Tschtschenien- Rußlands Krieg gegen sich selbst.

Pressevortext:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der angedrohten vollkommenen  Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Je länger der Krieg dauert, um so deutlicher, daß dieser Krieg nur weiteren Terrorismus hervorbringen kann.

Kai Ehlers über Hintergründe des Krieges in Rußland.

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

***

Erzähler:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der vollkommenen Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Ihn macht die Regierung für die Serie von Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser verantwortlich, die im Spätsommer 1999 hunderte von Toten forderten. Die ca. 250.000 Frauen, Kinder und Greise, die Tschetschenien seitdem verlassen haben, sind nach Moskauer Sprachregelung keine Flüchtlinge, sondern „zeitweilig Umgesiedelte.“

Medien und sonstige Öffentlichkeit halten sich an diese Sprachregelung. Man will den Krieg nicht als Krieg zur Kenntnis nehmen, sondern möchte ihn als Wiederherstellung von Normalität begreifen. Die Insignien dieser Normalität sind das Erste, was einem auffällt, wenn man dieser Tage nach Moskau kommt:

O-Ton 1: flotte Musik                                                                              1,11

Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen, verblenden mit O-Ton 2

Erzähler:

Musik….

„Wir heben ab, mein Sonnenfreund“, jubelt diese Sängerin. Sie ist eine von vielen Stars, die beim großen Konzert „Jugend für Vaterland“ auftreten, das zu bester Sendezeit im Fernsehen für die Politik des Moskauer Bürgermeisters Luschkoff wirbt. „Steh auf, fang an, alles wird gut!“ versprechen weitere Stars. Rockkonzerte sind auch live Alltag in dieser Stadt. Ein Titel Gruppe provoziert mit dem Titel: „Eijeijei eij, töten wir einen Neger!“. Der Song ist verboten, wurde aber der Hit des Sommers. „Doch sind wir natürlich keine Rassisten!“, witzeln die Veranstalter, „das ist doch alles nur Spaß“.

O-Ton 2: Musik auf dem Pressefest

Regie: verblenden, hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:

Musik…                                                                                                     ,125

Ein Urbild alltäglichster Normalität vermittelt auch das große Pressefest auf dem immer noch so genannten „WDNCHA„; dechiffriert und übersetzt heißt das: „Ausstellung für volkswirtschaftliche Errungenschaften der UdSSR“. Was Rang oder auch nur einen eigenen Namen in der Medienbranche hat, ist dort mit einem eigenen Stand vertreten. Pluralistische Geschäftigkeit wird hier demonstriert. Kein Wort vom Krieg, selbst im Beiprogramm nicht, das den Stand der Pressefreiheit in Rußland kritisch beleuchtet. Am Stand der „Komsomolskaja Prawda“, gewissermaßen Moskaus Bildzeitung, wird mit Aktualität geworben, mit T-Shirts, mit einer Anti-Aidskampagne, mit einer Videobox, in der man sich selbst singen hören kann. Nur vom Krieg ist auch hier nicht die Rede sowenig wie in der Zeitung selbst. Gleich nebenan, beim „Kommerssant“, der als kritisches Blatt gilt, kommentiert dessen junger Vertreter das „Paßregime“, das Bürgermeister Luschkoff nach den Bombenanschlägen im Sommer in Moskau einführte und in dessen Folge ca. 80.000 Menschen, vor allem Kaukasier und andere „Schwarze“, wie die Kaukasier und Zentralsiaten in Rußland heißen, die Stadt verlassen mußten:

O-Ton 3: Junger Mann am Stand von „Kommerssant“                      0,46

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wy snajetje, wobsche…

„Wissen Sie, das ist einfach nicht angenehm: Wenn ich mit dem Hund auf die Straße gehe oder mein Mädchen nach Hause bringe, dann kommen Polizisten, umstellen mich, verlangen Papiere. Oft sind sie nicht nüchtern und das Ganze geht in so einem brutalen Ton vor sich – das ist natürlich nicht angenehm. Aber wie auch immer – ich habe mich daran gewöhnt, meinen Paß bei mir zu tragen. Ich halte mich für jemand, der die Gesetze beachtet und dann gibt es keine Schwierigkeiten. Also fühle ich mich ganz ruhig.“

… spakoina wschuwstwuju.“

Erzähler:

Moskauer Analytiker betrachten den Krieg gar als politischen Nebenschauplatz. So etwa Andrej  Kolganoff, Ökonom, der das „Modell Moskau“, also die verblüffende wirtschaftliche Blüte Moskaus studiert, die Juri Luschkoff zur Zeit als Wahlschlager auf die russische Provinzz exportieren möchte. Auf die Frage, wie der Krieg das Modell beeinflusse, antwortet der Wirtschaftswissenschaftler ohne zu zögern:

O-Ton 4: Andrej Kolganoff                                                                     0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Dumaju, ni kak…

