Europa – Modell oder Festung?

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den Dollar zu überholen, aber die europäischen Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa? Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den Fortschritt der Globalisierung abschottet?

Europäische Intellektuelle streiten: Der französische Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kleidete seine Kritik an einem, wie er meint, handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische Autorität eingebüsst.

In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen, wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung, die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen demokratischen Impulses, während die USA das koloniale Erbe des alten Europa in einem neuen Empire globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?

Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist: Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.

Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst, als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der Ursprung seiner Geschichte.

Die Impulse für Europas Entwicklung liegen sämtlich außerhalb des heutigen europäischen Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen, Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus. Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen europäischen Raums.

Richtig los ging es sogar erst mit der noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinisch-fränkische Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanisch-indianischen – hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren die eigentlichen Geburtswehen Europas.

Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren. Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer, daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont blieben.

Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element war das Christentum, wenn auch in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam. Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte, scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende 30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten.

Mit Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen, endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte, hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.

Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus; Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte. Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch Traditionalismus und Fatalismus ausbremste.

In der europäischen Entwicklung dagegen verband sich die Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie – europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane, im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen Steppen.

Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen, differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging, verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler; fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt: Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die Tataren-Mongolen expandierte der europäische Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von Kolonien.

Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der Export des christlich-abendländischen Willens zur Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen durch die Europäer; ideologisch bedeutete es: Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung und der damit verbundenen Lebensweise.

Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können. Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen, gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1. Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste Schritt zur Emanzipation der Kolonien.

Der 2. Weltkrieg vollendete diesen Niedergang der europäischen Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft orientierte.

Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere Mächte geworden.

Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis heute noch nicht wirklich klar ist.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte, wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.

Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden. Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der europäischen Geschichte und dies begründet eine besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union, aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind endgültig vorbei.

Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist, enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert. Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein, die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel „Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine Internationale Konferenz überschrieben, die vom Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre Folgen“, um „Strategien gegen Diskriminierung“, um Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als Bereicherung des Menschseins erleben soll.

In Europa finden die Gegenbewegungen zur Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“ nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der „corporate identity“, das bisher im Management gegolten hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist, dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst, da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.

Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu den Versuchen der unipolaren militärischen Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.

Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige Verteilung von Macht. Prozesse der Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben, Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“.
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.

uch dies ist keineswegs neu für Europa: Als Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die Ungläubigen tief in dass kollektive europäische Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten. Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der Kreuzritter geprägt. Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde wenige Generationen später die Festung gegen die Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt, seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu überfluten.

Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17. Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre 1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind. Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die „Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist nicht frei von diesem Klisché.

Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte, fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand, vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“ geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufruft.

In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen, alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nicht-weißen US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur, solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer, welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten, wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen aufhielten.

Im Namen von Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind politische Strömungen wie die Partei des ermordeten Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten: Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer – die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser Wende sind auch Positionen wie die des englischen Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff „multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.

Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren: Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte, rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer der Europäischen Union oder gleich ganz in die Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union. Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien berichten kaum.

Noch schwerer erkennbar sind die virtuellen Lager in den nicht-europäischen Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst, um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung, eines der höchsten Güter im Wertekatalog der Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch Europa in die Sackgasse eines präventiven Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.

Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen, wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´ Grundlage zukünftiger Politik Europas und der Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen. Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer, wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft beschreiben soll.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

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