Babuschka und ihre Töchter –
Neue Kraft der Frauen oder alte Klischees?
„Bei uns gibt es keinen Sex!“ Wer schmunzelt nicht in Erinnerung an diesen Ausbruch einer sowjetischen Teilnehmerin bei einer der ersten Telebrücken zwischen Rußland, damals noch Sowjetunion, und dem neu erschlossenen Westen? In der Empörung dieses Ausbruches spiegelte sich die ganze beschränkte sozialistische Moral, die sich zwar realistisch gab, der aber jeder Realismus in der Beziehung der Geschlechter verloren gegangen war.
Wer heute auf Rußlands Plätzen, bei Veranstaltungen oder bei Konzerten Jugendliche beobachtet, kann den Eindruck bekommen, eine Generation mit gänzlich neuen Verhaltensweisen wachse heran. Locker, offen, dem Vergnügen und dem Sex zugewandt geben sich die jungen Leute heute: Jungen scheuen sich nicht, auf offener Bühne zu tanzen, Mädchen treten selbstbewußt auf, schon im Teeny-Alter betont weiblich, ja kokett. Das Fernsehen prägt eine Jugendkultur, in der Frei-Sein, Schrill-Sein, Brechen mit der verstaubten Welt des Sowjetischen angesagt ist. Westlich zu sein, das scheint „in“. Ist das die Wirklichkeit?
Beginnen wir in den Schulen. Koedukation war sowjetischer Standard. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dennoch beginnt sich ein Rollenbild in den Schulen zu etablieren, von dem nicht sicher ist, was es bedeutet – die Wiederauflage vorsowjetischer Klischees oder eine Emanzipation ganz anderer Art, anders jedenfalls, als sie uns aus dem Westen vertraut ist.
In der Sowjetzeit herrschte das Gleichheitsgebot. Für die Beziehung von Männern und Frauen bedeutete das: Die Maskulinisierung der Frauen führte zur Übernahme schwerster Arbeiten durch sie. Die Verschiedenheit von Mann und Frau wurde geleugnet – zum Nachteil der Frauen, die bei gleichen Anforderungen die Folgen der tatsächlichen Unterschiede zu tragen hatten, nämlich Geburt, Erziehung, Pflege und Ausbildung der Kinder.
Befreit von diesem Gleichheitspostulat suchen Frauen und Mädchen Rußlands heute nach einer neuen Rolle. Wie sieht sie aus? Nehmen wir ein Beispiel, die Schule Nr. 10 in Nowosibirsk: Die Schule, obwohl keine der neuen privaten, gilt als besonders gut und modern, das heißt, westorientiert. Ohne ohne Scheu geben Schülerinnen und Schüler mehrerer neunter Klassen Auskunft über ihre Beziehung zum anderen Geschlecht; es sind aber vor allem die Mädchen, die sprechen. An den Spruch vom Sex erinnert, der bei ihnen angeblich nicht vorkomme, brechen sie in Lachen aus. „Dafür gibt es nur e i n passendes Wort“, erklären sie gelangweilt, ganz im neu-russischen Slang.: „Stupid!“ Natürlich gebe es „das“, versichern sie dann, allerdings ohne das Wort Sex auszusprechen. Man rede nur nicht darüber. Aber „das“ sei doch normal, bei ihnen nicht anders als in anderen zivilisierten Ländern auch.
Im übrigen betonen die Mädchen jedoch, daß ihre Beziehung zu den Jungen eine völlig andere als in Amerika sei: In Rußland könne ein Junge ein halbes oder auch ein ganzes Jahr mit einem Mädchen gehen, ohne daß mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein müsse und ohne daß der Junge deswegen als „Versager oder so“ angemacht werde.
Sie habe kein Interesse an einem Jungen, der nur ihren Körper wolle, ist von einem der Mädchen zu hören. Die anderen pflichten ihr bei. Ein Mädchen sollte weiblich sein, finden sie, der Junge aber sollte sie nicht benutzen, sondern beschützen. Das sei seine Aufgabe als Mann. Die Jungen nicken dazu. Gefragt, ob sich in solchen Ansichten nicht die Klischees wiederholten, über die sie doch eben gerade noch gelacht hätten, antworten die Mädchen selbstbewußt: Natürlich nicht, denn heute seien Frauen wirtschaftlich nicht mehr von den Männern abhängig – als Mutter brauche die Frau aber nun einmal jemanden, der sie unterstütze.
