Die Grundsituation ist einfach und klar: Der Zerfall des sowjetischen Imperiums ist gleichbedeutend mit einem neuen anti-imperialistischen Schub. Man kann ihn durchaus mit Recht als dritten Entkolonialisierungsschub der industriellen Moderne bezeichnen. Sein Wesen ist die endgültige Umwandlung der mono-, im Kern eurozentristisch beherrschten Welt in eine mulitizentrale, nachdem die ersten beiden Schübe steckengeblieben sind. Wir befinden uns mitten in diesem Übergang, der sich als weltweite Krise vollzieht.
Was in Moskau, was in St. Petersburg und mit einem weltanschaulich verwandten und durch dieselben Grundinteressen geleiteten Blick auch aus der BRD üblicherweise als Zerfall und als Bedrohung der monozentralen Ordnung erlebt und beschrieben wird, erscheint von den Peripherien der ehemaligen UdSSR aus in einem ganz anderen Licht, nämlich in dem Licht der Befreiung von einem nicht nur jahrzehntelangen, sondern jahrhundertelangen kolonialen Druck. Die Emanzipationsbewegungen der nicht eurozentralisierten Völker nach dem ersten und nach dem zweiten Welkrieg werden dadurch auf eine völlig neue Stufe gebracht.
Auch in den Peripherien, auch in den langjährigen russischen Kolonien, auch in den ehemaligen Republiken und „autonomen Gebieten“ herrscht Ungewißheit und Ratlosigkeit, schließlich auch Angst darüber, was kommen wird. Aber die Grundfrage, die an der Wolga, im Altai, in den Regionen Sibiriens oder anderen Teilen des euroasiatischen Raums gestellt wird, lautet nicht wie in Moskau oder St. Petersburg: „Was wird, wenn alles zusammenbricht?“ Sie wird von der anderen Seite gestellt: „Was wird, wenn Moskau den Zusammenbruch nicht akzeptiert?“
Was „Moskau“ in erster Linie als Verlust erlebt, erleben die kolonisierten Völker des zerfallenden russisch-sowjetischen Imperiums umgekehrt als Möglichkeit der Befreiung, als Möglichkeit, sich auf ihre geschichtlichen, kulturellen, religiösen Wurzeln zu besinnen, ihre Ressourcen selbst zu nutzen und insgesamt einen selbbestimmten Weg einzuschlagen. Lange gebundene Kräfte und Reichtümer werden frei. Die bange Frage lautet nur: Wird das russische Zentrum seine Vorherrschaft mit Gewalt wieder herzustellen versuchen, wie dies schon oft in der Geschichte der Fall war? Und welche Haltung wird Europa und der Westen dazu einnehmen?
Die Situation ist epochal. Sie beginnt sich erst zu entfalten. Es geht nicht einfach um Neuordnung. Der Begriff „Neuordnung“ verschleiert eher die Konflikte. Es geht um die Zuspitzung der schon lange andauernden Auseinandersetzung zwischen imperialen und föderalen Tendenzen in unserer heutigen der Welt. Die Zeit der territorialen Imperien, die nach dem ersten und zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion stellvertretend für die zerbrochenen westlichen Imperien nicht nur konserviert, sondern paradoxerweise bis zum „System“ aufgeblasen wurde, geht zuende.
Der Zusammenbruch war schon längst überfällig. Er konnte so lange ausbleiben, weil der russische Imperialismus im euro-asiatischen Raum einen territorialen Zusammenhang ohne natürliche Grenzen bildete und so seinen imperialen Charakter länger verschleiern, legitimieren und praktisch leichter aufrechterhalten konnte. Man kann dies im Gegensatz zu den sonst bekannten Imperialismen als „innere Kolonisierung“ bezeichnen. Der Zusammenbruch wurde weiter dadurch hinausgezögert, daß die Sowjetunion nach dem ersten Weltkrieg als Heimatland der Welt-Revolution und durch den zweiten Weltkrieg als Hauptgegner des Faschismus zur Stütze der Völker wurde, die sich gegen die westlichen Imperialismen auflehnten. Im Ergebnis wuchs die Sowjetunion paradoxerweise zum größten territorialen Imperium heran, das unsere Welt jemals gesehen hat. In wachsendem Widerspruch zu ihrer Idelogie als antiimperialistisches Bollwerk wurde sie zum Statthalter der von ihr bekämpften eurozentrierten imperialen Weltordnung.
Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums erreicht der Prozess der Entkolonialisierung dieses Jahrhunderts daher einen neuen, wenn nicht überhaupt den Höhepunkt: Er geht von der äußeren Entkolonisierung zur inneren über. Im euroasiatischen Raum steht heute nicht nur die Befreiung von äußerer Herrschaft über das eigene Gebiet auf der Tagesordnung. Es geht um die Emanzipation der Völkervielfalt, aber mehr noch kultureller, religiöser und staatlicher Vielfalt gegen das in Gestalt der ehemaligen Sowjetunion bis ins äußerste Extrem gesteigerte monolithische Weltbild des eurozentrierten Industrialismus. Man kann es auch positiv formulieren: Auf Grundlage des erreichten Grades der industriellen Nivellierung des Globus ist nunmehr eine Weiterentwicklung der Menschheit nur in der kulturellen, religiösen und staatlichen Differenzierung möglich.
Es folgt daraus, was auch schon aus den ersten beiden Wellen der Entkolonisierung folgte: Die Entwicklung von nationalen Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen. Sie enthält die Anlage für die Entwicklung föderaler, gleichberechtigter Lebensverhältnisse auf unserem Globus. Das ist eine epochale Chance.
Der besondere Charakter des russisch-sowjetischen Imperialismus macht es allerdings schwer, das Wesen dieses Prozesses zu erkennen, zumal er von interessierter Seite verschleiert und verzerrt wird. Zudem haben sich durch die lange Verschleppung und die Übernahme des westlichen imperialen Erbes aufs Konto der ehemaligen UdSSR die Widersprüche derart verschärft, daß der Ausbruch jetzt umso heftiger und unkontrollierter zu werden droht. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die Befreiung nicht in der kulturellen Differenzierung, Demokratisierung und Föderalisierung gesucht wird, sondern sich in einer bloßen Verfielfältigung der bisherigen zentralistischen Ordnung und der reaktionären Verfestigung fundamentalistischer Denkweisen in den Teilstücken des früheren Imperiums Luft macht. Das Ergebnis wäre eine globale Jugoslawisierung, bzw. deren Gegenstück, der Versuch, die imperiale Ordnung mit Gewalt wiederherzustellen. Dabei könnten wir „Moskau“ mit dem „Westen“ Seite an Seite erleben. Die gegenwärtige Politik der westlichen Zentren läßt diese Richtung schon klar erkennen. Bundeskanzler Kohl scheute sich bei seinem letzten Besuch in Moskau beispielsweise nicht, dort finanzielle Versprechungen für Kiew zu machen. Busch beeilt sich, Moskau weiter in die neudefinierten NATO-Verpflichtungen hineinzuziehen.
Wir haben die große Chance, unsere Welt neu zu gestalten, aber nur, wenn auch in den Zentren verstanden wird, daß die Zeit monozentristischer Weltbilder mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus endgültig zuende geht und eine entsprechende Politik von den einheimischen Regierungen eingefordert wird. Jeder Versuch, den verlebten Zentralismus zu verteidigen oder an seine Stelle neue Zentren zu setzen, werde es nun pan-islamistisch, pan-slawistisch, pan-arabisch, eurozentristisch oder pan-asiatisch begründet, kann nur in einem ungeheuren Blutbad enden.
