In Putins Russland kein Platz mehr für Rechte?

Besetzung:

Sprecher, Übersetzer,  Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung mit Betonungsangabe wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:

Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen (in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

18 O-Töne – in zwei Einheiten nacheineinander (A und B) zum Verblenden auf dem Band

Bitte die Schlüsse der O-Töne weich abblenden

Den O-Ton B 2 (kirchlicher Gesang) sollten Sie, bitte, einmal vorher durchhören, bevor Sie die Kommentare setzen. Danke.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Länge: 29 977 Zeichen

In Putins Russland

kein Platz mehr für Rechte?

A 1 – O-Ton: Platz, Ansagen durchs Megafon                        1.55.17

Regie: Athmo kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

Moskau, Versammlung vor dem so genannten „Weißen Haus“. Hier hat Russlands jüngere Geschichte ihre Gedenkstätte. Der „Tag der Demokratie“ wird hier alljährlich begangen. Er gilt dem Gedenken an die Verhinderung des konservativen Putschversuches vom August 1991, die Boris Jelzin an die Macht brachte. Er gilt auch de Erinnerung an den Sündenfall der russischen Demokraten zwei Jahre später, als Boris Jelzin die Duma in eben demselben Haus zusammenschießen ließ. Mehrere provisorische Altäre, immer mit frischen Schleifen behängt, mahnen an die Opfer beider Ereignisse, die sich hier vermischen. Heute geht es um die zehnte Wiederkehr des demokratischen Aufbruchs. Aufgerufen hat die „Union rechter Kräfte“, die Vereinigung derer, sich immer noch Demokraten nennen, obwohl im Volksmund aus Demokraten längst „Dermokraten“ geworden sind.

Der Zulauf ist spärlich. Dreihundert, vielleicht vierhundert Menschen treffen sich auf dem weitläufigen Gelände. Einzelne, schon etwas vergilbte Porträts von Boris Jelzin tauchen auf, ebenso nicht mehr ganz frische Bilder der jungen Männer, die hier den Tod fanden. Die Erinnerungen sind längst zu Floskeln geronnen:

…Megafon

B 1 – O-Ton: Gruppe von Männern und Frauen                                      30.19

Regie: Verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

„A sewodnja…

Einen Feststag will dieser Mann begehen. „Die Revolution feiern“, fügt er hinzu. „Uns erholen“, meint die Frau, „damals hatten wir Angst, es war alles so schwer; jetzt ist es besser, besonders Putin, der Präsident. Das Volk hat sich beruhigt, ist normal geworden, er auch. Warum soll es für das Volk auch immer schlecht sein?“

… malawata potschemu ta.“

Erzähler:

Auch jüngere Leute haben sich eingefunden:

A 2 – O-Ton: Musik, Junge Leute vor dem „Weißen Haus“ 60.21

Regie: Verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:

„A sdjes proischodit

„Eine Feier für die Erneuerung der russischen Flagge wird hier begangen“, antwortet ein Jugendlicher auf die Frage, warum er und seine Freunde hierher gekommen seien. „Erinnerung ist wichtig“, meint ein anderer. Die Schule kann noch keine Fakten bringen, dort wird die Liebe zu Russland gelehrt.“ Ganz einig ist man sich aber nicht: „Jelzin brachte Demokratie“, meint ein Mädchen. „Anfangs ja, jetzt schon nicht mehr“, widerspricht ein Junge. Aber jeder könne doch frei entscheiden hier zu sein, wirft ein weiterer ein. „Putin ist in Ordnung; er ist ein guter Mann.“ Das finden sie alle, auch wenn Macht, ergänzt einer, immer irgendwie schlecht sei.

