Russland ist wieder da! Seit dem großen Finanzkrach von 1998 nimmt das Land keine Kredite mehr vom Internationalen Währungsfonds (IWF) entgegen; im April erklärte Russland seine Absicht, nunmehr an die Begleichung seiner Auslandschulden zu gehen; in der NATO möchte der russische Präsident Russland als 20stes Mitglied sehen, statt weiterhin den ungeliebten Partner des NATO-Rates abzugeben. Endlich, so Wladimir Putin, habe der Westen nicht nur die Notwendigkeit des Krieges in Tschetschenien erkannt, sondern daraus für seinen eigenen weltweiten Kampf gegen den Terrorismus gelernt.
Alles nur äußere Fassade, während sich die innere Krise weiter ins Land frisst? Außen Hui und innen Pfui? Nein, so ist es nicht: Wladimir Putin ist auch innenpolitisch nicht ohne Erfolge: Er hat im ersten Jahr seiner Präsidentschaft für eine wahre Reformflut gesorgt: eine Steuerreform, eine Gerichtsreform, die Ablösung des alten sowjetischen Arbeitsrechtes, die Verabschiedung der immer wieder verschobenen Reformen im Agrarbereich, ein Bündel von Verordnungen zur Entmonopolisierung, die Beschleunigung der lange geplanten Heeresreform. Alle Vorlagen, die von Putins Stab vorgelegt wurden, wurden von einer willigen Duma beschlossen; einen nennenswerten Widerstand dagegen gibt es nicht.
Zwar grummeln die Militärs, denen Wladimir Putins offene Flanke gegenüber der NATO und besonders gegenüber dem amerikanischen Aufmarsch in den zentralasiatischen GUS-Staaten nicht gefällt. Auch die Modernisierung der russischen Armee, sprich deren Verkleinerung und Umwandlung in eine hochtechnisierte Berufsarmee, geht vielen an das, was sie für ihre nationale Substanz halten. Eine praktikable Alternative hat jedoch niemand vorgebracht.
Ähnliches gilt für die russischen Unternehmer: Zwar mussten sich die offensichtlichsten Privatisierungs-Gewinnler wie Wladimir Gussinski, wie Boris Beresowski und andere Günstlinge des Perestroika-Vollstreckers Boris Jelzin aus der Politik zurückziehen; Wladimir Gussinski verlor dabei sein Medien-Imperium, Boris Beresowski seinen unmittelbaren Einfluss auf die Politik; Rem Wecherew von GASPROM musste die Alleinherrschaft über den Gas-Giganten abgeben. Wladimir Gussinski und Boris Beresowski verließen sogar das Land. Aber andere Oligarchen traten an ihre Stelle, die ebenso in der Tradition des Geldzarentums organisiert sind wie die Gussinskis und Beresowskis, etwa Abram Abramowitsch oder die Chefs der LUKOIL. Lew Wecherew musste den Konzern zudem nicht verlassen; er rückte nur vom Direktor auf den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden.
GASPROM ist nicht aufgelöst, es hat auch seine Politik der Beeinflussung des Kreml nicht geändert; das Gleiche gilt für die Oligarchen. Es ist Wladimir Putin lediglich – aber immerhin – gelungen, die alten Monopolisten ebenso wie die neuen Oligarchen der von ihm verfolgten Linie eines starken Russland zu verpflichten. Der Kitt, mit dem er das vollbrachte, war der Krieg in Tschetschenien. Das Vorgehen GASPROMS gegen den Gussinski-Sender NTW, danach das der LUKOIL gegen den NTW-Nachfolger TW-6, durch welches Wladimir Putin eine staatserhaltende Medienpolitik erzwang, sprechen für sich. Es hat sich nichts Prinzipielles geändert; das neue russische Unternehmertum ist lediglich dabei, sich mit dem Staat zu arrangieren.
Im russischen Verband der Unternehmer (MARP) wird die Politik Wladimir Putins begrüßt. Der Jelzinsche Liberalismus, der von einer Selbstregulierung des Marktes ausging, ist aus Sicht der Direktoren, ebenso wie aus jener der neuen Unternehmer absolut out: Mit Genugtuung hat man in Unternehmerkreisen Wladimir Putins Slogan von der „Diktatur der Gesetze“ und seine ersten Schritte in diese Richtung aufgenommen. Das betrifft zunächst einmal die politische Zentralisierung und hier wiederum erst einmal die Einsetzung der sieben landesweit und jeweils über die Grenzen mehrerer Gouvernements hinaus agierenden Administratoren, die dem Präsidenten direkt unterstellt sind. Sie sorgen, so Juri Bernadski, Direktor des MARP in Nowosibirsk, endlich wieder für einen einheitlichen Entwicklungsrahmen der vorher in alle Himmelsrichtungen auseinanderfallenden Regionen des Landes. „Putin“, so Juri Bernadski, „ist eine Hilfe für das russische Unternehmertum, das endlich wieder eine Grundlage für Entscheidungen erhält.“ Auch wenn die zentrale Gesetzgebung häufig vor Ort nicht umgesetzt werde, wie dies in Russland Tradition sei, häufig auch einfach die notwendigen Ausführungsbestimmungen fehlten, weise die von Präsident Putin eingeschlagene Linie doch in Richtung der Überwindung des – wie Bernadski es nennt – rechtsstaatlichen Nihilismus, der sich unter Boris Jelzin breitgemacht habe.