„Ich denke: Überhaupt nicht. Im Kern hängen diese Dinge nicht zusammen. Das Einzige ist: Der Krieg in Tschetschenien gibt dem Staat die Möglichkeit, seine Einflußnahme auf die Wirtschaft zu verstärken. Der Krieg schafft Gelegenheiten für Modelle, die mit der Stärkung staatlicher Regulierung und ebenso des staatlichen Paternalismus zusammenhängen. Aber ich glaube nicht, daß das ohne den Krieg anders wäre.“

… nje bila by.“

Erzähler:

Mit spöttischem Unterton seziert Josseff Diskin die Lage. Er ist Generaldirektor der Finanzkorporation „Wostok“, Osten, außerdem politischer Experte des Föderationssowjets:

O-Ton 5: Josseff Diskin                                                                           1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Na moi sljad …

„Meiner Ansicht nach hat sich die Situation nur für Journalisten geändert; für politische Analytiker dagegen ist seit dem Bankenkrach `98 nichts Entscheidendes anders:  Nach wie vor fällt der Rubel leicht, ist aber einigermaßen stabil. Im Ergebnis finden Auslandsimporte nur schwer Absatz und der heimische Markt kann sich weiter entwickeln. Auch in der Politik hat sich nichts Dramatisches verändert: Nach wie vor wirken die gleichen Mechanismen der Macht wie zu Zeiten Primakoffs, nach wie vor ist die Politik von der Auseinandersetzung zwischen nationalen Monopolen und regionalen Eliten bestimmt; dahinter stehen die Oligarchen; Das einzig Neue ist der Krieg – aber der kommt nicht unerwartet und kann auch nicht ewig dauern. Er ist für Jelzin der einzige Weg, seine Macht, bzw. das Regime Jelzins ohne Jelzin zu erhalten.“

…Jelzina bes Jelzin.“

Erzähler:

In vollkommenem Kontrast zu dieser Art der Normalität steht die Medienpolitik der Regierung, stehen die Auftritte der führenden Politiker, die sich fast darin überschlagen, den Krieg populär zu machen. Die Medien, vor allem die Fernsehanstalten spreachen fast nur noch mit einer Stimme, obwohl doch die zu verschiedenen Clans gehörenden Sender sich in Fragen, welche die Wahlen betreffen, gleichzeitig erbitterte Schlammschlachten liefern. Die Stimme, in der sie sprechen, ist die des Armeehauptquartiers. Es gibt, ganz nach dem Muster des NATO-Hauptquartier im Kosovokrieg, tägliche Lageberichte heraus. Darin werden die eigenen Verluste und Opfer systematisch verschwiegen:

O-Ton 6: TV, Erkennungsmelodie, Trompete, Kommentatorin           1,32

Regie: O-Ton bis zur Kommentatorin frei stehen lassen, danach abblenden, unterlegen, zwischendurch mehrere Mal (jeweils zum Einsatz der männlichen Stimme) hochziehen, abblenden, am Schluß (zur männlichen Stimme) hochziehen und frei stehen lassen.

Erzähler:

Star aller Nachrichtensendungen  ist Wladimir Putin, gestern in Wladiwostok, morgen im Krjeml, heute im Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten. In knappen Sätzen, energischen Sätzen wirbt er um Zustimmung für den von der Regierung erklärten antiterroristischen Feldzug:

Regie: bei 0,35 zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Außenminsier Sergej Iwanoff weist vor allem die Kritik des Westens zurück. Er warnt vor Rückfällen in die Muster des kalten Krieges.

Regie: bei 1,00 (zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Die „Aktion“ versichert Ministerpräsident Wladimir Putin immer wieder, sei nicht gegen die Bevölkerung gerichtet, sondern gegen Banditen. Sie trage keinerlei ethnischen oder religiösen Charakter.

… meschdunarodnowo konflikta

Erzähler

Die Medien halten sich an Wladimir Putins Vorgaben. Das unterscheidet die Situation vom ersten tschetschenischen Krieg in den Jahren 1994, 1995 und 1996. Anders als vor drei Jahren ergreifen diesesmal auch Militärs das Wort in der Öffentlichkeit. Eine Legende vom Dolchstoß der Regierung, die der Generalität mit einem faulen Frieden in den Rücken gefallen sei, hat sich entwickelt. Prominentestes Opfer dieser Stimmung ist Ex-General Alexander Ljebed, der 1996 den Waffenstillstand erwirkte. Nicht ein Tag vergeht, daß nicht einer der kommandierenden Generale im Fernsehen versicherte, diesesmal werde man das Land nicht wieder räumen, sondern für immer bleiben. Wenn „die Politik“ anders entscheide, werde man demissionieren. Auch bei politischen Veranstaltungen ergreifen Militärs das Wort, so etwa General Rodionow beim traditionellen Festumzug der Kommunisten zum Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917:

O-Ton 7: General Rodionow                                                                   1,42