Früh heiraten also, so wie es zu Sowjetzeiten üblich war? Gott bewahre! Nicht vor fünfundzwanzig! Erst das eigene Leben aufbauen! Früher habe man viel zu früh geheiratet, finden die Mädchen; früher habe man sich aber auch keine Sorgen um die Zukunft machen müssen. Man habe ja in einem sowjetischen Land gelebt, in dem noch von keinen Reformen die Rede gewesen sei. Heute dagegen müsse man sich erst wirtschaftlich absichern; danach komme alles andere. Emanzipation heißt für die Mädchen vor allem erst einmal: Abgrenzung vom sowjetischen Gleichheitsgebot. Heute gehe es den Frauen darum, ihren „echten weiblichen Platz“ wieder einzunehmen, dabei aber gleichberechtigt zu sein.
Der „echte weibliche Platz“, erklären die Mädchen, ist die Familie; und die Stellung in der Familie ist es, die das Recht der Frauen auf besondere Verehrung durch den Mann begründet. „Die Frau“, faßt ein Mädchen zusammen, wie man eine wissenschaftliche Tatsache konstatiert, „ist ja effektiv die Herrin des Hauses, die Herrin der Familie; es geht nicht an, sie so stark zu belasten.“ Die Jungen schweigen dazu; sie haben dem offenbar nichts hinzuzufügen.
Im Direktorenzimmer der Schule wird bei einer Tasse Tee schnell klar, daß die Ansichten der neunten Klassen über Frauen und Männer nicht zufällig sind. Sie entspringen vielmehr den tiefsten Überzeugungen Natalja Raslawzewas, ihrer Direktorin, die mit Beginn der Reformen die Leitung der Schule Nr. 10 in Nowosibirsk übernommen hat.
Frau Raslawzewa gilt als reformfreudig und vorurteilsfrei. Seit sie Direktorin wurde, hat die Schule Nr. 10 den Ruf, ihre Zöglinge als freie, selbstbewußte Staatsbürger und -bürgerinnen zu entlassen, die auch im Ausland als Muster guter Erziehung gelten.
Das Verhältnis von Jungen und Mädchen hat für die Direktorin oberste Priorität. „Wir wollen die Frauen fraulich machen und die Männer männlich“ lautet die pädagogische Leitlinie, der sie folgt. Dafür hat die Schule, wie auch andere Schulen, die etwas auf sich halten, ein spezielles Programm, in dem den Mädchen Unterricht in Kosmetik, Kinderpflege und Kochen, den Jungen handwerkliche und technische Unterweisung, sowie Anleitung in Fragen des guten Benehmens gegeben wird. Sexualkunde ist selbstverständlich. Trotzdem werden die entsprechenden Stunden für Jungen und Mädchen getrennt gegeben. Man müsse die natürliche Scham achten, welche die Kinder mitbrächten, findet die Direktorin, man müsse sie allmählich vorbereiten. Später könne man ihnen dann sagen, daß Sexualität etwas Normales sei.