„Überwindung des rechtsfreien Raums“ ist die wichtigste Vokabel, die Russlands Unternehmer heute gebrauchen. Anders als manche Beobachter oder Beobachterinnen aus dem Westen erwarteten, sehen sich die lokalen Betriebsfürsten und Machthaber durch Wladimir Putins neue Ordnung keineswegs eingeengt, sondern befreit. Beispielhaft dafür ist die Versammlung der „Sibirischen Übereinkunft“, eines Gremiums halboffizieller Führungsgestalten aus Wirtschaft und Regionalpolitik: Diese inoffizielle Vereinigung sibirischer Industrieller und Politiker versteht die Wiederherstellung einer einheitlichen staatlichen Ordnung, wie Wladimir Putin sie anstrebt, als Voraussetzungen für die, wie es der Direktor der Organisation ausdrückt, „Globalisierung Sibiriens als Ressourcenraum.“ Mehr noch, von den vier Dutzend Vertretern der zwölf sibirischen Gebiete wird, ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst nur eine inoffizielle, wie sie sagen, aber nicht illegitime Funktion ausüben, nicht weniger, sondern mehr zentrale Regelung erwartet.
Wenn es Wladimir Putin gelänge, das Vertrauen in den Rechtsraum Russlands wiederherzustellen, der mit der Union zerfallen sei, so Viktor Altuchow, Sekretär der „Sibirischen Übereinkunft“, dann könne Russland in drei bis fünf Jahren seine Krise überwunden haben. Ähnliches kann man selbst in Tatarstan, Tschuwaschien oder in anderen autonomen Republiken hören, die doch im übrigen großen Wert auf ihre Eigenständigkeit legen. Auch die wenigen kleinen Unternehmer, die in der wilden Zeit der Jelzinschen Privatisierung nur mit Mühe Fuß fassen konnten, begrüßen Putins neue Ordnung. Sie gibt ihnen größere Existenzsicherheit.
Wladimir Putin selbst kommt solchen Vorstellungen entgegen, wenn er für die zweite Amtshälfte seiner Präsidentschaft weitere Maßnahmen ankündigt, etwa ein Anti-Korruptionsgesetz, Maßnahmen zur Zollvereinheitlichung, Neue Standardisierungs- und Urkundenrechte, Steuergesetze für den Kleinhandel und eine Reform der Stromversorgung, das heißt, deren Entstaatlichung und Umwandlung in zu bezahlende Leistung. Dies alles zöge, so pragmatisch, ja banal die Maßnahmen klingen, tiefgehende Strukturveränderungen nach sich.
Nicht alle Direktoren jedoch, nicht alle neuen Unternehmer teilen die offiziellen Positionen des Unternehmerverbandes oder solcher Vereinigungen wie der „Sibirischen Übereinkunft“ – ohne dass man sie deshalb gleich dem Lager der Sowjet-Veteranen zuschlagen müsste.
Niemand bezweifelt die relative Stabilisierung des Staatshaushaltes, die sich seit 1998 beobachten lässt, niemand bestreitet den gesetzgeberischen Fleiß der Duma. Vielen aber ist die Geschwindigkeit suspekt, mit der das geschieht. Andrej Betz beispielweise, Direktor der Maschinenfabrik „Stankosib“ in Nowosibirsk sieht durch Wladimir Putins Rezentralisierung vor allem neue Bürokraten „wie Pilze aus dem Boden“ schießen. Wladimir Putin, meint Direktor Betz, habe keine grundsätzlichen Neuerungen gebracht, er habe nur einfach Glück gehabt, Glück dass die Krise von 1998 das spekulative Kapital zerschlagen habe, so dass die heimische Industrie anstelle der nicht mehr bezahlbaren Importe mit eigenen Produkten einspringen musste und sich so ein Stück weit entwickelte.