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Uwaschajemi tawarischtschi…

„Werte Genossen und Freunde. Heute sind die Verhältnisse im Lande härter und gefährlicher als 1941 vor Moskau und 1942 vor Stalingrad. Damals war klar: Es gab die faschistische Aggression. Eine Abwehrfront wurde aufgebaut; da stand das Hinterland;  da stand die Armee; man mußte nur die Lage richtig erkennen und das Volk um die Partei zusammenschließen. Heute ist auch Krieg; aber es ist ein Krieg anderen Typs: Wir fühlen ihn nicht und wir sehen ihn nicht. Er soll uns alle zerstören. Doch der Widerstand gegen die Aggression wächst und der Aggressor fühlt es und sieht es. Schauen Sie nur, wie der Westen sich aufregt, seit er sieht, daß wir in der Lage sind, dem Chaos im südlichen Kaukasus ein Ende zu setzen! Sehen Sie, was man für einen Druck auf uns ausübt! Es würde dem Westen passen, wenn diese blutige Spur sich über den Kaukasus und von da über ganz Rußland ausbreiten würde und man es dann nach dem Beispiel Jugoslawiens ´befreien´ könnte.“

Erzähler:

„Es gibt nur einen Ausweg“, schließt der General. „Alle Patrioten müssen sich um die KPRF versammeln, um die Aggression gemeinsam abzuwenden. Unsere Sache ist richtig! Der Sieg wird unser sein!“

…Hurra! Beifall!“

Erzähler:

Aber nicht nur die Kommunisten stehen in der Kriegsfrage zum Kurs der Regierung. Fest zu den erklärten Kriegszielen stehen auch die ehemaligen liberalen Reformer, die gegen den ersten tschetschenischen Krieg 1995/96 noch entschieden Front gemacht hatten. Auf einer Pressekonferenz erklärte Jegor Gaidar, als Initiator der Schocktherapie, an der er bis heute nichts Falsches erkennen kann, nach wie vor Leitfigur der Liberalen:

O-Ton 8: Jegor Gaidar                                                                            1,40

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja abratilby wnimannije…

„Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den grundlegenden Unterschied lenken zwischen der Situation, die sich in Jugoslawien ergeben hatte, und der, die sich heute in Tschetschenien ergibt. In Jugoslawien wurden Menschenrechte verletzt. Das hat die Weltgemeinschaft zu Recht veranlaßt, Druck auf Jugoslawien auszuüben – aber Jugolsawien ist nicht über einen souveränen Staat hergefallen. Der NATO-Angriff war deshalb die ernsthafteste Verletzung des Völkerrechtes.

In Tschetschenien , 1999, unternahmen große Verbände von Truppen einen direkten Überfall auf russisches Territorium, auf eine Bevölkerung, die absolut kein Verlangen hatte, für sich einen extremistischen, wahabitischen islamischen Staat aufzubauen. In dieser Situation war es Aufgabe jeder verantwortungsbewußten russischen Macht, von der niemand sich hätte drücken können, dem Überfall entgegenzutreten, die territoriale Unversehrheit wieder herzustellen und eine Wiederholung der Überfälle nicht zuzulassen. “

Erzähler:

Opfer unter der friedlichen Bevölkerung ebenso wie bei den russischen Truppen, setzt Gaidar auf Nachfrage hinzu, müßten natürlich so weit wie möglich vermieden werden. Daran gebe es keine Zweifel. … sojusniki.“ Saal

Erzähler:

Die Wirklichkeit sieht auch bei den Liberalen anders aus. Ausgerechnet Jegor Gaidars stärkster Verbündeter war es, Anatoly Tschubajs, ehemals Vollstrecker der Jelzinschen Privatisierungspolitik, heute Direktor des allrussischen Energieverbundes „RAOUS„, welcher der tschetschenischen Republik in seiner Eigenschaft als Direktor dieses Konzerns gleich zu Beginn des russischen Feldzuges die Strom- und Gaslieferungen sperren ließ. Davon betroffen waren selbstverständlich nicht in erster Linie die tschetschenischen Kämpfer, sondern die zivile Bevölkerung. Diese Aktion liegt vollkommen auf der Linie der russischen Generalität, welche die Bevölkerung veranlassen will, sich von den Kämpfern zu distanzieren, um diese dann vernichten zu können. Als Grigorij Jawlinski, im Westen beliebter Chef der gemäßigten Reformergruppe „Jabloko“ nach anfänglicher Zustimmung zu dem Krieg dann Ende November aus der Front der Vaterlandsverteidiger ausscherte, indem er erklärte, nun seien die Bedingungen erreicht, unter denen man zu Verhandlungen übergehen könne, wurde er von den „ROAUS„-Chef Tschubajs öffentlich als Verräter bezichtigt. Der Positionswechsel der Liberalen zeigt am krassessten, welcher Wandel sich in Rußland gegenüber Tschetschenien seit 1996 vollzogen hat.