Letztlich, so die Direktorin, könne natürlich nur die Familie Männer und Frauen erziehen. Wenn ein Junge die Erniedrigung von Frauen in seiner Familie erlebe, dann werde in der Regel kein wohlerzogener Mann aus ihm. Aber die Schule habe eine große Bedeutung für die Korrektur; dafür gebe es viele Beispiele. Das Beispiel, das die Direktorin dann anführt, klingt für westliche Ohren höchst befremdlich, in Rußland kann man es heute überall hören, wo es um grundsätzliche Werte geht: „Wenn die Knaben hier in die Schule kommen“, sagt Frau Raslawzewa, „dann erzieht die Lehrerin sie so, daß sie beim Hineingehen in die Klasse den Mädchen die Tür aufhalten. Mit solchen sanften Schritten versuchen wir den Grund für die Verehrung der Frauen zu legen.“
Noch befremdlicher erscheinen die Argumente, mit denen Frau Raslawzewa die Notwendigkeit der Verehrung begründet: „Wir Frauen“, lächelt die Direktorin, „schaffen die Schönheit, schaffen die Harmonie zwischen den Menschen.“ Und weiter: „Die Frauen denken ja oft, ihre Aufgabe bestünde darin, den Mann umzukrempeln. Ich sage meinen Mädchen dagegen immer: Umkrempeln geht nicht – doch korrigieren kann man sie, allerdings korrigieren mit Milde, mit Liebe, mit Mitleid. Die Frau muß dem Mann die Augen öffnen für die Seiten des Lebens, die ihn veredeln, sie muß ihn erkennen lassen, wo er sich gut verhalten hat, damit er sich auch in Zukunft so verhält. Es kann auch sein, daß sie Probleme lösen muß, dem Mann das Gefühl geben muß, daß er stark und energisch ist.“
In Andschero-Sudschinsk, einem der schwärzesten Kohleorte im schwarzen, krisengeschüttelten Kusbass, antwortete ein fünzehnjähriges, wenig auffallendes, aber wohl recht intelligentes Mädchen auf die Frage, wie sie die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen heute sehe, mit den Worten: „Er muß akzeptieren, daß ich höher stehe als er. Er muß mir zeigen, daß er mich verehrt und für mich zu sorgen imstande ist. Dann gehe ich mit ihm, anders nicht.“
Die Mutter stand dabei und nickte. Genau! Etwas anderes könne ein Mädchen niemals zulassen bei dem Elend heutzutage, da viele Männer sich einfach durchschleppen ließen.
Kehren wir zurück zu der Direktorin der Schule Nr. 10. Zwei Hauptprobleme für die heutigen Beziehungen der Geschlechter zueinander sieht sie: Das eine klingt ähnlich wie in Andschero-Sudschinsk: Oft könne man heute hören, erklärt Frau Raslawzewa, daß die Männer keine Männer mehr seien, sondern Waschlappen. Die Statistik stütze eine solche Sichtweise leider. Viele Männer seien heute nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu ernähren. Wie könne sich der Mann da noch als Herr der Familie fühlen? Für den Staat gelte dasselbe. Wer solle Politikern vertrauen, die nicht in der Lage seien, die Ernährung des Volkes sicherzustellen? Für die Frau aber öffne sich heute der Käfig, in dem sie vorher gelebt habe. Zwar würden die Frauen eher entlassen und die Männer seien in der Regel die Chefs, schränkt Frau Raslawzewa ein; die eigentlichen Träger der schöpferischen Energie sind ihrer Ansicht nach trotzdem die Frauen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, außer in der Politik, beim Militär und in der Wirtschaft.
Aber selbst in der Wirtschaft findet die Direktorin die Frauen doch eigentlich besser: Da, wo sie es schafften sich durchzusetzen, seien sie die verständigeren Chefs, solche, die die Dinge zu Ende brächten, die sehr genau seien, die aufmerksamer mit den Menschen umgingen als die Männer. „Und heute“, so Frau Raslawzewa, „in diesem krisenhaften Zustand der Gesellschaft, bei dieser Geldnot, bei diesen sozialen Problemen, hat die Beziehung zum Chef eben eine gewaltiges Gewicht.“
Aber gerade weil die Rollen von Frauen und Männern sich heute derart verschieben, will die Direktorin, daß ihre Mädchen anders denken. Sie will, daß ihre Mädchen die, wie sie sagt, prinzipiell unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft nicht einfach hinnehmen, sondern als Gesetz begreifen. „Sie sollen verstehen“, so Frau Raslawzewa, „daß Männer die schwere Arbeit nicht einfach auf sich nehmen, weil das eben so ist, sondern daß sie es aus Achtung für die Frauen tun, daß sie es tun, damit ihre Frau ruhig und angenehm leben kann.“
