Was will Europa in Zentralasien?

Was will Europa in Zentralasien?

Erzähler:

Seit dem 11.09.2001 sind westliche Truppen in Zentralasien stationiert – zunächst im Krieg gegen die Taliban, dann zur Stabilisierung der fast vollständig zerstörten Hauptstadt Afghanistans, Kabul. Das Hauptkontingent der Truppen stellen die USA, deren Soldaten weiterhin in Afghanistan kämpfen. Inzwischen sind sie auch in Usbekistan stationiert. Aber auch Europa ist präsent: Europäische Spezialtruppen unterstützen die USA im Kampf gegen die Reste der Al Quaida und versprengte Taliban-Kämpfer. Vor allem aber im zivilen Bereich übernimmt Europa seinen Part: Abgeordnete der europäischen Kommission, ebenso der deutsche Außenminister Joschka Fischer bereisten wiederholt in letzter Zeit große und kleine zentralasiatische Staaten. Die Konferenz zur Einsetzung einer provisorischen Nachkriegsregierung in Afghanistan wurde von Deutschland ausgerichtet. Bundeskanzler Gerhard Schröder war der erste westliche Politiker, der Kabul nach dem Krieg besuchte – in seinem Gefolge Vertreter der Wirtschaft und kein geringerer als Fußballkaiser Franz Beckenbauer. Die USA erwarten einen Stabilitätsbeitrag von den Europäern für Zentralasien in Höhe mehrerer Milliarden Euro und weitere militärische Unterstützung. Bei seinem Europa-Besuch im Mai des Jahres beschwor der US-Präsident George W. Bush vor dem deutschen Bundestag die Einheit der westlichen Interessen. Er sagte:

Zitat 1: George W. Bush:

“Gemeinsam widersetzen wir uns einem Feind, der sich an Gewalt und dem Schmerz von Unschuldigen nährt. Die Terroristen werden von ihren Hassgefühlen bestimmt: Sie hassen Demokratie und Toleranz und Meinungsfreiheit und Frauen und Juden und Christen und alle Muslime, die nicht ihrer Meinung sind. Andere töteten im Namen der Reinheit der Rasse oder des Klassenkampfs. Diese Feinde töten im Namen einer falschen Reinheit, sie pervertieren den Glauben, den sie zu haben behaupten. In diesem Krieg verteidigen wir nicht nur die vereinigten Staaten oder Europa, wir verteidigen die Zivilisation selbst.“

Erzähler:

Europa, das ist für den US-Präsidenten auch Osteuropa und darüber hinaus ebenso das Russland Wladimir Putins. So ermahnte er die Abgeordneten des deutschen Bundestages:

Zitat 2: G.W. Bush

“Eine weitere gemeinsame Mission ist die Ermutigung des russischen Volkes, seine Zukunft in Europa zu suchen – und zusammen mit Amerika.“

Erzähler:

Das neue NATO-Revirement, das Russland als fast gleichberechtigtes Mitglied in einen NATO-Kooperationsrat aufnimmt, soll diese Linie unterstreichen. Nicht Konkurrenz, sondern Kooperation bestimme die Beziehungen zwischen den USA und diesem großen Europa, versicherte der US-Präsident während seiner Europareise im Mai 2002 in Berlin, danach auch in Moskau, Paris und schließlich noch einmal beim NATO-Gipfel in Rom:

Zitat 3: G.W. Bush

„Wenn die Einigung Europas voranschreitet, nimmt die Sicherheit in Europa und Amerika zu. Mit der Integration Ihrer Märkte und einer gemeinsamen Währung in der Europäischen Union schaffen Sie die Voraussetzungen für Sicherheit und gemeinsame Zielsetzungen. In allen  diesen Schritten sehen die Vereinigten Staaten nicht den Aufstieg eines Rivalen, sondern das Ende alter Feindseligkeiten.“

Erzähler:

USA, Europa, Russland – eine große Staaten-Familie unter väterlicher Obhut der USA? Die von den USA geführte „Allianz gegen den Terror“ eine Wertegemeinschaft im gemeinsamen Interesse, „die Tyrannei und das Böse zu bekämpfen?“ Die NATO auf dem Weg zu einer, wie es manche nennen, paneuropäischen Polizei? Ist das die Wirklichkeit?