Jefim Berschin, bei Abschluß des Waffenstillstands 1996 als Berichterstatter in der unmittelbaren Umgebung Alexander Ljebeds tätig, danach Initiator einer Selbsthilfegruppe „Journalisten an heißen Punkten“, erklärt diese Veränderung so:

O-Ton 9: Jefim Berschin                                                                         1,30

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Wa perwich eta…

„Erstens ist da, von der Qualität her, im Vergleich zu 1995/96 etwas ganz anders. Zweitens gibt es unheimlich viele Faktoren, die der Westen vermutlich nicht versteht. Ich bin 1995/96 auch gegen den Krieg gewesen. Damals wirkte noch der Impuls von 1991, mit dem Jelzin selbst an die Macht kam. Man sah die Tschetschenen stellvertretend für alle, die Jelzin beim Wort nahmen, sich so viel Freiheit zu nehmen, wie nötig. Darüberhinaus war der Krieg kein Krieg. Er war eine banditische Zerstückelung, ein mafiotischer Excess, ein verantwortungsloser Mord an der zivilen Bevölkerung ebenso wie an den russischen Wehrpflichtigen, die man zu Tausenden krepieren ließ, ein Verbrechen, was Du willst, nur kein Krieg, Der Waffenstillstand, den Ljebed aushandelte, war damals, das kann ich bezeugen, der einzig mögliche Schritt, diesen Wahnsinn zu stoppen. Aber dann, nach Abschluß des Waffenstillstands hat Tschetschenien sich in eine Enklave verwandelt, in der es keine Macht gab.“

…gossudarstvenni wlast                                                       .“

Erzähler:

Schuld daran, so Jefim Berschin, sei nicht zuletzt die russische Regierung, die Tschetschenien im Niemandsland zwischen Zugehörigkeit zur russischen Föderation und Selbstständigkeit allein gelassen habe. So sei das Land wirtschaftlichem, rechtlichem und moralischem Chaos versunken.

Gleich 1996 hätte man die Frage der Selbstständigkeit entscheiden müssen, meint Jefim, fügt allerdings gleich hinzu, er bezweifle auch, ob das wirklich etwas geändert hätte. Zuviele objektive Probleme gebe es, über die verfehlte Politik des Zentrums hinaus, die auf diesem Stückchen Land in den letzten Jahren zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengekommen wären:

Von den 1,5 Millionen Tschetschenen, die vor dem ersten Krieg in der kleinen Republik lebten, war die Hälfte nach dem Ende der Kämpfe tot oder abgewandert. Noch einmal die Hälfte verließ das Land bis zum Beginn des jetzigen Krieges. Zurück blieb eine Bevölkerung, die sich um eine Handvoll Warlords herum organisieren mußte, um zu überleben. Die finanzierten ihren Lebensunterhalt, sofern sie nicht von ausländischen Geldgebern ausgehalten wurden, aus Menschenhandel, illegalen Geschäften und einfachem Raub: Über 1000 Menschen wurden seit Ende 1966 entführt; für ihre Freilassung wurden Lösegelder in Millionenhöhe erpreßt. Einige der Entführten mußten auch mit dem Leben, viele mit ihrer Gesundheit bezahlen, gut 500 werden noch unter zum Teil bestialischen Umständen gefangengehalten. Die aus Azerbeidschan herüberführenden Öl-Pipelines wurden systematisch illegal angezapft, das Öl in ungezählten Minidestillen zu Benzin verarbeitet und schwarz verschoben. Das Land entwickelte sich zum schwarzen Loch des Rauschgifthandels und der Geldwäsche. Zunehmend gingen Banden von tschtschenischem Terrain aus dazu über, das Vieh der Nachbarn zu stehlen. Die heranwachsende Generation blieb unter diesen Umständen ohne Schul- und Berufsausbildung, ihr männlicher Teil wurde stattdessen sie in den Verbänden der Warlords zu Kämpfern herangebildet. Ergänzt durch Freiwillige aus anderen Krisengebieten  – Vorderer Orient, Balkan, Zentralasien – wuchs so in den letzten drei Jahren eine schlagkräftige Guerillatruppe heran. Angaben zur Zahl der so herangebildeten Kämpfer schwanken zwischen 20- 25.000 Mann. Sie werden durch Gelder aus den Raubkassen – also durch Menschenhandel, illegale Ölverarbeitung, Drogenhandel usw. – aber auch durch private Gönner aus dem Ausland finanziert. Der Einfall von Teilen dieser Truppen in die Nachbarrepublik Dagestan, die sich anders als Tschetschenien als fester Bestandteil der russischen Föderation versteht, kam einer Aufkündigung des Waffenstillstand zwischen russsicher Föderation und Tschetschenien gleich. Die Erklärung Bassajews, Chattabs und anderer Führer dieser Truppen, in Tschtschenien und Dagestan einen islamischen Staat im Kaukasus aufbauen zu wollen, verstand die Regierung in Moskau als Angriff auf das Territorium der russischen Föderation.