Ein zweites großes Problem sieht Frau Raslawzewa in dem, was sie, ganz in Übereinstimmung mit dem offiziellen Sprachgebrauch der Schulbehörden, die Feminisierung der Gesellschaft nennt: Diese Feminisierung resultiert daraus, daß das gesamte Pflege- und Bildungswesen in Rußland in weiblichen Händen liegt – angefangen bei der Geburt über die Versorgung in der Familie, den Kindergarten, die Schule, die Jugendkulturhäuser bis zur Hochschule. Hier erst nehmen Männer, dann aber schon als Spezialisten, die Kinder in Empfang, deren Charakter bis dahin vollkommen von Frauen gebildet wird – zumal die Männer aus ihrem traditionellen, im Sowjetstil noch verstärkten Verständnis heraus häusliche Pflege, Erziehung und Bildung für Frauensache halten. Wenn dann noch hinzukomme, so Frau Raslawzewa, daß der Junge in einer Familie ohne Vater aufwachse, dann verliere er seine Männlichkeit, dann beginne er, Probleme nach Frauenart zu entscheiden. Deshalb sehe sie ihre Aufgabe auch darin, dafür zu sorgen, daß die Jungen ebenfalls ihr Ich entdecken, daß sie das Bewußtsein erlangen könnten: „Ich kann etwas schaffen!“
Wie vorher schon ihre Schülerinnen, kann auch die Direktorin in den Rollen, die sie Männern und Frauen zuweist, keine Wiederholung alter Stereotypen erkennen. Natürlich müsse man heute nicht mehr so scharf zwischen männlichen und weiblichen Arbeiten unterscheiden wie früher, eher gehe es um menschliche oder unmenschliche Arbeiten, meint sie. Letztlich aber gebe es doch immer noch eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die nicht wegzudiskutieren sei, nämlich, so die Direktorin sachlich, „daß die Frauen die Kinder nicht nur bekommen, sondern in der Regel auch aufziehen. Behaglichkeit und Ruhe der Familie stellt die Frau her. In diesem Sinne unterscheiden wir eben doch. Das“, konstatiert Frau Raslawzewa, „ist eben der natürliche Faktor.“
Die Schule, faßt die Direktorin die offizielle pädagogische Linie von heute zusammen, solle die jungen Leute natürlich nicht nur zu Männern oder Frauen, sondern zu Persönlichkeiten erziehen, zu Menschen, die in der Lage seien, in der Gemeinschaft zu leben. So ist es auch in den Grundsätzen der russischen Schulreform von 1992 zu lesen. Aber in der russischen Geschichte, fügt Frau Rsalawzewa hinzu, habe sich doch immer wieder die grundlegende Bedeutung des weiblichen Prinzips erwiesen. In dessen Betonung liege so etwas wie ein Geheimnis der russischen Nation verborgen. Diese Weiblichkeit, diese Mütterlichkeit werde das russische Volk wohl immer mehr als andere Völker betonen und es sei wichtig, die Männer dazu zu erziehen. Andernfalls drohe eine Brutalisierung der Gesellschaft wie sie sich in der Männerkultur der Mafia oder auch in Kriegen wie dem tschetschenischen bereits ausdrücke.
Obwohl sie doch selbst eine Frau sei, die es liebe, frei und selbstbestimmt zu arbeiten, fügt die Direktorin zuguterletzt noch hinzu, verzichte sie lieber auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn dadurch der Mann seine Rolle als Ernährer der Familie wieder wahrnehmen könne. Nur so sei eine stabile Familie und damit eine Stabilität der Gesellschaft erreichbar.
So extrem diese Positionen erscheinen mögen, sowohl die der Jugendlichen als auch die der Direktorin, sind sie doch typisch für die Situation an den heutigen Schulen und Ausbildungsinstituten, gleichgültig ob staatlich oder privat. Nur ein paar Straßenzüge weiter sind dieselben Töne beispielsweise in der freien Theaterschule „Smile“ (Aussprache: englisch) zu hören, einer der vielen sogenannten Ergänzungsschulen, in denen Kinder heute zusätzlich zum Hauptunterricht an staatlichen Schulen in musikalischen, choreographischen, sportlichen oder sonstigen weiterführenden Fächern ausgebildet werden können. Auch die karrierebewußten jungen Frauen, die aus solchen Schulen hervorgehen, fühlen sich düpiert, wenn ihnen die Türen nicht aufgehalten werden.