Selbstverständlich ist es das nicht. Es ist nur die aktuelle Medienversion einer lang angelegten Strategie US-amerikanischer Vorherrschaft. Wer wissen will, welche langfristigen Interessen die USA heute nach Zentralasien führen, welche Rolle sie Europa und welche sie Russland dabei zuweisen, findet Aufklärung bei dem US-Altstrategen Zbigniew Brzezinski. Er war einst  Sicherheitsberater bei Präsident Jimmy Carter und ist noch heute neben Henry Kissinger und Samuel P. Huntington einer der grauen Eminenzen in der Welt der berüchtigten Think Tanks, in denen die US-Globalstrategie ausgebrütet wird: Sein Vorwort zu seinem Buch „Die einzige Weltmacht“, herausgegeben im Jahre 1998, also weit vor der angeblichen Wende der Weltpolitik vom 11.9.2001, beginnt Brzezinski mit der bekmerkenswerten Feststellung :

Zitat 4: Zbigniew Brzezinski

„Seit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischen Beziehungen vor etwa fünfhundert Jahren ist Eurasien stets das Machtzentrum der Welt gewesen.“

Erzähler:

Im letzten Jahrhundert, so Brzezinski weiter, habe sich die Weltlage jedoch grundlegend verändert. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte sei ein außer-eurasischer Staat nicht nur als Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die einzige und im Grunde erste Weltmacht auf den Plan getreten. Gemeint sind die USA. Eurasien habe dadurch seine geopolitische Bedeutung jedoch keineswegs verloren:

Zitat 5: Zbigniew Brzezinski

„In seiner westlichen Randzone – Europa – ballt sich noch immer ein Großteil der politischen und wirtschaftlichen Macht der Erde zusammen; der Osten des Kontinents – also Asien – ist seit einiger Zeit zu einem wichtigen Zentrum wirtschaftlichen Wachstums geworden und gewinnt zunehmend an politischem Einfluss. Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.“

Erzähler:

Nach dieser Klarstellung fährt Brzezinski fährt fort:

Zitat 6: Zbigniew Brzezinski

„Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird. Erst 1940 hatten sich zwei Aspiranten auf die Weltmacht, Adolf Hitler und Joseph Stalin, expressis verbis darauf verständigt, (während der Geheimverhandlungen im November jenes Jahres), dass Amerika von Eurasien ferngehalten werden sollte. Jedem der beiden war klar, dass seine Weltmachtpläne vereitelt würden, sollte Amerika auf dem eurasischen Kontinent Fuß fassen. Beide waren sich einig in der Auffassung, dass Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche.“

Erzähler:

Heute, ein halbes Jahrhundert später, stelle sich die Frage neu, nämlich: Werde Amerikas Dominanz in Eurasien von Dauer sein und zu welchen Zwecken könnte sie genutzt werden? Brzezinskis Antwort auf diese Frage verbindet amerikanische Freiheitspropaganda und machtpolitischen Pragmatismus auf atemberaubend offene Weise. Manche Menschen interpretieren diese Offenheit sogar als Zeichen demokratischer Kultur:

Zitat 7: Zbigniew Brzezinski:

„Amerikanische Politik sollte letzten Endes von der Vision einer besseren Welt getragen sein, einer Vision, im Einklang mit langfristigen Trends sowie den fundamentalen Interessen der Menschheit eine auf wirksamer Zusammenarbeit beruhende Weltgemeinschaft zu gestalten. Aber bis es soweit ist, lautet das Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung sein könnte.“

Erzähler:

Von Zbigniew Brzezinski stammt die Definition des zentral-asiatischen Raumes als „Eurasischer Balkan“. Er meint damit die Region, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach 1991 als Gemeinschaft unabhängiger Staaten, GUS hervorgegangen ist. Brzezinski betrachtet dieses Gebiet als herrschaftsfreie Zone, die einer neuen ordnenden Führung bedürfe – der amerikanischen, die das Gebiet für die Welt offen halten müsse. Auf jeden Fall müsse eine neue russische Monopolisierung des Gebietes verhindert werden:

Zitat 8: Zbigniew Brzezinski:

„Es ist dieses wohlvertraute Phänomen des Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung, das die Bezeichnung eurasischer Balkan rechtfertigt: Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelle Balkan als geopolitische Beute. Geopolitisch interessant ist aber auch der eurasische Balkan, den die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellen sollen, durchziehen werden. Außerdem kommt ihm sicherheitspolitische Bedeutung zu, weil mindestens drei seiner unmittelbaren und mächtigsten Nachbarn von alters her Absichten darauf hegen, und auch China ein immer größeres politisches Interesse an der Region zu erkennen gibt.“

Erzähler:

Die „unmittelbaren mächtigsten Nachbarn“, von denen Brzezinski spricht, sind Russland, der Iran – und nicht zu vergessen Europa. Neuerdings tritt, wie auch Brzezinski wiederholt anmerkt, China hinzu. Dies seien mächtige Gründe für ein ausgleichendes Eingreifen der USA, meint Brzezinski. Noch viel wichtiger aber sei der eurasische Balkan aus einem anderen weiteren Grund, nämlich:

Zitat 9: Zbigniew Brzezinski:

„Weil er sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte – konzentrieren sich in diesen Regionen doch ungeheure Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigen Mineralien einschließlich Gold – ganz zu schweigen.“

Erzähler:

Der weltweite Energieverbrauch, so beschreibt  Brzezinski die Qualität dieses Filetstückes, werde sich in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Er zitiert Schätzungen des US-Departments of Energy, denen zufolge die globale Nachfrage bis zum Jahr 2015 um voraussichtlich mehr als fünfzig Prozent steigen werde. Die größte Zunahme werde dabei für den Fernen Osten, also vorrangig für China erwartet. Schon jetzt rufe der wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es sei bekannt, dass die zentralasiatische Region und das kaspische Becken über erdgas- und Erdölvorräte verfügten, die jene Kuwaits, des Golfes von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellten.

Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten und an ihrem Reichtum teilzuhaben, so Brzezinski, seien Ziele, die nationale Ambitionen weckten, Gruppeninteressen anregten, historische Ansprüche wieder aktualisierten, imperiale Bestrebungen wieder aufleben ließen und internationale Rivalitäten entfachten. Kurz, der US-Stratege aktualisiert die Grundzüge des „Great Game“, das am Ende des 19. Jahrhunderts um die Vorherrschaft über diese Region zwischen den großen imperialen Blöcken Russlands und Englands ausgetragen wurde und das nun, nach dem Ende der sowjetischen Alleinherrschaft über das Gebiet, erneut anstehe. Brisanter werde die Situation noch dadurch, setzt er hinzu, dass die Region nicht nur ein Machtvakuum darstelle, sondern auch intern instabil sei. Jeder der dortigen Staaten habe ernste innenpolitische Schwierigkeiten, die einzelnen Staatsgrenzen seien entweder von Gebietsansprüchen ihrer Nachbarn gefährdet oder sie lägen in ethnischen Problemzonen; nur wenige seien bevölkerungsmäßig homogen, einige seien sogar in gewalttätige Auseinandersetzungen territorialer, ethnischer oder religiöser Art verwickelt. Ein Eingreifen der „einzigen Weltmacht“, ist aus Zbigniew Brzezinskis Sicht daher nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die Methoden, wie das zu geschehen habe, skizziert er wie folgt:

Zitat 10: Zbigniew Brzezinski:

„Die USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interesse an der Erhaltung eines geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Asien.“

Erzähler:

„Erhaltung des Pluralismus“ – das beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als die alte imperiale Strategie des „Teile und Herrsche“ im neuen Gewande, dieses mal in dem einer globalen US-Hegemonie. Es geht um den Zugriff der USA auf die Naturreichtümer Euroasiens, um Eingrenzung möglicher Konkurrenten, insbesondere Russlands.