…dastatitschna charoschi.“

Erzähler:

Auch ein paar jugendlicher Glatzköpfe sind erschienen. Sie geben zunächst dasselbe Motiv für ihre Anwesenheit an wie die Altersgenossen um sie herum, allerdings einen Ton aggressiver:

A 3 – O-Ton: Skins                                                                19.32

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Erzähler:

Platzgeräusche, „Eta snaminatelnaja Data…

„Das ist ein wichtiges Datum unserer Geschichte: Da sind all diese überflüssigen Leute verschwunden, die Kommunisten usw. Jelzin kam an die Macht und mit ihm die Demokratie. Das ist ein Feststag für unser Land.“

..stranje iskatj.“

Erzähler:

Von Wladimir Putin allerdings halten sie nichts: Der sei doch halber Kommunist und führe keine anständigen, wie sie sagen, „nationalen“ Reformen durch. Gefragt, was sie unter „nationalen Reformen“ verstehen, antworten sie:

A 4 – O-Ton : Skins, Forts.                                                   32,24

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu takowa tschelowjek…

„Nun einen solchen Menschen mit nationalistischen Ansichten gibt es zurzeit nicht, der unser Land von all diesen Nicht-Russen säubern würde, den Tschetschenen usw. Aber wir sind National; wir lesen viel Nationales. Bald werden die Skins hier an der Macht sein. Dann wird alles gesäubert, dann gibt es hier nur noch die weiße Welt.“

tolka bjeli mir.“

A 5 – O-Ton: Skins Forts.                                                     1.20.39

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischen Übersetzer und Erzähler vorübergehend hochziehen, wieder unterlegen und am Schluss verblenden

Erzähler:

Zu dem Treffen der Demokraten kommen sie, “weil das hier“, sagen sie, „so oder so ihr Fest“ sei, ein Fest Russlands. In letzter Zeit seien sehr viele Skin-Gruppen in Moskau und in Russland entstanden, erzählen sie. Viele Zeitungen gebe es, viele Aktionen. „Zu Führers Geburtstag““, sagt einer. „gab´s eine Aktion gegen Nicht-Russen, die haben wir auf dem Markt platt gemacht. Bei uns läuft zurzeit alles ganz gut. Es gibt tausende von uns. In Moskau, außerhalb, egal, überall trifft man uns heute.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:

„Heute begreifen viele, dass unser Land Patrioten braucht und sie werden zu Skins“, fährt der Glatzkopf fort. Sein Nebenmann ergänzt:  „Wir kämpfen gegen diese ganzen Antifaschisten, Kommunisten, Nicht-Russen, auch gegen Skins, die es mit den Kommunisten halten.“ Wie? „Nun, mit dem den einfachsten Mittel“, grinsen sie und zeigen die Fäuste.

… borimsja.“

B 2 – O-Ton: Klerikale Gesangsgruppe                                     2.21.14

Regie: Verblenden mit O-Ton 6, unterlegen, allmählich kommen lassen, verschiedentlich zwischen den Kommentaren hochziehen, am Schluss verblenden

Erzähler:

Gesang….

Noch sind diese Worte nicht verklungen, da zieht eine Gruppe in farbigen klerikalen Gewändern auf den Platz. Sie wirbt zwar nicht mit den Fäusten, aber ebenso eindrücklich für Patriotismus:

Regie: Zwischendurch hochziehen:

Erzähler:

„Oh, heiliges Russland!“ „Oh, goldenes Russland!“ „Oh, rechtgläubiges Russland!“ ruft der Vorsänger. „Oh, heiliges Russland! Oh, rechtgläubiges Russland! Oh, gesegnetes Russland!“ wiederholt der Chor.

Regie: Zwischendurch hochziehen

Und auch im Folgenden immer wieder hochziehen

Erzähler:

Die Gespräche auf dem Platz ersterben. Die Menschen bestaunen den malerischen Auftritt und lauschen gebannt, wie ein Hochruf dem anderen folgt:

„Heil der Zarin des Reiches!“ ruft der Solist.

„Heil! Heil! Heil!“ antwortet der Chor.

„Heil der Wiedergeburt von Russlands Größe am Weißen Hause im August 91!“ – wieder: „Heil! Heil! Heil!“

Weitere Sprüche sind:

„Heil der Mutter unseres Herrn!“

„Heil der Mutter des neuen heiligen Russland!“

„Heil unserer ewigen Unbezwinglichkeit!“

„Heil der Mutter der neuen Menschheit!“

Regie: Zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Der Gesang beschwört wieder und wieder:

„Oh, Russlands, das herrschende! Oh, russisches Reich!

