Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise
Ulaanbaator ist eine Reise wert. Das gilt insbesondere, wenn sich Mongolisten aus aller Welt dort treffen, um zu beraten, wie es mit der Modernisierung des Nomadentums weitergehen kann und welche Beziehung das nomadische Leben zukünftig neben oder im Prozess der Globalisierung der Zivilisation, sprich der Welt des industriellen Fortschritts einnehmen kann oder soll. In dieser Frage ist man, wie aus den Beiträgen und Gesprächen der über 400 Gäste des Kongresses hervorgeht, keineswegs einer Meinung. Die einen zitieren den englischen Staatstheoretiker Thoynbee, der dem Nomadentum zwar eine hohe Bedeutung für die Geschichte der Menschheit beimisst, der aber schon für das letzte Jahrhundert die Zeit gekommen sah, da nomadische Kultur generell in die moderne Zivilisation aufgehen werde.
Kurz gesagt: Die Zeit des Nomadisierens sei vorbei, so Thoynbee; was noch an nomadischen Kulturen existierte, allen voran die zentralasiatischen, im Besonderen die mongolische, betrachtete er als auslaufendes Modell, das der entstehenden städtisch-industriellen Zivilisation weichen müsse.
Töne a la Thoynbee hört man heute keineswegs nur von den Gästen aus dem Westen, aus Russland oder aus den Reihen der zahlreichen chinesischen Delegation. Auch von mongolischen Wissenschaftlern werden solche Positionen vertreten: Die Mongolei, fordern sie, müsse die nomadische Art der Viehwirtschaft durch systematisches Ranching ablösen, wenn sie auf dem globalen Markt bestehen und nicht zwischen den großen Nachbarn China und Russland als Rohstoff- oder Land-Reservoir verbraucht werden wolle.
Eine Modernisierung dieser Art entspräche im Übrigen auch den Vorgaben des IWF, der Weltbank und verschiedner Entwicklungsbanken, die über die Mongolei dasselbe Raster einer „effektiven Reformpolitik“ legen wie sie es über Russland oder irgendein anderes „Entwicklungsland“ gelegt haben – ungeachtet der Tatsache, ob die zugrundegelegten Erfolgsraster auf das jeweilige Land anwnedbar sind oder nicht. Mag man das in Russland noch für strittig halten – hier in der Mongolei ist offensichtlich, daß nicht nur nach-sowjetische, sondern insbesondere die bedingungen des nomadischen Lebens absolut nicht die Vorgaben des IWF erfüllen. „Aber“, so versuchte eine Teilnehmerin des Kongresses aus Holland die Politik des IWF zu erklären, „was ökonomisch effektiv ist, muß nicht immer sozial richtig sein.“ Unklar blieb, ob das als Kritik oder als Rechtfertigung des IWF zu verstehen sei.
Diesen Vertretern einer schroffen Modernisierung stehen naturgemäß ebenso schroffe Traditionalisten gegenüber, die nomadisches Leben, nachdem es durch die sowjetische Modernisierung und Zwangs-Urbanisierung bereits von 80% auf 30% der Bevölkerung reduziert war, heute in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollen. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage, wo die ursprüngliche Reinheit beginnt. Einige Mongolen gehen bis zu den Hunnen zurück. Andere belassen es bei den von Tschingis Chan überlieferten Regeln. Hier trifft sich ethnischer Traditionalismus mit einem neuen nationalen mongolischen Selbstbewusstsein: Ein ganzer Tag des siebentägigen Kongresses war dem offiziellen Gedenken an den 840 Geburtstag Chingis Chans gewidmet. Staatspräsident Nazagiln Bagabandi höchst persönlich und eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten der Mongolei hielten an diesem Tag lange Reden zu Ehren des archaischen Reichsgründers, der neben der nomadischen Kultur das zweite identitätsstiftende Element für die heutige Mongolei abgibt.
Vertreter traditionalistischer Positionen sind nicht selten schon an ihrer Kleidung zu erkennen. In prächtigen Fest-Dels, den praktischen Umhängemänteln der Nomaden, in malerischen Spitzhüten und Stiefeln beleben sie – unter ihnen nicht wenige westliche Wahlnomaden – die ansonsten eher europäisch-konservative Kleiderordnung des Kongresses.
Seriöse Positionen, will sagen, zukunftsfähige Positionen, liegen zwischen diesen Polen. Die Mehrheit der Teilnehmer/innen des Kongresses ist auf dieser mittleren Linie zu finden: Etwas Drittes müsse entstehen, heißt es, einfach deshalb, weil es nicht anders gehe, weil die natürlichen Bedingungen keine Landwirtschaft des Siedlungstyps zuließen,
weil die nomadische Kultur für die mongolische Bevölkerung lebenserhaltend sei, weil die Mongolei zwischen den Siedler-Imperien China und Russland gar keine andere Wahl habe, als seine Andersartigkeit zu erhalten, wenn es nicht untergehen wolle, weil die Mongolei nicht an die Spitze der Globalisierung spurten könne, aber auch nicht in die Steinzeit zurückfallen dürfe.
Bleibt die Frage: Wie?
Nach zehn Jahren Schock-Privatisierung zeigen sich in der Mongolei ähnliche Phänomene wie in Russland: Aus dem Überschwang einer übertriebenen Privatisierung, die zu erheblichen sozialen Ungleichgewichten geführt, vor allem den Besitz an Tieren so ungleich verteilt hat, daß eine geregelte Beweidung der nicht-privatisierten und nach allgemeiner Übereinstimmung auch nicht privatisierbaren Steppen nicht möglich ist, setzt jetzt eine Etappe der Rückbesinnung auf kollektive Formen der Bewirtschaftung ein. Ansätze von Kooperativen bilden sich, in denen sich drei, vier oder fünf Hirten-Familien zusammentun, um die Steppen gemeinsam zu beweiden und die Weiterverarbeitung der tierischen Produkte und deren Verkauf sowie die Anschaffung der dafür notwendigen neuen Technik, Infrastruktur und sogar Ausbildung gemeinsam zu organisieren. Diese Entwicklung beginnt erst. Hier liegt die Perspektive einer Modernisierung des nomadischen Lebens ohne Liquidierung der nomadischen Kultur.
Ulaanbaator 7.8.2002
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