Diese Situation, so Jefim, habe die russische Regierung, nachdem sie die Entwicklung seit Jahren habe schleifen lassen, schließlich zum Handeln gezwungen. Jefims Begründung dafür kommt heftig:

O-Ton 10: Jefim Berschin, Fortsetzung                                                 1,00

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Rossije bolsche nje…

„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“

..schitj nje mogut.“

Erzähler:

Viktor Makarow, Leiter der psychotherapeutischen Fakultät der russischen medizinischen Akademie, auch Präsident der Berufsliga der Psychotherapeuten und Vizepräsident der europäischen Assoziation der Psychotherapie, 1995/6 noch ein scharfer Gegner des ersten tschetschenischen Krieges, stimmt dieser Diagnose zu. Unter beruflichen Gesichtspunkten fügt er jedoch  hinzu:

O-Ton 11: Viktor Makarow                                                                    1,15

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„My nje dolschni

„Wir dürfen nicht vergessen, daß es in unserem Land – im Unterschied zu Europa – bis zum kommunistischen Regime und auch währenddessen noch Sklaverei gab. Eine große Anzahl von Menschen bauten diese großen Gebäude, die man hierzulande sieht. Sie waren ja letztlich Sklaven, Menschen ohne jegliche Rechte. Noch in meiner eigenen Generation hatten wir diese Tradition. Und was in Tschetschenien jetzt vorgeht – und nicht nur dort, nein, direkt in Moskau werden Menschen entführt! Es mehrere Fälle. Dann schafft man sie nach Tschetschenien und fordert Lösegeld. Glatter Menschenhandel! Das wuchert alles auch über die Grenzen der tschetschenischen Republik hinaus. Sie können ja in ihrem eigenen Innern nicht existieren, weil sie nichts produzieren, außer dem Benzin, das sie gestohlenem Öl gewinnen. Deshalb müssen sie sich von außen Ressourcen beschaffen.“

… potreblat ressours

Erzähler:

Die Motive für die Zustimmung zum Krieg charakterisiert Makaroff mit den Worten:

O-Ton 12: Viktor Makarow, Forts.

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ludi potjerali pokoi…

„Die Menschen haben ihr Vertrauen verloren. Sie fürchten für ihr Leben, für das Leben ihrer Angehörigen, für den Verlust ihres privaten Vermögens. Das letzte, was in unserem Land geblieben war, ist das Haus, das Haus eines Menschen, wohin er gehen, die Tür hinter sich schließen kann, wo er ganz zu hause ist und wo ihn niemand anfaßt. Jetzt kommt diese Angst auf, die auch die Ängste von früher, aus der sowjetischen Zeit wieder mobilisiert, daß Terroristen kommen können, das Haus in die Lust sprengen und wenn der Mensch schon nicht stirbt, dann verliert er mindestens sein Vermögen. Für die Mehrheit der Menschen ist es heute nicht möglich, das Vermögen wieder zu ersetzen. Also solche Spannungen und Ängste haben die Menschen heute.“

…strach u ludej.“

Erzähler:

Das unwiderlegbarste Zeugnis darüber, wie sich nicht nur Rußland, sondern auch Tschetschenien seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1996 gewandelt hat, legt Alexej Simonow ab. Als Chef der „Stiftung zum Schutze von Glasnost, also der Stiftung zur Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit, war er 1995/6 einer der schärfsten Kritiker des Krieges in Tschetschenien. Der Fond veröffentlichte laufende Informationen über die Behinderung der Berichterstattung durch russische Behörden, er gab eine Dokumentation dazu heraus, die er auch im Ausland vorstellte, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort. Jetzt erklärt Alexej Simonow nach ausführlicher eigener Schilderung dessen, was auch er das „schwarze Loch“ Tschetschenien, nennt:

O-Ton 13: Alexej Simonow                                                                      0,55

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„I na konjez treti…

„Und schließlich das Dritte: 1994/1995 gab es noch ein anderes Tschetschenien. Anders in dem Sinne, daß man wirklich noch glauben konnte, daß Tschetschenien für seine Freiheit kämpft. Nachdem Tschetschenien begann, hauptsächlich von Geiseln und von Raub zu leben und das zum Dauerzustand wurde, wurde ich einer von denen, die dafür eintraten, daß Journalisten nicht nach Tschetschenien reisen. Das kann man sich nicht antun, das ist schon keine Information mehr, daß ist ja schon eine Kasteieung. Man muß sich keinen Kasteieungen mehr unterziehen, wo alles schon mehr oder weniger klar ist. Kurz gesagt, sie haben auch das Vertrauen der journalistischen Öffenntlichkeit verloren.“

obschestwa tosche.“

Erzähler:

Rußland verteidigt seine Existenz gegen die drohende wirtschaftliche, politische und moralische Zersetzung des Landes – das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem Ministerpräsident Putin die Zustimmung der großen Mehrheit der politischen Klasse und der übrigen Bevölkerung für sich verbuchen kann.