….Gesang

Regie: Unter dem Erzähler verblenden

Erzähler:

Gut eine halbe Stunde dauert die Vorführung. Niemand schreitet ein. Im Gegenteil, der Platz füllt sich mit Neugierigen. Ein Mann mittleren Alters meint:

A 6 –  O-Ton: Mann                                                              50.36

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

„Dlja menja

„Für mich ist das neu. Das hätte ich gar nicht für möglich gehalten. Das findet ja sonst in der Kirche statt. Ich finde das angenehm. Ich sehe junge, ehrliche Menschen, die eine neue Spiritualität haben. Und sie haben viel Leute angezogen. Es scheint, als ob die Kirche sich jetzt auch wandelt: Man geht ins Volk, man bezeugt Gott so wie es sein soll. Das spricht sogar junge Leute an, die hier stehen geblieben sind. Die Kirche wird der neue Rahmen für Russland. Das ist sehr gut. Gebe Gott, dass sich das weiter entwickelt. Ich sympathisiere damit. Das ist sehr gut.“

otschen charascho

Erzähler:

In einer Gruppe von Passantinnen erklärt eine Frau:

A 7 – O-Ton: Passantin                                                            57.29

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen, unter Erzähler allmählich abblenden, unterlegen

Übersetzerin:

Na skolka ja ponila

„Soweit ich verstehe ist das eine Sekte von Altgläubigen. Da ich nicht in die Kirche gehe, liegt mir das fern, aber die Kostüme haben mir gefallen.“

Erzähler:

Der Nationalismus der Gruppe stört sie nicht, ebenso wenig wie den Mann vor ihr. „Wieso? Russland ist nun mal ein Imperium!“, meint sie. Auch wenn es jetzt eine Demokratie sei und manche Schwäche habe, so bleibe es doch ein großes Reich. „Es ist ein riesiges Land“, erklärt die Frau, ,,und ein riesiges Potential, in dem kluge und nachdenkliche Menschen Leben.“ Es scheine wohl so, lacht sie dann, dass sie eine Patriotin sei.

…swoij strani.“

Erzähler:

Damit gibt sie die Stimmung wieder, die den Platz erfasst hat –Bekenntnisse zur Demokratie als patriotische Nostalgie! Die Veranstalter zeigen sich wenig beunruhigt. Die Gruppe sei nicht eingeladen worden, ist auf Nachfragen von einem der Organisatoren zu erfahren, öffentlich aber distanziert man sich nicht.

Nur einer aus der Reihe der vielen Redner und Rednerinnen findet kritische Worte. Es ist Jefgeni Proschtschetschin. Er ist ebenfalls Mitglied der „Union rechter Kräfte“, aber als Vorsitzender des „Moskauer Antifaschistischen Komitees“ und  als Abgeordneter der Moskauer Stadt-Duma von 1995 bis 1999,  wo er den Vorsitz über die „Kommission gegen Extremismus“ führte, steht er den patriotischen Tendenzen seiner eigenen Partei kritisch gegenüber. Der nostalgischen Stimmung angepasst, aber mahnend erklärt er daher:

A 8 – O-Ton: Jewgeni Proschtschetschin                             2.00.05,

Chef des Moskauer antifaschistischen Zentrums

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Daragije drusja

„Liebe Freunde! Russische Bürger, die ihr hierher gekommen seid! Wir alle sind glückliche Menschen, ungeachtet der Mühen unseres schwierigen Lebens. Wieso sind wir glücklich? Weil wir einen der dramatischsten Augenblicke der Geschichte erleben durften. Wir sahen das, was die unsere Nachkommen einst die große Augustrevolution nennen werden. Und wir haben sie mit eigenen Händen bewirkt. Aber ich möchte doch etwas anmerken: Einer meiner Vorredner schwärmte eben davon, wie gut es sei, dass die früheren Putschisten heute die Duma akzeptieren. Ich möchte doch aus Erfahrung sagen, dass wir heute noch nicht so weit sind, dass das ganze Volk, milde gesagt, einheitlich hinter einem neuen Russland, hinter der Demokratie stünde. Ja, zwar arbeiten frühere Putschisten heute in der Duma, zwar leitet Herr Lukianow zum Beispiel die Gesetzgebende Versammlung, aber die Duma hat es immer noch nicht geschafft, die ihr vorliegenden antifaschistische Gesetze zu beschließen. Das weiß ich genau, denn ich habe die Entwürfe ausgearbeitet. Wir sind noch weit von demokratischen Verhältnissen entfernt; das wird noch hundert Jahre dauern. Demokratie und Patriotismus sind nicht dasselbe! Da muss man nicht naiv sein! Allerdings, auch wenn wir jetzt wenige sind, ist das nichts Schlimmes: Ein Großer Fluss beginnt mit kleinen Rinnsalen und der steter Tropfen höhlt den Stein. Und wir werden uns hier immer wieder versammeln, damit Russland sich Schritt für Schritt, unter Schwierigkeiten, unter Widerständen, trotz allem der Demokratie nähert.“

