Eine unendliche Geschichte.
In Blagoweschinsk kommen sich Russland und China am nächsten. Diesseits des Amur liegt Blageweschinsk als behäbige Provinzhauptstadt des rusischen Amur-Verwaltungsgebietes; vom gegenüberliegenden Ufer grüsst nachts durch riesige Lichterketten hell erleuchtet, die dynamische Silhouette von ChejChej auf die Uferpromenade von Blagoweschinsk herüber.
CheiChei wurde von der chinesischen Regierung als freie ökonomische Zone deklariert, Blagoweschinsk wartet seit Jahren auf eine entsprechende Moskauer Entscheidung. Die Beziehung zwischen beiden Städten ist schnell erklärt: Blagoweschinsk lebt heute vom Handel mit chinesischen Waren. CheiChei, so erinnern sich die Blagoweschinsker, war noch vor fünfzehn Jahren ein armseliges, gottverlassenes Dorf im vernachlässigten Grenzbereich zwischen Russland und China.
Heute kann Blagoweschinsk ohne den chinesischen Markt, der über CheiChei versorgt wird, nicht mehr existieren. Als der Visazwang für einreisende Chinesen nach vorübergehender Aufhebung 1992 Mitte der Neunziger wieder eingeführt wurde, sank das Warenangebot in Blagoweschinsk vorübergehend auf das Niveau der Krisenjahre der beginnenden Perestroika. Die Bevölkerung von Blagoweschinsk, vornehmlich die weniger verdienenden Schichten, wie auch der übrigen Grenzanrainer im sibirischen Westen sowie im fernen Osten war vorübergehend wieder unterversorgt, weil nur noch Westware auf den Markt kam.
Heute können sich in Blagoweschinsk wieder alle sozialen Schichten der Bevölkerung kaufen, was sie zum Leben brauchen. Es existieren mehrere Märkte nebeneinander, die unterschiedliche soziale Schichten bedienen.
Auf dem chinesischen Markt kauft die wenig oder gering verdienende Bevölkerung der Stadt, vornehmlich aber der ländlichen Gebiete: ein russischer Markt versorgt die zahlenmässig geringe, vor allem städtische Mittelklasse des Gebietes.
Auf dem „Russischen Markt“ werden jedoch nicht vornehmlich russische Produkte, wie man denken könnte, sondern ebenfalls chinesische Waren verkauft – Ware von gehobener Qualität, die länger als die Billigware des chinesischen Marktes hält. Die Chinesen, so die Einheimischen, haben innerhalb kürzester Zeit gelernt, unterschiedliche Märkte mit unterschiedlichen Waren zu beliefern.
Bleibt schliesslich noch der „Jahrmarkt“ zu erwähnen, der die gehobenen Ansprüche der gut situierten Bürokratie und der neuen Reichen bedient, die es selbstverständlich auch am Amur gibt.
CheiChei ist heute eine Stadt von etwa zwei Millionen Einwohnern; viele chinesische Studentinnen und Studenten besuchen die Hochschulen von Blagoweschinsk. Zehn Prozent der Bevölkerung von Blagoweschinsk sind Chinesen. „Unsere Stadt verdankt den Chinesen ihren heutigen bescheidenen Wohlstand“, so ist von russischen Kleinunternehmern und in intellektuellen Kreisen der Stadt zu hören. Andere Töne hört man aus den Kreisen der einheimischen Leichtindustrie. Sie fühlt sich durch die chinesische Konkurrenz bedroht. Sie würden die Chinesen, um den bekannten russischen Volksdemagogen Wladimir Schirowski zu zitieren, am liebsten in den Amur jagen. Auf’s Ganze gesehen aber lebt man gut mit den Chinesen. Von „Gelber Gefahr“ ist hier in Blagoweschinsk nicht die Rede; hier ist die Rede von den Vorteilen gutnachbarschaftlicher Beziehungen.
Drei Vorteile werden vor allen anderen genannt: die Versorgung des Marktes mit Waren, die Aufffüllung des unterversorgten Arbeitsmarktes mit Arbeitskräften, die rege Bautätigkeit chinesischer Eigentümer auf russischem Boden. Dies alles, so das weitgehend übereinstimmende Resumee, gilt als positiv. Als negativ gilt allein die illegale Zuwanderung; die jedoch hält sich nicht nur nach offiziellen Angaben, sondern auch aus Sicht von deren Kritikern, inzwischen in kontrollierten Grenzen.
Da wundert man sich schliesslich, warum das Projekt einer Brücke über den Amur, das bereits seit 1992 zwischen den Vertretern der Städte Blagoweschinsk und CheiChei diskutiert wird, nicht schon lange begonnen wurde. Beide Seiten sind angeblich interessiert, Peking wie auch Moskau haben ihr strategisches Einverständnis erklärt. Der Bau der Brücke wäre ein grosser Schritt zur Entwicklung aktiver wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und China im Amur-Raum und im fernen Osten, zumal noch eine weitere Brücke bei Chararowsk weiter im Osten im Gespräch ist.
Alle Seiten versichern ihr Interesse an einer solchen Brücke. China hält Finanzen und Arbeitskräfte bereit, allerdings mehr Arbeitskräfte als Finanzen. Der russische Präsident ist mehrmals in seiner Amtszeit im fernen Osten gewesen, sein Wirtschaftsminister in den letzten zwei Jahren mehr als ein dutzend mal. Dennoch ist noch kein erster Spatenstich erfolgt. Die Gründe sind schwer zu ermitteln. Die örtliche Bürokratie hüllt sich in Schweigen. Aus Hinterzimmern ist jedoch vernehmbar, Moskau verzögere die Entscheidung.
Örtliche Geschäftsleute, die an der Brücke interessiert sind, noch mehr örtliche Intellektuelle, die sich kritisch mit der Frage der chinesischen Immigration befassen, machen die Unfähigkeit der örtlichen Bürokratie verantwortlich, die keine klare Politik in der Frage der Beziehungen zu China habe.
Die Wahrheit dürfte wohl darin zu finden sein, dass Moskau zwar klare strategische Interessen an einer starken Kooperation mit China hat, allein schon, um den USA etwas entgegenzusetzen, das aber innerrussische Clans und regionale Interessengruppen bei einer solchen Öffnung der Grenzen um ihre Monopolstellung fürchten, die sie jetzt trotz allem immer noch geniessen. Gewiss aber ist: Solche und ähnliche Gründe können den Bau der Brücken verzögern, verhindern können sie ihn nicht.
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