Thesen zum gleichnamigen Seminar
in der Akademie Sankelmark vom 22.10.99 – 24.10.99
1. Rußlands Krise ist eine Wachstumskrise
2. Perestroika war Ausdruck des Mißverhältnisses zwischen den seit der Oktoberrevolution von 1917 entwickelten Produktivkräften und den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen des Sowjetsystems.
3. Eine neugewonnene Mobilität der sowjetischen Bevölkerung drückte sich nicht nur in zunehmendem Abstand zwischen steigenden Ansprüchen des Einzelnen an Selbstverwirklichung und einer stagnierenden Parteidoktrien aus, sie schlug sich sehr früh auch schon in Konflikten zwischen den Regionen, bzw. den Republiken und dem Moskauer Zentrum nieder.
4. Der Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 wurde wesentlich durch die Forderungen der Republiken nach mehr Souveränität angestoßen. Boris Jelzin kam als Präsident eines souveränen Rußland und als Initiator einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) an die Macht.
5. In den Auseinandersetzungen zwischen Moskau und den Regionen der russischen Föderation setzt sich diese Entwicklung heute fort. Seit Boris Jelzin 1991 die „demokratische Revolution“ ausrief, dauert in der russischen Föderation eine Regionalisierung an, die Rußlands geltende Raumordnung in Frage stellt, während die Privatisierung seine sozialen Zusammenhänge auflöst.
6. Nach einem extremen Ausschlag zur Seite der Privatisierung, die zu einer Hyperindividualisierung einer Minderheit der Bevölkerung und zur Lähmung ihrer in alten Zusammenhängen verharrenden Mehrheit führte, schlägt das Pendel nun wieder nach der anderen Seite aus. Heute zeigt es in Richtung einer Rekonsolidierung der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen.
7. Ergebnis wird aber weder die Rückkehr zur sowjetischen, noch die Übernahme westlicher Lebensweisen sein. Etwas Neues entsteht, das aus der Wechselwirkung zwischen traditionellen russischen Gemeinschaftstrukturen und westlichem Individualismus, zwischen korporativem Verwaltungskapitalismus sowjetischen Typs und privatkapitalistischen Arbeits- und Lebensweisen, zwischen Zentralismus und Separatismus hervorgeht.
8. Der Bankenkrach vom August 1998 markiert den Übergang von der bisherigen Phase der schnellen Privatisierung auf die Phase der Rekonsolidierung jenseits des sowjetischen Modells, aber auch jenseits westlicher Reparaturrezepte. Offen ist, mit welchen Mitteln dieser Wechsel wahrgenommen wird und wie lange er dauert Die bevorstehenden Wahlen, einschließlich des Ausgangs des gegenwärtigen Krieges in Tschetschenien, entscheiden darüber, ob dieser Übergang schrittweise, mit friedlichen Mitteln, gestützt auf ein Wachstum von unten stattfindet, oder ob er mit Gewalt von oben durchgesetzt wird. Je nach dem wird das Ergebnis ein anderes sein.
© Kai Ehlers, Email: KaiEhlers@compuserve.com Website: www-kai-ehlers.de Datum: 21.10.99
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