….prodwigalis.“

Erzähler:

Jefgeni Proschtschetschin weiß, wovon er spricht. Seit Mitte der achtziger  – damals noch als Dissident unter marginalisierten Bedingungen und elenden Lebensumständen – hat er sich dem Kampf gegen Faschismus und Extremismus in Russland verschrieben. Er gründete das „Antifaschistische Komitee Moskau“, für das er seit 1995 in die städtische Duma einzog, wo er die „Kommission zur Überwachung von Extremismus“ leitete. Mehr als eine Handvoll dickleibige Broschüren gab die Kommission in den Jahren von 1996 bis 1999 heraus, in denen sämtliche rechten und nationalistischen Gruppen aufgelistet wurden, die Ende der 80er und Anfang der neunziger wie Pilze aus dem Boden sprossen. Über 30 Gruppierungen zählt der erste Bericht von 1995 auf. Die größte davon war die militante „Russische nationale Einheit“, RNE des Alexander Barkaschow. Sie selbst gab ihre Mitgliederzahlen mit 100.000 an, Das Komitee schätzte sie auf 10.000. Zu den Dumawahlen 1999 wollte sich die RNE unter dem Namen „Spas“ Rettung sogar an den Wahlen beteiligen, was ihr in letzter Minute aus formalen Gründen untersagt wurde. Im letzten Bericht, den die Extremismus-Kommission 1999 herausbrachte, hatte sich die Zahl der Gruppen verdoppelt, was allerdings weniger auf zahlenmäßiges Wachstum, als auf steigende ideologische Tätigkeit und damit Differenzierung zwischen den Gruppen zurückzuführen war. Auch hatte das „Komitee“ sich gezwungen gesehen, der Kirche ein gesondertes Kapitel zu widmen. 1999 verlor Jewgeni Proschtschetschin sein Mandat in der Moskauer Duma. Seitdem hängen nicht nur die von ihm ausgearbeiteten Antifaschistischen Gesetze fest, es erschienen seitdem auch keine weiteren Berichte mehr über die Entwicklung der rechten Szene. Die Situation hat sich seit 1999, das heißt, seit dem Antreten von Wladimir Putin, entschieden geändert. Aber wie –  das zu beschreiben, fällt Jewgeni Proschtschetschin schwer.

So kommt er zu der paradoxen Aussage:

A 9 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                                      2.12..10

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Tut, otschen sloschni…

„Schwierige Frage: Einerseits hat sich überhaupt nichts geändert – außer der Auswechslung einiger Köpfe der Administration. Es ist so eine Stagnation, so eine Flaute, nicht wesentlich Neues. Es ist nichts von dem eingetreten, was befürchtet wurde, kein halber Faschismus, nein, nichts dergleichen. Spannungen gibt es natürlich, aber es ist alles langweiliger, flacher geworden, es gibt weniger politische Positionen. Die Duma hat sich in ein Organ verwandelt, das die Entscheidungen der Administration abstempelt. Die Presse wurde stromlinienförmig. Natürlich missfällt mir sehr die Wieder-Einführung der stalinschen, breschnewschen Hymne. Sehr missfallen hat mir das Getue rund um den verschlossenen Wagen des nord-koreanischen Diktators, für dessen Sonderzug man die Menschen vom Bahnhof gejagt hat. So etwas hat es noch nie gegeben. Weiter die große Anzahl der KGBler und FSBler, also von  Geheimdienstlern im Regierungsapparat. Das ist alles sehr spannungsträchtig und unangenehm. Außerdem der endlose Krieg in Tschetschenien. Positiv ist allein, dass nach der Krise von 1998 die Menschen mehr einheimische Produkte kaufen. Die hohen Preise für Öl und Nickel geben uns eine Basis. Das macht die Hälfte des russischen Budgets aus. Darauf kann er soziale Probleme ein bisschen ausgleichen. Der Bevölkerung gefällt natürlich, dass der alte Jelzin weg ist; der war verbraucht. Der Neue ist jung, er kämpft, er ist für Ordnung, er greift hart durch. Deshalb herrscht jetzt diese politische Stille, dieser Stau. Was geschieht, wenn die Preise plötzlich fallen, das weiß niemand. Wir sind gegen nichts versichert! Der Stau Putins kann nicht ewig dauern, aber es gibt viele, denen das gefällt.“