Im Einzelnen bedeutet das:
Erstens: Was in den Peripherien als Aufbruch und Hoffnung erlebt wird, macht in den Zentren Angst. Dieser Tatsache muß abgeholfen werden. Die Angstbarriere, die die Menschen daran hindert, den emanzipatorischen Charakter der Entwicklung wahrzunehmen, ist eine Informationsbarriere. Sie besteht zum Teil aus einfacher Unkenntnis über das, was jenseits von Moskau geschieht. Kaum jemand unserer Korrespondenten, geschweige denn einfachen Staatsbürger oder -bürgerinnen kommt in der Regel über Moskau hinaus. Zum Teil wird die Barriere aber auch bewußt aufgebaut, indem nur über die „Nationalismen“ und Kriegsgeschehen berichtet wird, sodaß die Unabhängigkeitsbewegungen in den Augen der Durchschnittswestler schlicht als Gefahr für die Zivilisation erscheinen. Diese Barriere muß durchbrochen werden, indem über den Reichtum der Entwicklung jenseits von Moskau, Geschichte, Land und Leute und ihre Vorstellungen informiert wird.
Zweitens: Bei aller Dynamik der jetzigen Unabhängigkeitsbestrebungen im euroasiatischen Raum fehlt doch auf Grund der jahrhundertelangen zentralistischen Entwicklung, zugespitzt durch die Sowjetzeit, die sozial-ökonomische Infrastruktur vor Ort, um eigene initiativen gegen die herrschenden zentralistischen und monopolistischen Verhältnisse entwickeln zu können. Der Zusammenbruch des monopolisierten Industriegiganten hinterläßt Wüsten, in denen eine tiefe Verelendung droht, wenn es nicht gelingt, sie infrastrukturell zu bewässern. Die bisherige westliche „Hilfe“ setzt diese Verwüstung in der Regel fort. Durch materielle und personelle Hilfe soll beim Aufbau dieser Infrastrukturen vor Ort mit angefaßt werden.
Drittens: Nach dem Abtreten der zentralistischen Macht fehlen die – in West-Europa entwickelten – Mechanismen der Konfliktbewältigung, ja, mehr noch, sie wurden durch den zaristischen, später auch den sowjetischen Imperialismus systematisch zerschlagen. Ein politischer Dialog zur Entwicklung solcher Mechanismen muß ermöglicht und gefördert werden. In diesen Zusammenhang gehört die gemeinsame Arbeit zu Fragen des Faschismus, der Demokratie und antiimperialistischer Politik, Geschichte und Kultur, konkret auch die schlichte Übersetzung bereits vorhandener Literatur zu diesen Themen, die Durchführung von gemeinsamen Seminaren und Herausgabe von Publikationen, bzw. ihre Unterstützung vor Ort.
Um Irrtümern und falschen Bündnissen vorzubeugen, sei klar gesagt: Aufklärung über die Politik der westlichen Zentren, die entgegen anderslautenden Worten den post-sowjetischen, genauer russischen Zentralismus unterstützen, um ihre eigene Kolonisierung des euroasiatischen Raumes umso besser verfolgen zu können, ist notwendiger Bestandteil der zu entfaltenden Arbeit. Westliche Kredite führen bisher in der Regel nicht zur Stärkung von Initiativen und dem Aufbau sozio-ökonomischer Infrastruktur vor Ort, sondern nach altem imperialem Rezept im Gegenteil zur Herstellung oder Vertiefung von Abhängigkeiten.
Im Gegensatz dazu muß in Bezug auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auch in der Frage dessen, was allgemein Entwicklungspolitik genannt wird, Neuland beschritten werden. Der ehemalige Gigant, der sich als Bollwerk des industriellen Fortschritts sah, sieht sich heute auf die Ebene eines „Dritt-Welt-Landes“ gedrückt. Was für die Länder der sog. Dritten-Welt gilt, gilt uneingeschränkt auch für die Länder, die jetzt aus der ehemaligen Union hervorgehen. Auch hier muß allerdings konkretisiert werden: Es ist sinnlos, über Moskau von oben Geld ins Land zu schütten, während zugleich die Infrastruktur vor Ort nicht nur nicht gestützt, sondern weiter abgebaut wird. Dies ist die materielle Seite der notwendigen Arbeit: Vor Ort sozio-kulturelle Infrastruktur zu stützen. Wie kann das aussehen?