Nichts anders in den Dorfschulen Sibiriens, ebenso an der Wolga oder auch in Moskau: Eine gesunde Familie als Basis eines gesunden Staates; der Mann als Ernährer, die Frau als Pflegerin und Bewahrerin, die gemeinsam an den Wiederaufbau des Landes gehen – das ist das schulische Erziehungsideal im heutigen Rußland. Die Krise des Mannes in seiner Rolle als Oberhaupt der Familie wird dabei ebenso als Problem beschrieben, das es zu lösen gilt, wenn die nachkommende Generation nicht verderben soll, wie die Feminisierung der Bildung.
Aber nicht nur in den Schulen, sondern überall, wo Frauen sich versammeln, ist dieser Grundton zu hören. Auf großen Kongressen, wie denen aus Anlaß des Weltfrauentages, bei kleineren Versammlungen in örtlichen Kulturhäusern quer durchs ganze Land, die meist von Frauen geleitet werden, in informellen Organisationen, die als dritter Sektor inzwischen die Lücke füllen, welche durch den Zusammenbruch der staatlichen sozialen Netze entstanden ist, versammeln sich Frauen, um die Bewältigung der Krise in die eigenen Hände zu nehmen.
Sie tun es, weil die Männer von sich aus dazu nicht in der Lage seien, oder – von manchen Frauen auch schärfer formuliert, weil die Männer mit ihrer Art und mit ihren Mitteln die Krise nur noch vertieften.
Nach Angaben aus dem „Zentrum für Geschlechterforschung der russischen Akademie der Wissenschaft“ ging das Angebot von Dienstleistungen für die Bevölkerung im Umbruchjahr 1991 auf ca. ein Drittel des Standes vor Perestroika zurück; 1992 halbierte sich dieses Drittel noch einmal und von diesem Rest gingen seither noch einmal zwei Drittel verloren. Da bleiben nach Adam Riese rund 5% des Standes von der Zeit vor Perestroika. Das mag übetrieben erscheinen, die rundum im ganzen Lande erfolgte und sich immer noch fortsetzende Schließung von Kindertagesstätten, von Pionier-, Kultur-, Ferien- und Kinder- und Seniorenhäusern und nicht zuletzt der Mehrheit der „stolowajas“, der öffentlichen Kantinen in Sowchosen, Kolchosen, Betrieben und Stadtteilen gibt der Zahl ihre reale Dimension. Dazu kommt der Zusammenbruch des kommunalen Fürsorgenetzes, der medizinischen und der Altersversorgung. Verbunden mit Inflation, mehrfacher Abwertung und explodierenden Preisen entstand eine Situation, die vor allem zur Lasten der Frauen geht, die sich als Mütter in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Maße wieder an Haus oder Wohnung gebunden sehen.
Dennoch: Nicht gegen die Männer, sondern mit ihnen will die Mehrheit der Frauen ihren Weg gehen. Nach ihrer Strategie befragt, zitiert die Mehrzahl der Frauen irgendwann im Verlaufe der Gespräche mit geradezu vorhersagbarer Sicherheit und hintergründigem Lächeln die alte russische Redewendung: „Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau ist der Hals, wohin der Hals sich wendet, dahin muß der Kopf folgen.“
Das gilt auch für die Organisatorinnen und Aktivistinnen von Frauenversammlungen. Nehmen wir Marina Tjasto. Sie ist zuständig für Auslandskontakte der staatlichen Verwaltungsfachhochschule in Nowosibirsk, einer der hochangesehenen Kaderschmieden der neuen Bürokratie. Frau Tjasto ist eine kämpferische Frauenrechtlerin. Sie ist häufig im Westen, sie pflegt beste Kontakte zu den dortigen Frauengruppen. Aber klar setzt sie sich vom Feminismus westlicher Prägung ab. Nicht nur als gleichberechtigter Kumpel, sagt sie, als Frau möchte sie geachtet und verehrt werden. „Das andere“ befindet sie leicht ironisch, „hatten wir schon. Wir kämpfen nicht gegen die Männer“, erklärt sie, „wir wollen nichts zerstören. Es reicht bereits, es ist ja schon alles zerstört! Wir wollen unsere weibliche Energie konzentrieren, um die Krise zu überwinden. Wir wollen jetzt bewahren, was noch ist, es stärken und Neues aufbauen. Dann wird es gehen.“ Darin sind andere Aktivistinnen bis auf wenige Ausnahmen mit ihr einig.