Zitat 11: Zbigniew Brzezinski:

„Neben seinen weiterreichenden geostrategischen Zielen in Eurasien vertritt Amerika auch ein eigenes wachsendes ökonomisches Interesse, wie auch das Europas und des Fernen Ostens, an einem unbehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region. In  erster Linie geht es jedoch um Zugang zur Region, über den bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau allein verfügen konnte.“

Erzähler:

In dieser Weltsicht, auch wenn sie im Namen der Weltgemeinschaft propagiert wird, nehmen Europa ebenso wie der „Ferne Osten“ lediglich die Rolle von „Randzonen“ Euroasiens ein, Europa ist für Brzezinski der „demokratische Brückenkopf“ im Westen, Japan und Korea der „fernöstliche Anker“, alle sind sie jedoch „Vasallen“, die in die hegemoniale Strategie der USA einzubinden sind. Russland fungiert unter der Rubrik des „Schwarzen Lochs“ im Zentrum Euroasiens, das neutralisiert werden müsse. Nicht nur der amerikanischen Militär- und Wirtschaftsmacht, sondern auch der amerikanischen Kultur könne auf Dauer keine heutige Gesellschaft widerstehen. Ergebnis werde eine Globalisierung des „American way of life“ sein, meint Brzezinski.

Er schließt sein Buch mit dem visionären Satz:

Zitat 12: Zbigniew Brzezinski

„Im Laufe der nächsten Jahrzehnte könnte somit eine funktionierende Struktur weltweiter Zusammenarbeit, die auf den geopolitischen Gegebenheiten gründet, entstehen und allmählich die Insignien des derzeitigen Herrschers der Welt annehmen, der vorerst noch die Last der Verantwortung  für die Stabilität und den Frieden in der Welt trägt. Ein geostrategischer Erfolg in dieser Zielsetzung wäre dann die durchaus angemessene Erbschaft, die Amerika als erst, einzige und letzte echte Supermacht der Nachwelt hinterlassen würde.“

Regie: Hier evtl. Musik

Erzähler:

„Hegemonie neuen Typs“, „eurasisches Schachbrett“, „demokratischer Brückenkopf Europa“, „Schwarzes Loch Russland“, „Eurasischer Balkan“ und „Fernöstlicher Anker“ – das sind die Schlagworte, die US-Stratege Zbigniew Brzezinski der Welt liefert. US-Präsident G.W. Bush bemüht sich gegenwärtig, sie in praktische Politik umzusetzen. Die von ihm begründete „Allianz gegen den Terrorismus“ lebt von Brzezinskis Geiste. Ganz offensichtlich, soviel ist unbestreitbar, beschreibt diese Strategie eine mögliche Sicht der Wirklichkeit: In Bezug auf Russland und China ist klar, warum diese Länder sich zur Zeit in diese Strategie einbinden lassen. Ihre Führungen erhoffen sich von einer Unterstützung der USA eine langfristige wirtschaftliche Stärkung und freie Hand gegen separatistische Tendenzen in ihren sich transformierenden und auseinanderstrebenden Imperien. Im übrigen aber gebe man sich, was die Westorientierung Wladimir Putins betrifft, keinen falschen Vorstellung hin. Wladimir Putin wiederholt immer wieder, gerade nach vorangegangenen Verbeugungen gegen Westen, was er schon zu seinem Amtsantritt formulierte:

Zitat 13: Wladimir Putin

„Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen, dass ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, dass wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat schreiten – die Wirtschaft entwickeln, ebenso politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen dafür sind im heutigen Russland gegeben. Für Russland öffnen sich neue Perspektiven im Osten, die wir, daran gibt es keine Zweifel, entwickeln werden. Wir werden uns aktiv an der Umwandlung dieser Region in unser `allgemeines Haus´ beteiligen. Die volle Beteiligung Russlands an der gegenseitigen Wirtschafts-Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist natürlich und unausweichlich. Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“

Erzähler:

Starke politische Strömungen in der politischen Klasse Russlands ebenso wie in der Bevölkerung sind die Basis für diesen Kurs Wladimir Putins. Die Ereignisse des 11.09.2001 haben an dieser Interessenlage nichts geändert. Die russische Föderation ist nach wie vor die zentrale Macht im Herzland Euroasiens – sie ist nicht Europa und nicht Asien, sondern Russland und westliche Hoffnungen, Russland könne seine Orientierung auf eine multipolare Weltordnung zwischen den Polen aufgegeben haben, dürften ziemlich an der Realität vorbeigehen. Ähnliches gilt für China, das zwar seit dem Ende der Sowjetunion eine aktive politische und wirtschaftliche Offensive in Richtung Westen entwickelt. Mehr als sechs Millionen Chinesen haben seitdem die Grenzen zur russischen Föderation überschritten und leben inzwischen dauerhaft auf russischem Gebiet; im Rahmen der „Shanghaier Gruppe“ hat China aber zusammen mit Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan und unter den interessierten Augen der übrigen regionalen Anrainer eine regionale Kooperation gestartet. Die GUS-Staaten sehen darin die Möglichkeit, sich von der chinesischen „Wirtschaftslokomotive“ mitnehmen zu lassen. Ziel Chinas ist die Wiederbelebung des transkontinentalen Korridors entlang der ehemaligen Seidenstrasse. Ein Besuch Jiang Tsemins in Deutschland im Frühjahr 2002 dokumentierte diesen Kurs Chinas.