Ein paar Beispiele mögen das erläutern:
Wer sich ennagieren will, kann den Wunsch eines ökologisch orientierten ornitologischen Jugendklubs an der Wolga aufgreifen, mit hiesigen Jugendlichen zusammenzukommen, die sich mit demselben Thema befassen. Es können gegenseitige Ausstellungen in die Wege geleitet werden. Nicht nur diese, auch andere Jugendgruppen brennen darauf.
Man oder frau kann die Herausgabe einer Kinderzeitung „Putenje“ in der tschuwaschischen Republik sichern, indem man sie finanziell unterstützt, aber auch für deren Bekanntwerden hier sorgt, Austausch mit hiesigen Kinderzeitungen organisiert und in ihr schreibt. Ähnliches gilt für die dortige Frauenzeitungen „Pike“. Solche Produkte können in den Republiken und Regionen heute nur unter äußerstem Einsatz örtlicher Redakteurinnen und Redakteure erscheinen, weil sie von der herrschenden ÜPolitik nicht gefödert werden.
Forschungsprojekte sind unterstützenswert, die der Erkundung der Geschichte der kolonisierten Völker an der Wolga, in Sibirien oder anderen Teilen der ehemaligen Union dienen. Gegenwärtig muß soetwas. soweit die Länder nicht schon ihre Unabhängigkeit praktizieren, häufig als „Einmannbetrieb“ laufen, weil es von der offiziellen Lehre immer noch geschnitten wird.
Ein Erfahrungs-Austausch mit post-sowjetischen Psychologen über neue Methoden der Heiltherapie wäre zu organisieren, zu partizipieren und zu helfen bei der neuerlichen Erforschung der so lange ins Vergessen gedrückten reichen Naturheilmethoden der verschiedenen euro-asiatischen Völker.
Die finanzielle und publizistische Unterstützung einer antifaschistischen Zeitung in Moskau/St. Peterburg steht an, um der „patriotisch“ nationalistischen Propaganda in den Zentren und von ihnen aus entgegenzuwirken. (* siehe Beilage)
Das Gleiche gilt für Vortragsreisen mit Vertretern der neuen Kultur- und Unabhängigkeitsbewegungen aus den Peripherien des post-sowjetischen Imperiums hier im Land.
Schließlich, aber nicht zuletzt, muß die Unterstützung auch Initiativen gelten, die dazu führen können, die ökonomische Infrastruktur von unten aufzubauen. So kann man jungen Leuten, die eine Bienenzuchtkooperative gegründet haben, aber nicht wissen, wo sie ihr Bienengift zu Medizin verarbeiten lassen können, schon damit helfen, die von ihnen erwünschten Verbindung mit deutschen Verarbeitern zu finden.
Die Reihe läßt sich mühelos fortsetzen. Letztlich geht es darum, Menschen dazu zu bewegen, sich aus den Zentren hinauszubegeben und vor Ort mit anzupacken, sagen wir, eine Art Kooperations-Tourismus zu entwickeln. Mindestens aber können Menschen aus den Zentren dort Erfahrungen sammeln, die sie verstehen lassen, daß die Probleme unserer heutigen Welt nicht gelöst werden, indem sie in den Zentren ihre Privilegien und ihren Reichtum gegen die übrigen Völker der Welt mit Zähnen und mit Klauen verteidigen, sondern indem sie diesen Reichtum mit diesen Völkern teilen – nicht als Mildtätigkeit, sondern indem sie in aktiver Kooperation ihre Qualifikation und ihre Mittel für die Entwicklung dort bereitstellen. Das hilft den Menschen vor Ort mehr als Lebensmittelpakete zum einen oder Kredite, die in den oberen Etagen der Zentren-Bürokratie auf nimmerwiedersehen versickern. Das ist zugleich ein aktiver Weg aus dem Widerspruch, als Bewohner eines der reichsten Länder der Welt einerseits diesen Reichtum nicht verlieren, andererseits aber gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und imperiale Ausbeutung etwas unternehmen zu wollen. Schließlich liegt auf dem beschriebenen Weg die Chance, eine Verbindung zur früheren anti-imperialistischen Solidaritätsbewegungen zu finden.
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