Widerspruchslos ist die Zustimmung trotz allem nicht. Die Kritiken fallen allerdings sehr unterschiedlich aus. Manche werden nur im privaten Kreise geäußert. Eine dieser Kritiken kommt von Nina Wuss. Frau Wuss, früher Kulturorganisatorin im Haus der Schriftsteller, Ende der achtziger Jahre begeisterte Parteigängerin Michail Gorbatschoffs, dann Boris Jelzins, ist heute Rentnerin. Frau Wuss möchte den Politikern, besonders dem Vorsitzenden der als demokratisch geltenden Bewegung „Jabloko“, Grigorij Jawlinski, aber auch dem von ihr verehrten Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff nur allzugern glauben, daß in Tschetschenien nur das stattfinde, was sie, wie die Regierung, eine „antiterroristische Säuberung“ nennen. Aber Frau Wuss ist verwirrt:

O-Ton 14: Nina Wuss                                                                              1,32

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja dumaju schto…

„Ich glaube nicht, daß sie für den Krieg sind. Wie fing denn alles an!? Das Ziel war doch, die Terroristen zu vernichten! Von denen haben sich dort auf dem Territorium von Tschetschenien allzu viele versammelt. Und doch kann ich unsere Regierung nicht mehr so richtig verstehen: Einerseits sprechen sie von Tschetschenien als eigenem Staat, andererseits soll es ein Teil von Rußland sein. Wenn das Terroristen sind, die von außerhalb kommen, dann muß man sie vernichten. In dem Punkt bin ich einverstanden. Aber so global, mit diesen Mitteln!? Luftwaffe, Panzer, mit dieser modernen Technik!? Punktgenau soll die sein, aber es werden doch trotzdem Häuser getroffen, es sterben doch Menschen! Und wo sind die Terroristen? Will man die so treffen? Zum erstenmal kann ich einfach nichts mehr verstehen. Unsere Politiker sagen, daß es kein Krieg ist, aber wie soll man das denn nennen? Für mich ist das Krieg! Terroristen erledigt man doch mit Spezialeinsätzen! Überall und immer. Aber dies hier ist Krieg.“

…a sdjes waina.“

Erzähler:

Einen anderen, vor allem einen öffentlich hörbaren Ton schlagen die sogenannten „Menschenrechts-Gruppen“ an. Das ist die Gruppe „Memorial“, die unmittelbar Hilfe für die Flüchtlinge leistet; das sind die unter dem Dach der „Helsinki-Gruppen“ vereinigten Initiativen, die auch mit Presse-Konferenzen an die Öffentlichkeit treten. Ihre Präsidentin, Frau Ludmilla Aleksejewa, freiberuflich bei „radio liberty“ tätig, bewundert zwar Ministerpräsident Putins Energie, sie wäre sogar einverstanden, wenn es ihm gelänge, dem in Rußland aufkommenden Terrorismus das Handwerk zu legen, die Ergebnisse seiner Politik aber sind für sie keine antiteroristische Aktion, sondern Staatsterrorismus, Krieg und schlimmer noch:

O-Ton 15: Ludmilla Aleksejewa                                                              1,20 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

Eta nje prosta…

„Das ist nicht nur Krieg, das ist eine humanitäre Katastrophe von demselben Ausmaß wie im Kosowo: dieselben unglücklichen Flüchtlinge, dieselben Zerstörungen. Nur da sagte man, es gehe um die Menschenrechte, hier geht es gegen den Terrorismus. Die Ziele sind immer sehr hohe. Ich habe aber den Eindruck, daß die Macht den Schock, den die schrecklichen Bombenanschläge hinterließen, für ihre Zwecke nutzte. Es ist wohl so, daß  Tschetschenien so ein Verbrechernest geworden ist, das ausgeräuchert werden muß; möglich, daß alles als antiterroristische Aktion begann, aber das Entscheidende, was ich rundherum sehe, ist die Wiederauferstehung des imperialen Syndroms.“

…imperskowo syndroma.“

Erzähler:

Wenn man schon den Terror bekämpfen wolle, dann müsse das nicht nur in Tschetschenien geschehen, setzt Frau Aleksejewa fort:

O-Ton 16: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                       0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Wy snaetje u nas…

„Wissen Sie, hier vor Moskau gibt es die Stadt Solnzow. Dort gibt es die berüchtigte Solnzower Gruppe. Die Stadt ist bekannt als Verbrechernest. Jeder Moskauer weiß um dies Gruppe, um die Morde und was immer. Wenn man nach diesen Prinzipien vorgehen wollte, die Putin für Tschtschenien angibt, dann müßte man Solnzowo mit Tanks umstellen, müßte es bombardieren. Das ist ja eine kriminelle Stadt!! Und von diesen Orten gibt es bei uns reichlich. Warum ausgerechnet Tschetschenien?“                                                                                                                                                                     …potschemu Tschtschnja?“

Erzähler:

