Globalisierung –aber wie? Für eine andere Globalisierung, für weniger Staat, aber mehr soziale Gerechtigkeit, gegen die Entwicklung eines präventiven Sicherheitsstaates

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Zur Diskussion sozialer und demokratischer Alternativen

Im Prozess der Globalisierung treten heute, ungeachtet aller Besonderheiten der einzelnen Länder, immer deutlicher die Grundzüge hervor, die der Modernisierung im einen wie im anderen Lande gemeinsam sind. Besonders deutlich wird das im Vergleich mit dem russischen, wie generell den nachsowjetischen Versuchen, das wissenschaftlich-technische Fortschrittsbild des Sozialismus gegen eine Modernisierung westlichen Zuschnitts auszutauschen. Kern all dieser Entwicklungen ist der Funktionswandel des Staates, das Ende des Sozial- und Fürsorgestaates alten patriarchalen Typs vor dem Hintergrund der generellen Krise des industriellen Wachstumsmodells und die damit verbundene sich überall ankündigende andere Organisation der Arbeit und der Familie.
Dabei gibt es zwei Linien – die eine verlängert die bestehenden Verhältnisse. Sie zielt darauf, den Sozialstaat bei Beibehaltung, ja, Zementierung der gegebenen wirtschaftlichen, sozialen und familiären Strukturen, aber gleichzeitigen inneren Aushöhlung in einen präventiven Sicherheitsstaat zu verwandeln. Die Kriegserklärung gegen die Strukturen der Selbstversorgung und Selbstorganisation, in Russland brutal, in Deutschland erst bei genauerem Hinsehen erkennbar, ist ihre logische Folge. Die andere nimmt die Überlebtheit des patriarchalen Fürsorgestaates als Tatsache zur Kenntnis und zielt auf eine grundlegende Neuordnung der Arbeit entlang der Bildung von sich selbst versorgenden, selbst gewählten Gemeinschaften und deren Symbiose mit der gesamtgesellschaftlichen industriellen Produktion.
Die Auseinandersetzung zwischen beiden Linien trägt globalen Charakter mit jeweiligen örtlichen, bzw. regionalen Besonderheiten. Globalisierung muss unter diesen Gesichtspunkten neu durchdacht werden. Das Ergebnis muss man in positive Forderungen an die heutige Politik, in formulierte Alternativen überführen, die auf die Entwicklung eines anderen Sozialkontraktes als des gegenwärtig in der Globalisierung herrschenden orientiert sind, nämlich auf einen Kontrakt, in dem der Einzelne dabei unterstützt wird, sein Überleben in einer selbstgewählten Versorgungs- und Lebensgemeinschaft zu sichern und zu entwickeln. Dem Funktionswandel des Staates kann nicht mit Forderungen nach Wiederherstellung des patriarchalen Fürsorgestaates sowjetischen oder sozialdemokratischen Typs begegnet werden, wie er aus der Vergangenheit bekannt ist, sondern nur mit einem Programm, das die Begriffe sozial und demokratisch mit neuen Inhalten füllt, nämlich der Verwandlung des Staates in ein Instrument zur Förderung der sich selbst versorgenden und selbst organisierenden Lebensgemeinschaften im Zusammenhang der gesamtgesellschaftlich organisierten Produktion.

Daraus leiten sich folgende Grundpositionen ab:

– Pro: Gerechte Verteilung der sozialen Kosten der unvermeidlichen Transformation auf alle Mitglieder der Gesellschaft.
Contra: Gegen einseitigen Sozialabbau.

– Pro: Aktive Förderung von Ansätzen zur Selbstversorgung, Selbstorganisation und Selbstverwaltung wie anderer sich aus der globalen Umgestaltung ergebender nicht-formeller, extrapolarer Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens.
Contra: Gegen die Marginalisierung und Illegalisierung informeller Arbeits- und Lebensstrukturen.

– Pro: Mehr Transparenz und Kontrolle staatlicher Entscheidungen von unten statt Entwicklung präventiver Kontrollstrukturen von oben
Contra: Widerstand gegen die Einschränkung von demokratischen Rechten und den Ausbau eines präventiven Sicherheitsstaates.

Exkurs zur sog. „zivilisierten Gesellschaft“:
Leitwert der russischen Transformation wie vieler anderer nach-sozialistischer Transformationsländer ist trotz aller inzwischen eingetretenen Desillusionierung über den Westen immer noch die sog. „normale zivilisierte Gesellschaft“. Als Modell einer solchen gilt der Sozialstaat europäischer, speziell deutscher Prägung. Herauszuarbeiten ist, dass diese Sozialstaatsrealität a) an ein patriarchales Staatsverständnis geknüpft war, dass die „Zivilisiertheit“ b) zudem nur in einem sehr begrenzten geografischen und historischen Raum entwickelt war – nicht dagegen im Süden und Osten Europas, erst recht nicht in Amerika usw. und dass sie c) auch in diesen Ausnahmegebieten heute ihre Gültigkeit verliert und somit ein neues Verständnis des sozialen Staates im Sinne einer globalen Gemeinschaft der selbstgewählten Versorgungsgemeinschaften entwickelt werden muss. Herauszuarbeiten ist last not least, dass unter dem Gesichtspunkt der sozialen Aspekte, d. h. der materiellen Versorgung und kulturellen wie geistigen Förderung der Menschen (und übrigens auch der Tiere) auch nicht-europäische Formen von Staat und Gesellschaft „zivilisiert“ waren, bzw. sind, also auch andere Formen von Zivilisationen denkbar sind als nur die aus der europäischen Geschichte hervorgegangenen westlichen Modelle.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Mehr dazu in meinem Themenheft 15/16 vom August 2004: „Wofür steht Russland und wohin geht es?“
Ausserdem in meinem Buch: Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, Verlag edition 8, Zürich, Mai 2004.

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