. Offensichtlich strebt die Ukraine eine Ordnungsfunktion in dem Gebiet an, mit der sie Russland ersetzen will. Die Abchasen und Süd-Osseten, die Russland als Schutzmacht für ihre Autonomie begreifen, protestierten umgehend.

Zur Stabilisierung des Kaukasus trägt ein solches Angebot der Ukraine mit Sicherheit nicht bei; im Gegenteil, es ermutigt Versuche der georgischen Regierung, die Konflikte um die autonomen Gebiete Süd-Ossetien und Abchasien aggressiv anzugehen. Beredt ist in diesem Zusammenhang eine der Öffentlichkeit weitgehend verborgen gebliebene Initiative des Europarates in Strassburg, der sich Anfang Februar dieses Jahres veranlasst sah, die Machtfülle des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zu kritisieren. Der Rat bemängelte die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, prangerte die nicht funktionierende Gewaltenteilung an und wies auf eine praktisch nicht vorhandene Opposition hin. Das Straßburger Abgeordnetenhaus forderte von Tiflis die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer in den Regionen, gemeint sind vor allem Südossetien und Abchasien, und ermahnte die georgische Regierung, bei der Lösung der Konflikte nicht auf Gewalt, sondern auf friedliche Lösungen zu setzen. Aus diesem Grunde wurde das „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien erst einmal bis zum Herbst 2005 verlängert – wobei hier nicht untersucht werden soll, auf welcher Basis und mit welchem Recht der Straßburger Europarat ein „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien unterhält. Es ist aber sicher eine gesonderte Untersuchung wert.

Man könnte diese Vorstöße der Ukraine, Georgiens wie auch die Wiederbelebung der GUAM insgesamt getrost als Ereignisse am Rande vorbei ziehen lassen, wenn nicht auf dem GUAM-Gipfel erstmalig auch interessante ausländische Gäste vertreten gewesen und darüber hinaus direkte Signale in Richtung Weißrusslands ausgesandt worden wären. Besonders erwähnenswert sind unter den Anwesenden über den rumänischen Staatspräsidenten Basesku hinaus vor allem der litauische Staatspräsident Adamkus, der OSZE-Generaldirektor Kubis und – last not least – eine namentlich nicht genannte Regierungsdelegation aus Washington. Aus Chisinau kam zudem der Vorschlag, das Bündnis umzubenennen und offen zu halten für weitere Mitglieder. Von dem georgischen Präsidenten Saakaschwili wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: „Wir haben unsere Feinde in Georgien, der Ukraine und Kirgistan besiegt. Und wir haben doch ein Land auf unserer Liste.“ Es bedarf keiner weiteren Interpretation, dass mit diesem Hinweis Weißrussland gemeint ist und wie man sich die möglichen Interventionen vorzustellen hat.

Man habe sich bemüht, hieß es aus Chisinau, nicht anti-russisch zu erscheinen. Nichts desto weniger wird das neue Selbstverständnis der GUAM mit den unmissverständlichen Worten beschrieben, es bilde sich ein Gegenlager zu der auf einem Status-quo- mit Russland dahindümpelnden G.U.S. unter der Führung Georgiens, der Ukraine und Moldawiens heraus. Die neue GUAM werde, so der georgische Präsident Saakaschwili, „zu einer Organisation demokratischer Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetuinion.“

Mit diesem Gipfel, durchgeführt unter Beteiligung von US-Offiziellen, schließt sich der Kreis zum baltischen Auftritt von Condoleeza Rice und US-Präsident George W. Bush: Entgegen allem anderen Anschein ist US-Politik nach wie vor auf die Einkreisung und Eindämmung Russlands gerichtet, wie es in der Reihe der blumigen und farbigen „Revolutionen“ von Aszerbeidschan über Georgien, die Ukraine bis hin zu dem etwas verunglückten Einsatz „westlicher Beobachter“ in Kirgisien angelegt ist. Mit der Rede, die er gleich nach den Feierlichkeiten des 9. Mai in Tiflis hielt, bekräftigte George W. Bush diesen Willen der USA ein weiteres Mal. Die nächsten Züge in diesem Spiel, gedeckt durch die Unterstützung aus den GUAM-Staaten. sind auf Moldawien, Weißrussland und Kaliningrad gerichtet, Die Strategie dieses Spieles, von Vordenkern wie Brzezinksi ausformuliert, in der Russland nach wie vor als Gegner verstanden wird, der klein gehalten werden müsse, soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden. Sie sind inzwischen hinreichend bekannt. Zu bemerken ist nur, dass die Bush-Regierung sich mit Condoleeza Rice ein neues Gesicht für die nächste Spielrunde zugelegt hat, lächelnd, auf Unterlaufen der Kritik an der US-Politik angelegt, im Kern jedoch nicht weniger aggressiv. Es bleibt abzuwarten, ob irgendjemand sich davon täuschen lässt.