… kamu to nrawitsja.“

Erzähler:

Unter diesen Umständen, so Jefgeni weiter, habe sich auch die extreme Rechte sehr verändert:

A 10 – O-Ton: Proschtschetschin, Fortsetzung                           1.24.14

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Tosche apjat otschen…

„Das ist auch wieder erstaunlich: Praktisch – obwohl das schon mehr bei Jelzin geschehen ist als bei Putin – ist die mächtige neo-faschistische Bewegung RNE zusammengebrochen. In den letzten zwei, drei Jahren hört man von ihr fast nichts. Es gab eine Spaltung, an der ich nicht unbeteiligt war, natürlich indirekt. Wir initiierten damals eine Austrittsbewegung aus der RNE, eine Organisation von jugendlichen Barkaschowzis, ziemlich viele. Sie eröffneten ihren eigenen Sowjet, dann gaben sie eine eigene Zeitung heraus, traten in dem Medien auf usw. Es gab Konflikte, die Spaltung, 1998, und sie schlossen Barkaschow selbst aus. Er nannte seine Gruppe von da an, Gardia Barkaschowa, die Wache Barkaschows. Sie beschäftigten sich mit inneren Auseinandersetzungen. Nach der Wahl 1999 wurde es dann ganz still: Vor vier Jahren, war ganz Moskau mit Klebezetteln der RNE, 1999 auch noch mit denen der SPAS, überschwemmt, Barkaschowzis standen Wache, sie traten auf; jetzt gibt es praktisch keine. Das ist gut. Das ist die eine Seite.“

odnoje stranje.“

Erzähler:

Auf der anderen Seite, so Jewgeni Proschtschetschin weiter,  gebe es aber auch sehr belastende Symptome:

A 11 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                             40.23

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu,  drogoi stranje jest…

„So wächst in letzter Zeit die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit gewaltig an, und allen voran leider hier in unserem Moskau, in unserer Hauptstadt. Es wirken die Gesetze Bürgermeister Luschkows, diese idiotischen Registrationen und Kontrollen, gegen die ich seinerzeit gestimmt habe. Die teilen die Menschen auf in weiße und dunkle, unterscheiden sie nach der Nase. Das ist für eine zivilisierte Gesellschaft natürlich überhaupt nicht akzeptabel. So fängt man keinen Terroristen und ängstigt auch keinen Verbrecher. Das ist nur zusätzliches Taschengeld für die Miliz, die sich schmieren lässt, verlorenes Geld.“

…otrisannije dengi.“

Erzähler:

Schon unter Jelzin sei antifaschistische Arbeit kein Vergnügen gewesen, fährt Jewgeni Proschtschetschin fort; immerhin aber sei die Duma-Kommission, sei selbst das „Komitee“ zu Anhörungen gerufen worden. Jetzt aber habe sich das Blatt vollkommen gewendet:

A 12 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                              1.29.20

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Satrudnik organisatii…

„So berichtet ein Mitarbeiter unserer Organisation aus der Duma – wo er inkognito tätig ist – dass dort eine ganze Reihe von Abgeordneten die Fraktion der Schirinowski-Partei, ebenso wie die der kommunistischen Partei benutzen, um über deren Wege kostenlos Containerweise Literatur zu verteilen. Sie vertreiben sie über ganz Russland, wesentlich in Armeeabteilungen. Kürzlich ging eine riesige Sendung zu Truppen in Tadschikistan. Es handelt sich um antisemitische, nationalistische und faschistische Schriften, fragwürdige Literatur, natürlich Schriften des klassischen Faschismus vom Typ der so genannten „Protokolle der Weisen von Zion“, „Mein Kampf“ in russischer Sprache usw. Außerdem verkauft man sehr viele faschistische Lieder, Videokassetten, rassistische und faschistische Propagandafilme, auch künstlerischer Art wie „Jud süß“ – das alles wird praktisch ohne Einschränkung und straflos verteilt oder verkauft. Diesen Mist zu vertreiben ist leider profitabel geworden.  Früher musste man das ohne Gewinn abgeben, heute nimmt diese Literatur einen ökonomischen Platz ein. Die Menschen bezahlen für dieses fragwürdige Vergnügen. Das ist eine sehr schlechte, beunruhigende Tendenz.