Kurz: China sucht einen direkten Weg nach Europa, aber es  versucht sich auch Zugang zu den Ölressourcen am kaspischen Meer zu verschaffen und den zentralasiatischen Raum, einschließlich Russlands, Süd-Asiens und des muslimischen Orients für sich zu öffnen. Auch diese Realität ist nach dem 11.09.2001 nicht anders geworden.

Was die Europäer, allen voran die Deutschen sich von ihrer Präsenz in Zentral-Asien erhoffen, das fasste der deutsche Bundeskanzler nur zwei Monate nach dem 11.09.2001 auf einer Tagung zum 40jährigen Bestehen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in die gut klingenden Worte:

Zitat 14: Gerhard Schröder

„Entwicklungspolitik ist in den letzten Jahren deutlich politischer geworden. Sie geht heute weit über den reinen Ressourcen- und Technologietransfer hinaus. Entwicklungspolitik handelt heute von der Zukunftssicherung in einem sehr globalen Maßstab. Entwicklungspolitik hat deshalb notwendig etwas mit der Durchsetzung der universell geltenden Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz zu tun. Und sie ist – das ist zu unterstreichen – in einer ganz besonderen Weise multilaterale Politik.“

Erzähler:

Diese Zielsetzung folgt dem Muster der amerikanischen Wünsche, dass Amerika von der Vision einer besseren Welt getragen sein sollte – unterscheidet sich von dieser allerdings durch die Betonung des Multilateralen. So wie aber Zbigniew Brzezinski erklärt, bis es soweit sei, dass Amerika wirklich von der Vision einer besseren Welt getragen werde, müssten die USA primär ihre Hegemonie verteidigen, sind auch die Worte des deutschen Kanzlers vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die gewachsene internationale Verantwortung Deutschlands und Europas in Zukunft auch militärische Einsätze notwendig mache, um die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Freiheit und Menschenrechten erst einmal zu schaffen.

In den Strategiestuben des deutschen Auswärtigen Amtes wird man deutlicher: Schon während der ersten großen Asien-Rundreise Außenminister Fischers im Mai 2000 veröffentlichte der Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, Staatssekretär Achim Schmillen ein Strategiepapier, in dem er die Europäischen Interessen in Zentralasien skizzierte. Darin spricht der deutsche Staatssekretär genau wie Zbigniew Brzezinski von einer „Balkanisierung Zentralasiens“ und verweist wie dieser auf den – zum Teil noch unerschlossenen – Rohstoffreichtum der Region. Beides zusammen mache Zentralasien zu einem internationalen Sicherheitsrisiko. Er warnt vor einem Desinteresse und vor Tatenlosigkeit Deutschlands und Europas und fordert ein aktives Engagement der Europäer in Zentralasien.

Dafür gibt er, außer dem schon Gesagten, noch eine weitere Begründung, die in bemerkenswerter Weise von amerikanischen Darstellungen abweicht.

Wichtig sei die Region auch, erklärt er:

Zitat 15: Achim Schmillen:

„Zumal es sich nicht nur um ein Gebiet mit vielen Bodenschätzen handelt, sondern um die natürliche Kommunikationsbrücke zwischen Zentralasien, Südasien, China und dem Westen. Das Interesse Europas muss deshalb darin bestehen, dass dieses Gebiet stabilisiert wird.“

Erzähler:

Zwei geopolitische Faktoren sind nach Ansicht des deutschen Staatsekretärs für die Zukunft der Region und für Europa von besonderer Bedeutung:

Zitat 16: Achim Schmillen

„Erstens haben die zentralasiatischen Staaten keinen Zugang zum Meer. Sie brauchen Verbindungs- und Handelswege, um am internationalen Handel teilnehmen zu können. Die Handel- und Routensicherheit kann nur durch Zusammenarbeit zwischen den Staaten geschaffen werden. Zweitens ist die Region eine klassische Pufferzone. Sie trennt Europa vom indischen Subkontinent, von China und Ostasien. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die geostrategische Bedeutung der Region künftig die politische, ökonomische und sicherheitspolitische Bedeutung übertreffen wird. Der EU ist daran gelegen, die Energieimporte durch die Erschließung der Erdöl- und Erdgasreserven und der zentralasiatischen Region zu diversifizieren. Europa hat zudem großes Interesse an der Eindämmung der Rauschgiftzufuhr, der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus.“

Erzähler:

„Diversifizieren“, das bedeutet, Europa soll dafür sorgen, dass Öl- und Gasvorkommen der Region nicht von einem einzigen Lieferanten monopolisiert werden können – nicht von Russland, nicht von der Türkei, nicht vom Iran, aber auch nicht von den USA. Europa, so Achim Schmillen, müsse die in der Region aktiven Unternehmen ermuntern, eine zukunftsfähige Öl- und Gasindustrie aufzubauen, sowie, das stellt er besonders heraus, ein multipolares Pipeline-System unter Einschluss russischer Unternehmen. Für diese Politik der Kooperation will man nicht nur Russland und China, sondern auch die Vereinigten Staaten gewinnen, weil sich sonst kein breiter Lösungsansatz finden lasse.

Erzähler:

In weiteren Papieren aus dem Auswärtigen Amt, die – als persönliche Stellungnahmen von Mitgliedern des Planungsstabes deklariert – zeitgleich in österreichischen Militärfachblättern erschienen, werden noch weitere Vorstellungen deutlich. Dort heißt es:

Zitat 17: Auswärtiges Amt

„In der Region sind zwei Drittel aller Weltölreserven und annähernd 40% aller Erdgasreserven konzentriert. Daher gibt es ein vitales Interesse der Industrie- und Schwellenländer an dieser Region. Im Kaspischen Becken wurden beträchtliche Lagerstätten von Erdöl und Erdgas gefunden, und noch größere Mengen werden dort vermutet. Diese Ressourcen sind zwar quantitativ nicht mit denen am Golf vergleichbar, aber doch groß genug, um für die Versorgung Europas relevant zu sein.“

Erzähler:

Ähnliche Verlautbarungen konnte man von dem Kommissar für auswärtige Abgelegenheiten der Europäischen Kommission, dem Schweden Chris Patten hören. Anlässlich eines Besuches der außenpolitischen Troika der Europäischen Union im Kaukasus erklärte er bereits im Februar 2001:

Zitat 18: Christopher Patten, EU-Komissiar:

„Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung in der Region sind für Europa wichtig. Deshalb unterstützt die EU die Staaten der Region und fördert die regionale Zusammenarbeit. So wurden dem Kaukasus in den letzten neun Jahren Finanzhilfen in Höhe von etwa 1 Mrd. Euro gewährt. Im Rahmen des technischen Hilfsprogramms TACIS richteten wir die Transkaukasische Initiative für den Bau von Straßen und Schienen (TRACECA) ein und unterstützten die kaukasischen Länder bei der Durchleitung von Öl und Gas. Insbesondere der kaukasische Korridor, der über die Staaten Georgien, Armenien und Aserbeidschan die schnellste Verbindung zwischen Südeuropa und Zentralasien darstellt, ist hier wichtig. Die EU hilft dem südlichen Kaukasus deshalb seit langem dabei, sein großes Potential als Transitregion für Waren und Energie aus dem Gebiet um das kaspische Meer und Zentralasien noch besser auszuschöpfen.“

Erzähler:

US-Amerikanische und europäische Interessen unterscheiden sich deutlich, wenn es ins Konkrete geht. Im strategischen Bereich schlägt sich diese Differenz in Warnungen der Europäer vor der Wiederholung des „Great Game“, vor der einseitigen Orientierung auf militärische Mittel, in der Kritik an  unzurechender humanitäre und kulturelle Unterstützung nieder. Und dies nicht erst seit dem 11.09.2001, auch nicht erst nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan, sondern grundsätzlich.   In den bereits zitierten inoffiziellen Stellungnahmen aus dem auswärtigen Amt heißt es dazu, obschon zurückhaltend formuliert, unmissverständlich:

Zitat 19: Papier des Auswärtigen Amtes

„Grundsätzlich sind alle für die Großregion wesentlichen staatlichen Akteure in und außerhalb der Region an Stabilität in diesem Raum interessiert. Dabei gibt es jedoch konkurrierende Konzeptionen: Auf der einen Seite stehen Russland und – etwas weniger stark ausgeprägt – die USA und China, die Türkei und der Iran, die ganz im Sinne eines traditionellen Nullsummenspiels in der Tradition des `Great Game´ darauf zielen, ihren Einfluss in der Großregion zu vergrößern oder zumindest zu bewahren. Auf der anderen Seite stehen jene, die an einer Stärkung der Staatlichkeit der Länder der Großregion und an ihrer Kooperation untereinander und innerhalb der Staatenwelt interessiert sind. Das sind zum einen die betroffenen Staaten selbst und zum anderen u.a. – Europa. Prinzipiell können noch Japan, Australien, Südkorea und mit Abstrichen noch Indien dazu gerechnet werden. Der Iran und auch die Türkei könnten unter Umständen dafür gewonnen werden.“

Erzähler:

Amerikanern und Europäern, wenn auch nicht offen als Konkurrenten bezeichnet, werden von den europäischen Strategen unterschiedliche Interessen bescheinigt: Den Zugriff auf die Rohstoffe Zentralasiens wollen sie beide; aber während die USA darüber hinaus vor allem an der Verringerung des russischen Einflusses, der Isolierung des Iran und der Eindämmung Chinas interessiert seien, ziele das europäische Engagement vorrangig auf die Stärkung der Staatlichkeit in den zentralasiatischen Gebieten. Unter dem Stichwort „Stand der bisherigen Bemühungen“ heißt es lapidar:

Zitat 20: AA-Papiere

„Die Länder des Südkaukasus und Zentralasiens erhalten bereits vielfältige Unterstützung von unterschiedlichen Partnern und aus unterschiedlichen Programmen. Diese Aktivitäten sind allerdings beschränkt in ihrer Reichweite und kaum aufeinander abgestimmt. Die wichtigsten sind die Programme der Europäischen Union.“

Erzähler:

Es folgt eine beachtliche Liste: Darauf finden sich Kooperationsabkommen zum Aufbau übergreifender regionaler Infrastrukturen im Rahmen technischer Hilfsprogramme,  gesonderte Regionalprogramme, Programme humanitärer Hilfe, weiter Programme der Konfliktregulierung seitens der OSZE, des Europarates und der NATO. Dazu – interessanterweise unter der Rubrik des europäischen Engagements aufgeführt – Programme der UNO für die Armuts- und Wüstenbekämpfung, für den Aufbaus von Wirtschafts- und Finanzinstitutionen. Deutschland im besonderen unterhält mit Kirgisistan, Usbekistan, Kasachstan und sämtlichen Ländern des südlichen Kaukasus Partnerschaften der Entwicklungszusammenarbeit.

Scharf treten die Differenzen zwischen den USA und den Europäern in der Regelung der Nachkriegsordnung Afghanistans hervor. Die unter deutschem Vorsitz, aber von der „Allianz gegen den Terror“ eingesetzte Übergangsregierung Hamid Karzais in Afghanistan erwartet eine Ausweitung der internationalen Schutztruppe über die Grenzen der Hauptstadt Kabul hinaus auf andere afghanische Städte, um eine einigermaßen stabile Entwicklung im heutigen Afghanistan  einzuleiten. Die Europäer lassen dazu Bereitschaft erkennen; von der US-Regierung wurde eine solche Ausweitung jedoch abgelehnt. Eine Ausweitung, die auch eine Ausweitung der europäischen Präsenz mit sich brächte, das ist offensichtlich, würde das militärische Machtmonopol beeinträchtigen, das Washington zur Zeit in Afghanistan ausübt, und seinen Plänen für eine weitgehend in den USA ausgebildete, nationale afghanische Armee in die Quere kommen, die als langfristige Stütze für die Ausübung politischen Einflusses dienen soll.