Wie dieser Einsatz konkret ausssieht, ist exemplarisch bei Frauen, Müttern, Töchtern, Schwestern und Großmüttern von Trinkern zu beobachten, die ihre Männer, Söhne, Brüder und Väter heute massenhaft zu Entziehungskuren bringen, welche Ärzte aus den nahen Städten nach neuesten, aus Amerika eingeführten Methoden anbieten. Neunzig Prozent der Trinker in Rußland sind Männer. Alkoholismus ist in Rußland mehr als anderswo eine Männerkrankheit. Die neue Zeit treibt viele Männer noch tiefer in den Suff als früher, andererseits verlangt sie Nüchternheit für den hart gewordenen Kampf um die wenigen guten Arbeitsplätze. Achtzig Prozent der Dorfbevölkerung hängen an der Flasche. Ein hoher Prozentsatz geistig gestörter Kinder ist die Folge. Die Last liegt bei den Frauen. „Kartoffeln, Garten, Kinder, Mann – mein Gott, eben alles – das machen wir“, sagen sie.
In den Familien haben die Frauen heute das Kommando. Sie organisieren den Alltag. Von ihrer Improvisationsgabe hängt oft das Überleben der Familie ab, während die Männer durch die Tatsache, daß sie ihre Rolle als Ernährer nicht mehr ausfüllen können, in ihrem Selbstwertgefühl so verletzt sind, daß sie in Lethargie und Suff verfallen.
Wohl den Familien, ob mit männlichem Familienoberhaupt oder nicht, die noch eine Babuschka, eine Großmutter haben oder gar zwei. Babuschka versorgt die Kinder, während die Mütter arbeiten. Babuschka lebt auf der Datscha, solange es die Witterung erlaubt, wo sie die Grundversorgung der Familie durch den Anbau von Kartoffeln, Kohl und anderem sichert. Manch eine der Alten ist mit ihrer Pension, obwohl deren Höhe kaum nennenswert ist, sogar noch der Finanzier der Familie. Frauen, muß man dazu sagen, werden auch in Rußland im Schnitt älter als Männer. Die Familie wurde zur Not- und Überlebensgemeinschaft, die von Frauen geführt wird. Sie ist der letzte Halt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft.
Je tiefer man ins Land hineinkommt, um so öfter hört man die Redewendung vom Mann, der das Haupt und der Frau, die der Hals sei. Das klingt verdächtig konservativ; russische Ohren hören darin jedoch zunächst nicht mehr als eine gültige Lebensweisheit, die durchaus nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke der Frauen spricht, die in ihrer Schwäche liege. Je mehr sich der Sachverhalt, der in dem Sprichwort beschworen wird, in der neuen Zeit allerdings von der Realität zu entfernen droht, um so mehr tritt die Gefahr hervor, daß die einfache Volksweisheit sich in ein konservatives Dogma verwandelt, welches einem vom Westen her drohenden Sittenverfall entgegengestellt wird wie seinerzeit die Behauptung, in der Sowjetunion gäbe es keinen Sex. Beispiele für solche Haltungen gibt es genug. So etwa die Dichterin Subota aus Perm, eine Matrone alten sowjetischen Stils, heute Mitglied einer Partei der Ethik, in der die sogenannten alten Werte beschworen werden; Frau Subota scheut sich nicht, einem westlichen Journalisten ins Mikrofon zu diktieren, die Geschichte habe die Russen zu einem kriegerischen Volk werden lassen; das bedeute: starke Frauen, die oft den Platz ihrer Männer einnehmen müßten, Mütter, die ihre Söhne zu wehrhaften Männern erzögen, um sich gegen die beständige Bedrohung von außen zu verteidigen.