…triwolschnaja tendenzia.“

Erzähler:

Leider, so Jefgeni Proschtschtschin mit einem Seitenblick auf den patriotischen Auftritt der klerikalen Gruppe vor dem „Weißem Haus“ hätten sich auch in der Kirche die nationalistischen Tendenzen verstärkt:

A 13 – O-Ton: Kirche                                                            1.50.22

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu, russkaja prawaslawnaja…

„Schon generell ist die russische orthodoxe Kirche Reformen sehr leider feindlich gesinnt: Ihre negative Haltung dem Papst gegenüber, ihre Feindschaft zu Kiew. Überdies genießen sie große Unterstützung von Seiten des Staates; unter Putin noch mehr als vorher. Das ist wieder diese Einheit von Staat und Kirche, anders als im Westen, wo Religion unabhängig ist. Und trotzdem hat man noch Angst vor Konkurrenz anderer Religionen, die man mit allen Mitteln zu übervorteilen trachtet. So entstehen große Widersprüche zwischen dem Anspruch der Kirche auf Heiligkeit und ihrer Unterstützung durch Geld, Polizei, den Apparat. Der Klerus macht dunkle Geschäfte mit Alkohol und Tabak. Die Leute geben Geld für gute Zwecke, aber keiner weiß wohin es geht. Auch innerhalb der Kirche gibt keine Reformen: Die Kirchensprache ist immer noch Altslawisch, was praktisch niemand versteht.  – Das alles schafft keine Autorität; das schafft keinen neuen Glauben – es bleibt ein ideologisches Vakuum. Deshalb kann jede beliebige extremistische Ideologie diesen Platz ausfüllen. Die Ideologie hat sich nach dem Ende der Sowjetunion ja keineswegs gleich der Orthodoxie zugewandt. Keineswegs! Die Menschen wissen nichts davon! Viele haben ihre eigenen Vorstellungen, glauben an Zauberer und Hexen, Das ist extrem gefährlich, weil extreme, marginale Ideologien äußerst schnell und sehr  massenhafte Verbreitung finden können, extrem gefährlich.“

…krainje apasna.“

Erzähler:

Zwei Linien lassen sich, so Jefgeni Proschtschtschin, vor dem Hintergrund dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der Rechten beobachten: Die eine zeige sich in den Skins, die neuerdings durch Moskau und andere Städte marodierten. Sie nehmen die fremdenfeindlichen Parolen Juri Luschkows, Wladimir Putins, des tschetschenischen Krieges und einzelner Gouverneure zum Anlass, über nicht-russische Minderheiten herzufallen. Von der Miliz werden sie als „Fußballfans“ heruntergespielt. Passanten berichten nach solchen Überfällen aber immer wieder, dass sie Abzeichen der RNE auf den Kutten dieser Fans gesehen haben. Bei einem  der letzten Vorfälle dieser Art überfiel eine Horde von ca. 300 solcher „Fans“ mit Knüppeln und Schlageisen bewaffnet drei Vorortmärkte systematisch nacheinander, wo sie auf die vornehmlich kaukasischen Händler einprügelten. Ergebnis: Zwei Tote und über zwanzig Verletzte. Bei den Überfällen am 20. April wurde ein Tschetschene erstochen.

Die Sprüche, bald werde ganz Russland unter der Herrschaft der Skins stehen, verweist Jefgeni Proschtschtschin ins Reich kranker Gehirne. Für offenen Terror und für offene faschistische Sprüche sei die russische Bevölkerung nach ihren Erfahrungen mit Stalin und Hitler nicht zu haben. Die Gefahr eines neuerlichen Umsturzes will der Chef des Moskauer antifaschistischen Komitees jedoch nicht ausschließen:

A 14 – Ton: Jefgeni. Forts.                                                   52.19

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Jesli, tak skaschim, formje..