Eine ganze Handvoll Namen banditischer Gruppen zählt Frau Aleksejewa auf, darunter große finanzwirtschaftliche Kooperationen wie die „Uralmasch“, einen der zu Sowjetzeiten führenden Maschinenbau-Komplexe, heute ein verrufenes mafiotisches Konglomerat, und andere Konzerne der sog. Oligarchen und der offenen Mafia. Die Erklärung der Regierung, daß an Tschetschenien ein Exempel statuiert werden müsse, um damit die Ordnung für ganz Rußland wiederherzustellen, veranlaßt Frau Aleksejewa zu der Feststellung:

O-Ton 17: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                        0,20

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja nje mago skasatj…

„Ich kann nicht sagen, daß alles nur Lüge ist, was da vorgebracht wird. Aber ich wiederhole noch einmal und immer wieder, daß selbst Leute, die so sprechen, bewußt oder unbewußt deutlich machen¸ daß für sie das Gefühl der Revanche sehr wichtig ist.“

…wschuwstwa rewanchsch.“

Erzähler:

Prinzipielle Kritik kommt vom Rand der Gesellschaft, aus intellektuellen Kreisen, die zur Zeit nicht an der Macht beteiligt sind. Einer dieser freischwebenden Intellektuellen ist Wadim Damjee, Soziologe an der Akademie der Wissenschaften. Sein Arbeitsgebiet ist die Totalitarismusforschung, sein politischer Standort ist der organisierte Anarchismus. In Rußland meint das heute einen eher am Westen orientieren linken Radikaldemokratismus:

Wadim Damjee sieht Rußland am Rande einer Diktatur, deren Natur er, in deutscher Sprache, als „Faust in einem ganz weichen Handschuh“ beschreibt:

O-Ton 18: Wadim Damjee 1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„De fakto, strana…

„Formal bleiben alle demokratischen Rechte erhalten, aber praktisch werden diese Rechte immer weiter eingeschränkt und das Land verwandelt sich in einen Polizeistaat. In den äußersten Regionen läuft ein echter inperialistischer Krieg. Die Presse ist formal frei, aber alle politischen Strömungen, nahezu alle politischen Veröffentlichungen, vor allem das Fernsehen unterstützen den Krieg. Im Kaukasus herrscht faktisch eine Militärdiktatur. Die Armee tut, was sie will. Sie ist die Macht. Die zivile Macht in Inguschetien, erst recht in Tschetschenien existiert für sie nicht. Sie konfisziert, was sie will. In Moskau selbst herrscht ein echtes Polizeiregime. Zugereiste müssen sich registrieren lassen, nur Bestechungsgelder retten sie vor der Ausweisung. Faktisch ist das Polizeiregime  auf wüster Korruption aufgebaut. Diese Verbindung zwischen beidem, das ist tödlich, das muß man sagen.“                                                                                                              … ubistwa, nada skasatj.“

Erzähler:

Noch schlimmer, so Damjee, seien womöglich die moralischen Folgen der Tatsache, daß bis heute nicht klar sei, wer die Bomben in den Moskauer Wohnhäusern gelegt habe, und daß vor allem darüberhinaus nicht ausgeschlossen werden könne, daß es die Regierung selbst gewesen sein könne:

O-Ton 19: Damjee, Forts.                                                                       1,31

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Snatschit, offizialni…

„Also, die offizielle Version von der tschetschenischen Spur ist bis heute nicht belegt. Angeblich war der Anschlag eine Antwort auf die Ereignisse in Dagestan, also die Bombardierung von Dörfern durch russisches Militär. Nach Daten derselben Innenbehörde, die das behauptet, verlangt die ganze Organisation – Planung, Absprachen, Materialbeschaffung, Lagerung usw. – jedoch wenigstens ein paar Monate.  Das heißt, die ganze Geschichte wurde mit Sicherheit lange vor Dagestan eingeleitet. Zweitens: Die genannten Verdächtigen wurden trotz allen Aufwandes nicht gefunden, mehr noch, ihre Identität ist unklar; außerdem ist unter ihnen nicht ein Tschetschene. Schließlich kommt noch der Rasaner Vorfall hinzu: Dort legten Mitarbeiter des Inlandgeheimdienstes eine Bombe, angeblich, um zu sehen, wie die Bewohner reagieren würden. Die Bewohner entdecken die Bombe rechtzeitig und informierten die Polizei, welche den Sprengsatz entschärfte. Es erhebt sich die Frage: Und wenn sie die Bombe nicht rechtzeitig entdeckt hätten – wäre es dann zur Explosion gekommen oder nicht?“

ili njet.“

Erzähler:

Beweisen läßt sich nichts. Die Indizienkette jedoch, die Kritiker wie Vadim Damjee zu der Frage vorlegen, wem dies alles nütze, sind erdrückend. Nutznießer ist allein Präsident Boris Jelzin und seine Umgebung, denen der Krieg die Möglichkeit verschaffte, die Diskussion um das korrupte Regime für eine Weile in den Hintergrund zu drängen und ihre Macht vorübergehend zu festigen. Lange kann das nicht dauern, darüber sind sich alle einig. Spätestens wenn die Zahl der Opfer ansteigt und nicht mehr zu verheimlichen sein wird, kann die Stimmung im Lande umschlagen. Was dann geschieht, ist offen. Wadim Damjee fürchtet das Schlimmste. Einen russischen Pinochet hält er für möglich. Diese Befürchtung teilt er mit vielen anderen Intellektuellen der reformlinken,  radikaldemokratischen und anarchistischen politischen Szene.