Solche Reden passen zu jenen Denkmälern aus der Sowjetzeit, die noch heute an manchen Orten zu sehen sind: Mütter, die ihre Söhne herrisch hinaus an die Front weisen. Die Mutter als Über-Ich der Gesellschaft, die deren moralische Werte bewacht.
Gegen eine solche Fixierung ihrer Rolle wehren sich die jungen Mütter von heute jedoch entschieden. Da ist Natalja, Politologin aus Kemerowo im Kusbass, die sich, fünfundzwanzigjährig, als Mutter von zwei Kindern nach fünf Ehejahren von ihrem Mann trennt, weil er ihr keine eigene berufliche Entwicklung zugestehen will. Da ist Tanja, Massageärztin aus der Kohlestadt Borodino im Gebiet Krasnojarsk, die lieber alleinerziehende Mutter sein möchte, als einen Mann zu heiraten, den sie mit ernähren müßte. Da ist Lena, Dozentin der Wirtschaftswissenschaften aus Tscheboksary an der Wolga, Mutter eines Kindes, verheiratet, die es vorzieht, bei ihrer Mutter zu leben und dort hin und wieder ihren Mann zu Besuch zu empfangen. Da sind Olga, Tatjana, Mila aus Moskau und St. Petersburg und viele andere, die nach früher Hochzeit als siebzehn- oder achtzehnjährige zwar weiter mit ihren Männern und Kindern in einer engen Wohnung zusammenleben; deren Ehe aber keine Liebes-, sondern nur noch eine Versorgungsgemeinschaft ist.
Das betrifft zunächst einmal die gemeinsame Wohnung. Ohne Ehe war in der Vergangenheit keine eigene Wohnung zu bekommen und selbst manches frisch verheiratete Paar mußte nach lange warten. Immerhin überließ man ihnen in der elterlichen Wohnung dann wenigstens ein Zimmer, oft auch nur einen abgeteilten Verschlag. Für Dollars ist heute vieles möglich. Aber Singles, Frauen oder Männer, die allein in freigewählten Wohngemeinschaften zusammenleben, sind nach wie vor Exotik. Was es gab und nach wie vor gibt, sind die „Kommunalkas“, staatlich bewirtschaftete Großwohnungen, Zwangswohngemeinschaften, aus denen herauszukommen aber allein schon ein Grund für das Zusammenrücken in einer Ehe ist.
Die russische Gesellschaft, soweit sie die Gemeinschaft vieler Völker ist, hat recht unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt, die von den europäischen Formen der Kleinfamilie bis zur nomadischen Sippe reichen; insofern verbieten sich Pauschalisierungen. Eines aber ist allen Völkern Rußlands gemeinsam: Der Raummangel! Vom Dorfhaus einer tschuwaschischen, baschkirischen oder tatarischen, ebenso aber auch einer russisch-sibirischen Familie, wo in einem durch Tuchwände unterteilten Blockhaus drei Generationen zusammenleben, bis zur engen Zweizimmerzelle im Fertigbau-Hochhaus, in der mindestens zwei, manchmal aber auch drei Generationen einander aushalten müssen, besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied. Das ist erstaunlich in einem Land, das in die Vorstellungswelt der Völker als Synonym für Weite eingegangen ist
Viele Erklärungen sind dafür möglich: Die nomadische Tradition vieler heute zu Rußland gehörender Völkerschaften, bei der man zwar umherzieht, aber im Zelt oder in der Blockhütte eng zusammenrückt; die dauernde Bedrohung durch das Klima, durch fremde Stämme, durch den übermächtigen Staat; die schlichte Not der hörigen, später schlimmer noch, der befreiten und in die Stadtwüsten verschlagenen Bauern; schließlich auch einfach die Angst vor der Weite, welche die Familien am Feuer und im einzigen geheizten Raum zusammenkriechen läßt.