„In der Form der Barkaschowzis – natürlich nicht. Aber von Seiten der Gesellschaft, auf Grundlage der Xenophobie, da besteht schon so eine Gefahr. Sie wird kaum die offene Form á la Barkaschow annehmen. Das war ja auch in Deutschland anfangs so, aber dann gab es die Nürnberger Gesetze, dann das, dann das und so ging es Schritt für Schritt in Richtung des Genozids. Im russischen Staat ist prinzipiell alles möglich. Ich würde mich da nicht festlegen wollen. In all den Aspekten der Wirtschaft, der sozialen Probleme, den Arbeitsverhältnissen, in allen Fragen des Extremismus herrscht eben Ruhe vor dem Sturm.“

…tische pjered burje.“

Erzähler:

Die eigentliche Gefahr, so Jefgeni Proschtschtschin weiter, gehe ja nicht von den Militanten, sondern von der anderen Linie aus, von den neuen Rechten, die sich inzwischen ins Establishment integriert hätten, wo sie als ideologischer Impulsgeber der neo-imperialen Renaissance Russlands wirkten. Als exemplarisch dafür nennt er die Karriere Alexander Dugins. Dugin, seinem Selbstverständnis nach „Geopolitiker“, der Russlands Mission darin sieht, Euroasien unter russischer Führung zu vereinen, um die Vorherrschaft der USA zu brechen, galt zu Zeiten der Perestroika als national-bolschewistischer Extremist. Nur ein halbes Jahr nach Antritt Präsident Putins gründete er mit offizieller Unterstützung eine „Euroasiatische Bewegung“. Alexander Dugins aktuelle Rolle skizziert Jefgeni Proschtschtschin mit den Worten:

A 15 – O-Ton: Jefgeni Proschtschtschin, Forts.                     1.30.26

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu, ja dumaju…

„Nun ich denke, dass die Lage Dugins ziemlich stabil ist, ziemlich gut für ihn, er ist faktisch zum Teil des Establishments geworden. Kürzlich hat er in der Stadt Rostow seinen Doktor gemacht, es gibt da auch noch einen Boris Reschwik, mit dem er zusammenarbeitet, ein Typ mit rein faschistischer Haltung. Gleichzeitig war er wichtigster Ratgeber für Selesnjow, den Duma-Präsidenten der Kommunistischen Partei. In der Beliebtheitsskala russischer Internetseiten steht Dugin auf dem vierten Platz. Dugin ist also ein Mensch, der stark auf die Gesellschaft einwirkt. Und dass man einen Menschen, der Himmlers SS für eine humanitäre Organisation hält, derart akzeptiert, dass er bei dem Duma-Präsidenten Selesjnow arbeiten kann, dass er einer der Ideologen der „Bewegung Russland“ gewesen ist, , dass man ihn oft ins Fernsehen einlädt, das heißt nur, dass das allgemeine Niveau von Nationalismus und  Fremdenfeindlichkeit soweit angewachsen ist, dass für einen solchen Menschen Nachfrage besteht. Was noch vor zehn Jahren peinlich war auszusprechen, das wird jetzt als wissenschaftliches Modell akzeptiert, das ist sehr schlecht.“

otschen plocha.“

Erzähler:

Im Büro der neu gegründeten „Euroasiatischen Bewegung“ wird sofort klar, was Antifaschisten und Demokraten beunruhigt. Alexander Dugin empfängt nicht mehr, wie noch vor der Wahl Wladimir Putins  im Hinterzimmer eines dubiosen Plattenladens, sondern in einem funkelnagelneuen, computerisierten und nach neuestem Chic durchgestylten Appartement in einem teuren Geschäftshaus. Beim Treffen lässt er sich dieses mal damit entschuldigen, dass er überraschend zu einem Termin ins Ministerium berufen worden sei. Statt seiner empfangen zwei junge Burschen den ausländischen Besucher. Einer stellt sich als Chef der neu gegründeten Zeitung „Euroasien“, der andere als „Koordinator der Bewegung“ vor. Alexander Dugins Chefredakteur war zuvor Chef vom Dienst bei Alexander Prochanow, dem Herausgeber der bekanntesten national-bolschewistischen Zeitung Russlands, „Sawtra“, morgen, bei dem auch Alexander Dugin lange Zeit schrieb. Unter dem Namen „Djen“, der Tag,  stand sie 1993 in vorderster Reihe des Widerstandes, den Boris Jelzin mit Panzern im „Weißen Haus“ zusammenschießen ließ. Jetzt hat der junge Mann vom, wie er sagt „ewiggestrigen Prochanow“ zum „modernen Dugin“ gewechselt, weil der über ein Konzept verfüge, das in der Lage sei, die Gesellschaft tatsächlich zu verändern.