Glück habe Putin auch, dass die Öl-Preise auf dem Weltmarkt so hoch seien, dass von den Einnahmen aus dem Verkauf dieser Ressourcen der Löwenanteil des Budgets getragen und die soziale Unzufriedenheit durch Zuwendungen an Rentner und Studenten und durch Zahlung eines Teils der in staatlichen Betrieben jahrelang ausstehenden Lohnzahlen ein bisschen aufgefangen werden konnte. Im Grunde aber habe Wladimir Putin nach wie vor kein Programm und die sozialen Leistungen des Staates seien langfristig ohne Wirkung: Die von der Programmkommission des Präsidentenapparates um German Gref vorgeschlagenen Reformen der Betriebs- und Kommunalstrukturen seien steckengeblieben, das bedeute, die alten betrieblich organisierten Versorgungsstrukturen griffen nicht mehr, die an ihrer Stelle deklarierten staatlichen funktionierten nicht. Die Erhöhung der Pensionen sei ideologisch gut für Putins Rating, faktisch aber lächerlich, da sie von der Inflation mehr als aufgefressen werde. Die angekündigten Reformen der Industrie und der großen Wirtschaftsstrukturen, der sog. natürlichen Monopole, wie die Entflechtung von GASPROM, des Energiekonzerns RAOUES, der Eisenbahn MSG usw., würden nicht durchgeführt; eine wirkliche Entwicklung der Industrie finde nicht statt. Russland lebe nach wie vor einfach nur von dem Speck, den es in der Sowjetzeit angelegt habe und von seinem natürlichen Reichtum.
Mit dieser Kritik befindet sich Andrej Betz in bekannter Gesellschaft. Ende April veröffentliche Poul M. Thompson, Repräsentant des IWF in Moskau, einen Aufsatz zu den Reform-Erwartungen, die der Fonds für die Zukunft Russlands hat. Darin werden die Ansätze Wladimir Putins freundlich gelobt, dann aber die „nach wie vor beispiellos aufdringliche Rolle“ der Bürokratie und des Staates als das Hauptproblem bezeichnet, das einer weiteren Entwicklung Russlands entgegenstehe. Nötig sei die Dezentralisierung der großen Monopole, die Liberalisierung des Handels, vor allem aber der Abbau staatlicher Subventionen, das heißt der Abbau von nicht effektiven Arbeitsplätzen bei besserer Bezahlung derer, die bleiben.
Hier werden die Grenzen der putinschen Modernisierungslinie sichtbar: Was Russlands Unternehmer, was auch der IWF als Schritt in die richtige Richtung loben, dem nun der zweite und dritte zu folgen habe, ist für die Mehrheit der Belegschaften in den Betrieben, für die Einwohnerschaft der Kommunen, für die Bevölkerung der Dörfer eine existenzielle Bedrohung: Die Steuerreform begünstig die Reichen, die Reform der Sozialversicherung führt in der Tat zur Auflösung der bisherigen betrieblichen Versorgungsstrukturen, ohne sie durch funktionierende staatliche Leistungen ersetzen zu können, die Reform der kommunalen Strukturen liquidiert die unentgeltlichen sozialen und infrastruktuellen Leistungen, die bisher aus der Einheit von Betrieb und kommunaler Struktur getragen wurden. Ab sofort soll Wohnung, Gas, Wasser, Strom, Müllabfuhr usw. usf. bezahlt werden – aber ohne, dass der Lohn dafür ausreicht. Die Privatisierung von Grund und Boden, nach den zahllosen vergeblichen Anläufen, die Boris Jelzin unternahm, nun auch von der Duma tatsächlich beschlossen, öffnet der agrarfremden Spekulation mit Grund und Boden die Tür – für die Landbevölkerung bringt sie nichts.
Die Neufassung des Arbeitsgesetzes schließlich, des alten sowjetischen „Kodex der Arbeit“ , kann, hört man die Gewerkschaften, letztlich nur das Ergebnis haben, der arbeitenden Bevölkerung bisher gewährte Versorgungsrechte zu beschneiden, die Gewerkschaften zu entmachten und durch Beschränkung der Rechte in den Betrieben die Legitimation für die Unterdrückung möglicher Proteste zu geben.
Dieser Kurs, darin sind sich Unternehmer wie gewerkschaftliche Seite einig, kann nur so lange ohne große soziale Proteste verfolgt werden, solange die Preise für Öl und auch die anderen natürlichen Reichtümer Russlands wie Gas, Wald, Edelmetalle usw. ihre hohe Bewertung auf dem Weltmarkt behalten. Das kann lange dauern – und Russland ist reich an Ressourcen; das ist die optimistische Variante. Was dagegen geschehen könnte, wenn die Preise purzeln, ist eine nicht zu beantwortende Frage.
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