Wie wenig die USA an der Entwicklung einer selbstständigen Staatlichkeit Afghanistans interessiert sind, zeigen die Vorgänge, welche die Einreise des Ex-Königs Mohammad Zahir Schah Anfang April begleiteten.

Ein englischer Journalist berichtete besorgt:

Zitat 21: Englischer Journalist:

„Der afghanische König Mohammad Zahir Schah, 87, der seit 1973 im italienischen Exil lebt, sollte mit großem Bahnhof in der Hauptstadt einziehen. Das italienische Außenministerium organisierte die Reise und bereitete eine Sicherheitseskorte vor. Der Chef der afghanischen Interimsregierung Hamid Karzai, selbst ein Royalist, wollte nach Rom fliegen, um den Monarchen nach Hause zu eskortieren. Eine 12-Zimmer Villa mit Swimming-Pool war als Residenz für den König in Kabul vorbereitet worden. Der US-Botschafter hatte sogar eine Abschiedsparty für ihn gegeben. Doch dann wurde die Reise abgesagt. Die Entscheidung wurde weder in Kabul noch in Italien getroffen, sondern in Washington. Präsident Bush rief den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi an und stellte die Sicherheitsvorkehrungen in Frage; er warnte vor einem möglichen Anschlag auf das Leben des Königs. Washington bestand darauf, Italien müsse die Sicherheit des Königs in Kabul garantieren, und nicht etwa das afghanische Innenministerium. Als Termin wurde der April vorgesehen.“

Erzähler:

Der Vorgang könnte als unbedeutend übergangen werden, zumal der König inzwischen eingereist ist; er zeigte aber, darin ist dem englischen Berichterstatter zuzustimmen, welche politischen Beziehungen heute in Afghanistan existieren:

Zitat 22: Forts. Englischer Journalist

„In allen Fragen, ob groß ob klein, hat Washington das Sagen, wobei die westlichen Alliierten wenig und Karzai überhaupt nicht hinzugezogen werden. Der `Los Angeles Times´ zufolge waren die Führer der Interimsregierung `irritiert und fühlten sich bloßgestellt´. Sie `beschwerten sich, dass sie nichts zu sagen´ hätten, grummelten aber letztlich `lediglich privat über  Einmischung von außen´.“

Erzähler:

In der Tat: Die Arbeitsteilung im nach-talibanischen Afghanistan ist exemplarisch: Die USA, unterstützt durch wenige Spezialisten der europäischen Staaten, setzen den Krieg gegen die Reste der Taliban fort, die europäischen Truppen konzentrieren sich auf Polizeiaufgaben in Kabul selbst und die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Alltagsgütern. Die Tatsache, dass Fußballkaiser Franz Beckenbauer den deutschen Bundeskanzler auf seinem Besuch in Kabul, dem ersten eines westlichen Allianzmitgliedes, begleitete, war kein Zufall, sondern ist als Botschaft gedacht. Sport, Kultur, wirtschaftliche und infrastrukturelle Hilfsprogramme sollen den Willen Deutschlands und mit Deutschland auch der Europäischen Union dokumentieren, den langfristigen Aufbau regionaler Strukturen zu fördern und zu unterstützen. In welchem Maße dies tatsächlich geschieht, das steht auf einem anderen Blatt. So viel aber ist klar: Diese Konzeption folgt einem anderen Interesse als die der USA: Europa ist Teil der multipolaren Realität des euroasiatischen Kontinents, die es aktiv und kooperativ fördern und gestalten muss, um darin zu überleben. Ähnliches gilt für Russland, China, die süd-asiatischen und die muslimisch-orientalischen Staaten. Den USA dagegen reicht es, wie Zbigniew Brzezinki es nennt, die Pluralität des Raumes aufrechtzuerhalten, um ihn als Hegemonialmacht zu beherrschen. Über diese Differenz können auf Dauer keine gemeinsamen Deklarationen hinwegtäuschen. Eine Differenzierung der gegenwärtigen amerikanischen Dominanz in eine multipolare Kooperation verschiedener größerer Mächte ist nur eine Frage der Zeit. Zu hoffen ist, dass sie sich friedlich vollzieht.

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