O-Ton 20: Megaphon                                                                              1,20

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

Unerwartete Kritik, die tiefe Risse im Lager derer zeigt, die sich heute als patriotischen Front gebärden, war auch auf der Kundgebung der KPRF am 7. November zu hören. Ausgerechnet ein Agitator der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“, einer stalinistischen Splittergruppe, erweist sich als Gegner des Krieges in Tschetschenien. Auf die Frage, was er von der Politik Putins in dieser Frage halte, antwortet er:

Regie: O-Ton bei Antwort des Mannes: „Ana obnaschajet…“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Nu ka wiona…

„Er bringt den Idiotismus des herrschenden Regimes zu Tage und die Menschen verstehen besser: Demokraten wählen, das heißt: Raub, internationaler Banditismus, Terrorismus, Attentate und so weiter. Je länger die Demokraten an der Macht bleiben, um so schlimmer. In den zehn Jahren, die sie an der Macht sind, ist der Terrorismus unglaublich angewachsen. Deshalb zeigt dieser Krieg, was für ein Regime wir heute haben.  Die Soldaten, die dort gegen das Volk eingesetzt werden, sollten die Gewehre umdrehen gegen das Regime. Sie bringen Menschen um, die ihnen nichts getan haben. Die Tschetschenen haben ihren Austritt aus der Föderation erklärt, als ihnen Jelzin sagte, sie sollten sich so viel Souveränität nehmen, wie sie brauchten. Aber dann hat man Grosny und alles andere bombardiert. Das ist reiner Bürgerkrieg. Den muß man stoppen. Er begann 1989 und setzt sich bis heute fort.“  …sewodnischowo dnja.“ Megaphon

Erzähler:

Ausgerechnet bei Alexander Prachanoff wird ein anderer Riß deutlich, der sich durch die Front der Kriegsbefürworter zieht. Prachow ist bekennender Imperialist und ebenfalls Befürworter des antiterroristischen Feldzuges gegen den Terrorismus. Darüberhinaus ist er die Leitfigur des sich selbst so nennenden patriotischen Lagers, um dessen Stimmen gegenwärtig nicht nur die KPRF, mit der zusammen Alexander Prachanow auf einer Liste zur Wahl kandidiert, sondern auch die anderen großen Parteien in einem mehr als halbjährigen Wahlkampf buhlen, der zwischen der Dumawahl vom 19.12.1999 und der Wahl eines neues Präsidenten am 4.6. 2000 geführt wird. Nach seiner Haltung gegenüber der antiislamischen Front befragt, welche die russische Regierung allen anderslautenden Versicherungen Wladimir Putins zum Trotz im tschetschenischen Krieg aufbaut, antwortet Prochanoff:

O-Ton 21: Alexander Prachanoff                                                   1,15

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja otsenewaus setim…

„Ich stehe dem extrem ablehnend gegenüber. Das ist so ein Aspekt des tschetschenischen Krieges: Man will Orthodoxe russische Christen und Moslems, Russen und Türken gegeneinanderhetzen und Rußland als Ressource in eine antiislamische Front mit Amerika einschließen.  Das ist eines dieser globalen Projekte Amerikas, Rußland seinen Interessen zu unterwerfen, Rußland zu einem Feind des Islam zu machen und die Grenze eines Dauerkrieges mitten durch Rußland zu ziehen. Unsere islamische Welt reicht ja bis zur Wolga. Deshalb sind wir Patrioten für ein Bündnis mit dem Islam. Wenn wir in Rußland Hausherr wären, würden wir alles tun, um den Islam unter Einschluß der antiamerikanischen Kämpfe gegen Amerika zu führen – mit dem Islam an unserer Seite.“

…saboi Islam.“

Erzähler:

Prochanoffs scharfe Ablehnung einer antiislamischen Front, ebenso wie die Kritik der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“ entspringt der ethnischen und politischen Wirklichkeit Rußlands, das auch nach dem Ausscheiden der heutigen GUS-Staaaten immer noch mehr als hundert Völker und unterschiedliche Kulturen in seinen Grenzen vereint. Solange solche Widersprüche selbst das patriotische Lager durchziehen, besteht Hoffnung, daß die von der russischen Regierung zur Zeit betriebene Politik der „Säuberungen“ ihre Grenze nicht nur an der Zahl möglicher russischer Kriegsopfer, sondern auch an multi-ethnischen Wirklichkeit finden. Das gibt den Mut zu hoffen, daß selbst dieser Krieg die sich abzeichnende kooperative, letztlich demokratische Neuordnung des ehemaligen sowjetischen Raumes nicht  aufhalten kann.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*