Aber wie erklärt sich die Beteiligung des OSZE-Generaldirektors Kubis an diesem Treffen? Wie verträgt sich seine Teilnahme an dem Unternehmen in Chisinau mit dem erklärten und soeben noch einmal bekräftigten Willen der EU zur strategischen Partnerschaft mit Russland? Könnte es sein, dass die EU über keine einheitliche Strategie gegenüber Russland, bzw. gegenüber den Staaten des ehemaligen sowjetischen Raumes verfügt?

Aus aktuellen Verlautbarungen der EU ist dazu keine Aufklärung zu gewinnen. Das zwingt den Blick auf Grundsatzstudien zur EU-Strategie: Dem sog. „Greenpaper zur Versorgungssicherheit der EU“ von 2002 ist zu entnehmen, dass die EU ein Groß-Europa unter strategischem Einschluss von Russland anstrebt. Einzelne Stimmen im EU-Konzert wie der tschechische Präsident Vaclaf Klaus beziehen sogar Kasachstan mit ein. Diese Strategie, wenn sie denn verwirklicht werden soll, beinhaltet eine Opposition gegenüber den US-Bestrebungen, russisches Öl und russisches Gas aus dem sibirisch-zentral-asiatischen und kaukasischen Raum aus Russland abzuziehen, genauer, Russlands Verfügungsgewalt zu entziehen und sich auf dem Weg über die Türkei direkt zuzuführen.

Die von Gerhard Schröder und Wladimir Putin gerade jetzt so demonstrativ vorgetragene deutsch-russische Freundschaft, ebenso wie der soeben in Moskau durchgeführte EU-Russland-Gipfel liegen auf dieser Linie „gemeinsamer Interessen“. Sie beinhalten eine Stabilisierung Russlands als integrierender Faktor des euroasiatischen Raumes und unersetzbarer Energie-Lieferant, ja, mehr noch, als Retter Europas aus absehbarer zukünftiger Energieknappheit. Das europäische Öl-Gas-Konsortium INOGATE (die Abkürzung steht für: Interstate Oil and Gas Transport to Europa) gibt in ihren im März 2004 vorgelegten umfangreichen strategischen Studien dieser Orientierung der EU-Aussenpolitik den Vorzug vor einer anderen, die in derselben Studie die „imperiale Variante“ genannt wird, erklärt aber zugleich, dass sie sich unter dem Druck sehe, dieser von den USA ausgehenden „imperialen Variante“ folgen zu müssen, sofern die USA durch ihre militärische Interventionspolitik globale Prioritäten setzten.
Einen weiteren Hinweis auf die europäische Strategie gegenüber Russland, dem Kaukasus und Zentralasien liefern die technischen Entwicklungsprogramme der Europäischen Union, die unter dem Kürzel TACIS (Technical Assistance for the Commonwealth on Independent States) laufen. Besonders zu erwähnen ist hier das TRACECA-Programm (Transport Corridor Europe Caucasus Central Asia) dessen Hauptzweck darin besteht, einen Transport-Korridor für Ressourcen aller Art, vor allem aber für Öl und Gas von Europa nach Asien zu entwickeln, der die bisherigen auf Moskau zentrierten Transportwege Euroasiens durch Querverbindungen zwischen Osten und Westen unter dem sog. Bauch Russlands hindurch unterläuft. Neue Pipelines, Neue Bahnlinien, neue Ost-West-Trassen, neue Häfen am kaspischen und schwarzen Meer sollen die eingefahrenen Transportwege, die bisher über Moskau nach Europa führten, ersetzen. Mitglieder dieses TRACECA-Programms sind alle zentralasiatischen und kaukasischen Staaten, einschließlich der Türkei und Chinas.

Es liegt auf der Hand, dass Russland kein Mitglied ist – dies aber nicht nur aus eigenem Verzicht heraus, sondern auch deswegen, weil die Mitgliedsländer von TRACECA sich ausdrücklich gegen eine Mitgliedschaft Russlands ausgesprochen haben. Dass die Programme von TRACECA und INOGATE nicht zusammen passen, ist offensichtlich, wird von ihren Vertretern neuerdings auch öffentlich beklagt; sie fordern eine einheitliche Strategie der Europäischen Union in der Energiepolitik. Mit der Herstellung der neuen Nachbarschaftsverhältnisse zu den Staaten im Vorfeld Russlands als Folge der Erweiterung der Europäischen Union hat diese Auseinandersetzung eine neue Schärfe gewonnen. Der unscheinbare Gipfel in Chisinau ist ein Ausdruck davon.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

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