Am weißen Konferenztisch ihres Empfangssaales erläutern die beiden Aktivisten die Erfolge ihrer Bewegung:

A 16 – O-Ton: im Büro der „Euroasiatischen Bewegung“  1.30.24

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Dweschennije prosta rastjot…

„Die Bewegung wächst einfach wie auf einer Versteigerung, ständig neue Gruppen, ständig neue Leute aus der intellektuellen Elite. Ein halbes Jahr nach der Gründung haben wir schon in allen Regionen Gruppen. Zweitens wachsen die Initiativen. Da war zunächst der Kongress “Drohung des Islam oder Islam in der Bedrohung?“, der großes öffentliches Interesse fand – in der Presse, im TV, im Internet. Es gab ernsthafte Beratungen mit der Administration.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:

„Die islamische Konferenz“, ergänzt der andere junge Mann, haben wir noch aus eigenen Kräften organisiert. Inzwischen gibt es über zehn Vorschläge für weitere Konferenzen zu anderen Themen aus den Regionen. Initiatoren sind schon nicht mehr wir, sondern örtliche Initiativen und Administrationen. Wir werden nur noch um Teilnahme und konzeptionelle Gestaltung gebeten, also dass Alexander Dugin oder Leute seines Vertrauens dort Vorträge halten. Das letzte Beispiel ist eine Konferenz, die wir mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche planen. Es geht um die Rolle, die die russisch-orthodoxe Kirche für Russland spielen muss. Das ist auch für den Präsidenten von großer Bedeutung.“

… president.“

Erzähler:

Ein Blick auf den Trägerkreis der Islam-Konferenz macht klar, wie weit Alexander Dugin und seine Leute es bereits gebracht haben: Da stehen die Administration des Präsidenten, die Staatsduma und die Zentrale geistliche Führung des Islam in Russland einträchtig untereinander; als Mitglieder des Organisationskomitees lässt sich neben dem Vorsitzenden der Duma, Selesnjow; neben dem obersten Mufti der russischen Muslims, Scheich ul islam Talgat Tadschuddin und anderen auch der Metropolit der Moskauer orthodoxen Kirche, Kyrill nennen. Wladimir Putin wird als Schutzpatron der Konferenz mit Aussagen zur euroasiatischen Orientierung seiner Politik zitiert. Als Ergebnis präsentierte die Konferenz einen Plan zur Teilung Tschetscheniens, welcher der Administration empfohlen wird. In ihm ist die dort lebende Bevölkerung nur noch imperiale Verschiebemasse.

Letzte Höhepunkte in der Karriere Alexander Dugins sind die Erklärungen, mit denen er sich in Russland und per Internet in die Auseinandersetzung zur Globalisierung einmischt. Er stimmt ihren Kritikern zu und fordert sie auf, sich gemeinsam mit ihm und der „Euroasiatischen Bewegung“ gegen die Führungs-Ansprüche der USA und für eine neue multipolare Welt einzusetzen.

Möglich ist dies vor dem Hintergrund, dass die russische Bevölkerung in den letzten Jahren tatsächlich Opfer neo-liberaler Experimente wurde, dass Russland sich tatsächlich zwischen Asien und Europa definiert, dass Wladimir Putin, anders als zuvor Michail Gorbatschow und auch noch Boris Jelzin, tatsächlich eine Politik zwischen Asien und Europa zu entwickeln versucht. Unter Ausnutzung dieser Tatsachen hat Alexander Dugins Propaganda alle Aussichten, zu einem ideologischen Treibsatz zu werden, in dem der nationalistische Explosivstoff in der berechtigten Kritik an der Globalisierung und dem friedlichen Eintreten für eine gerechtere neue Weltordnung versteckt wird.

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