Unter den heutigen Bedingungen, die den Versorgungsdruck existenziell verschärfen, wandelt sich die Zweckfamilie zur Keimzelle für eine Art des sozialen Zusammenlebens, in der die archaische Gruppenehe zu neuer Bedeutung heraufwächst: Das Kollektiv aller wirtschaftlich und verwandtschaftlich aneinander Gebundenen bildet einen Lebenszusammenhang, in dem alle versorgt sind. Liebesbeziehungen können damit identisch sein, müssen es aber nicht. Statistische Angaben über Eheschließungen und Scheidungsraten haben vor diesem Hintergrund wenig Aussagekraft. Sicher ist nur, daß der Wunsch vieler, vor allem junger Frauen nach stärkerer persönlicher Verwirklichung der Stärkung der familiären Zweckgemeinschaft, wie sie gerade durch die Frauen getragen und gefordert wird, hart gegenübersteht. Was daraus erwächst, ist offen.
Diese Unsicherheit bringt schließlich noch Irina, die Analytikerin, auf den Plan. Irina ist eine von den Frauen, die der Frage, wie sich die Beziehung der Geschlechter zueinander heute verändert, auch theoretisch zu Leibe rückt. Irina, selbst Mutter von zwei Kindern, verheiratet, ist leitende Ärztin einer neuen psychoanalytischen Klinik in Nowosibirsk. Ihrer Ansicht nach ist es nötig, die Rolle genauer anzusehen., welche die Mutter, die große Mama, die Versorgerin der Familie heute in Rußland spielt. Die Überzeugung von der Notwendigkeit dieser Fragestellung hat sie in ihrem Berufsalltag gewonnen, in dem sie seit Eröffnung ihrer Praxis Anfang der Neunziger mehr und mehr auf Psychosen trifft, die daraus resultieren, daß Menschen sich nicht von ihrem Elternhaus lösen können. Auf der Suche nach Erklärungen dafür stieß sie zunächst auf die Theorien Freuds. Je mehr sie sich aber mit Freud beschäftigte, um so weniger konnte dessen patriarchaler Ansatz ihr erklären. Entscheidender als die Abhängigkeit vom Vater, erschien ihr die vonm der Mutter: „Es fängt bei der Geburt an“, so Irina, „über die ganzen Stationen unserer von Frauen getragenen Erziehung und geht bis zu dem jungen neuen Geschäftsmann, der sich nicht von der Mama lösen kann, die ihm beigebracht hat, daß Geschäfte zu machen unmoralisch sei. Ja, es gibt bei uns dies Verständnis von `Matj´, der großen Mutter.“ Vieles in Rußland erkläre sich von daher, so Irina, und so habe sie schließlich begriffen, daß sie zwar in einer patriarchalen Welt lebe, daß diese in Wahrheit aber matriarchal sei. „Ja, im Grunde“, spitzt Irina ihre Erkenntnis zu, „haben wir ein Matriarchat bei uns, nur formal ist ein Patriarchat darauf aufgebaut.“
Doch auch die Analytikerin setzt nicht auf Konfrontation. Ihr geht es nicht darum, ein Patriarchat durch ein Matriarchat zu ersetzen. Auch sie will den Geschlechterkrieg durch gegenseitiges Verständnis überwinden, ohne dabei die Unterschiede zu leugnen. Eine gesunde Entwicklung, so Irina, könne es nur geben, wenn die Gewalt der Urbeziehung zwischen männlichen und weiblichen Prinzipien erkannt und berücksichtigt werde. Ob in solchen Erkenntnissen die Möglichkeit liegt, den Pendelschlag von der sowjetischen Gleichmacherei zur nachsowjetischen Differenzierung, von einer Leugnung der Weiblichkeit zum Weiblichkeitskult unbeschadet zu überstehen und daraus auch noch neue Perspektiven zu gewinnen, ist ebenso wie die gesamte gesellschaftliche Entwicklung Rußlands eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung, das ist gewiß, wird die Zukunft Rußlands aber mindestens so sehr abhängen wie von der Wahl des nächsten Präsidenten.
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