Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz (Kurzfassung)

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des Internationalen Währungsfonds.
Unser Autor hat sich im Lande umgeschaut, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe    0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet dieder Ort den Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen eines Bezirks von der Größe Schleswig Holsteins. Die nächst größere Stadt ist Nowosibirsk, gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihre Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Probleme finanzirowannije…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema.“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Leherin: „Nu Trudnosti un nas… “

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(nach Bedarf am Ende des Erzählertextes hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Bücher selbst zu interpretieren, wenn keine neuen zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern  der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am meisten Sorgen macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Sie gehen lieber in die örtliche Videothek, betreiben ein „kleines Busyness“ oder gammeln einfach herum. Nur disziplinarische Mittel halten sie noch in der Schule, obwohl es dort doch eigentlich ganz gemütlich sei, lacht sie, oder nicht?
…ujutna“, Lachen

Regie: hier bei Bedarf hochziehen, abblenden

Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kursi…“

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(nach Bedarf nach Übersetzerin Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standdarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
…sebe prinimajem.“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bhedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchternes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
…nu tejelo!

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, stoßen wir schließlich noch auf ein weiteres Problem:

O-Ton 6:                0,17
„Utschitelei mala…

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(nach Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins „busyness“, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann.“
… moschno bolsche sarabotats.“

Erzähler:     Wie in Ordinsk, so ist es in anderen Orten. In einer Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien.  Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 7: Maria Solochow        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer Arbeit dort hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
…kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus betreiben kann.
Daß die so Verbleibenden vor allem ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 8: Maria Solocha, 2    0,25
„No, wot wi snaetje…

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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
…nje saprischajut.“

Erzähler:    Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es noch die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, örtliche Betriebe, manchmal ein einziger. In manchen Städten wie in Borodino trug ein einziges Unternehmen auch sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur bedeutete für viele dieser Institutionen das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus eines örtlichen Industriegiganten. 1500 Kinder für 30.000 Beschäftigte wurden hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, befragt, was sich durch die neue Zeit verändert habe, erzählt:

O-Ton 9: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt, wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik! Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
…schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Ohne Wassiljew säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft des Ortes ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Lange aber kann das nicht so weitergehen, dann  muß auch dieses Haus geschlossen werden. Eine Alternative gibt es nicht.
Die Auswirkungen solcher Verhältnisse treffen zunächst vor allem die Familie. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Beobachter der Ruhr-Universität Köln haben die wenigen Daten, die bisher durch die russische Presse gingen, zusammengefaßt. Sie sprechen eine deutliche Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht.
20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme einschließlich „abweichenden Verhaltens“ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt. Die steigende Zahl von Selbstmorden  auch unter Jugendlichen ist ein Ausdruck davon. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.“

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise. Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten stolzer Festtag zu Beginn eines jeden Schuljahres. An diesem Tag wurde der unbestreitbaren Erfolge der sowjetischen Bildungspolitik gedacht wie der Überwindung des Analphabetismus, der wissenschaftlichen Leistungen in der raumfahrt und dergl. Auch heut ist dieser tag noch ein offizieller Feiertag. Inzwischen ist aber gerade er für viele zum Protesttag geworden. Selbst in braven Provinzstädten wie Tscheboksary an der Wolga ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen, die sich mit Alkohol künstlich bei Laune halten. Sie machen kein Hehl daraus, was sie von der Bildungspolitik der Regierung halten:

O-Ton 10: Jugendliche in Tscheboksary    0,48
Junger Mann: „Djen snannje?…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen

Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ erklären sie. „Der Tag des Wissens“, spottet einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
…ich…
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ fährt er fort, „aber jetzt? Jetzt mußt du Bester sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein anderer, „aber es gibt keine Plätze. Selbst als bester kriegst Du nichts. Sie lassen nur 30 % zu. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
…prawilno!“

Erzähler:     Professor Oleg Melnikow kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in Nowosibirsk. Die Stadt bildet eines der wissenschaftlichen Zentren der russischen Föderation.
Mit Recht, findet der Professor, empören sich die jungen Leute über das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 11: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…

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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Nur die Besten wurden angenommen. War man auf einem Institut, bestand man dort die Prüfungen, hatte man seine Zukunft entschieden.
Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung überzugehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes nahmen, wie auch immer über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind und außerdem schon seit Monaten nicht gezahlt werden. „Die Besten“, so der Professor, „gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.“
Auch die Zahl der Studenten sank. Erst seit 1995 stieg sie wieder. Warum?

O-Ton 12: Prof. Oleg Melnikow, II    0,43
„Konkurs povecelis dwe pritschin…

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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschtschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     An der Universität ist es nicht besser. Von Pjotr Reschetka, dem Vorsitzenden des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“, kann man folgende Rechnung hören:

O-Ton 13: Pjotr Reschetka    0,19
„I posle..

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Übersetzer:     „Wenn junge Leute eine Ausbildung bekommen, dann bilden sie keine Banden. Sie als Verbrecher ins Gefängnis ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…scholje i institutje.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist die Realität, die er dann schildert, endgültig deren Scheitern: Kompetenzwirrwarr und Finanzmangel behindert Forschung und Lehre. Nach wie vor wird in Moskau entschieden. Die Regionen treten auf der Stelle.
Seit 1992 gehen die Ausgaben des Staatshaushaltes für den Bildungsbereich zurück. Lehrergehälter und Stipendien werden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, sodaß ein Teil der Lehrkräfte und Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums lebt. Spezialisten wandern nach Westen ab, 4000 allein aus Nowosibirsk. Die zurückbleibenden müssen sogar um ihren Wohnplatz fürchten, nachdem der Staat die früheren Dienstwohnungen zur Privatisierung freiegegeben hat.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der nationalen Vielfalt des Landes. Die Reformer sind sich dieses Problems bewußt:
So schreibt der stellvertretende Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, Wladimir Schadrikow, also ein Vorgesetzter des Nowosibirsker Professors:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer `sowjetischen´ bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Die neue Verfassung garantiert auch den Gebrauch der Muttersprache. Die großen ethnisch bestimmten Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien haben begonnen,  auf dieser Grundlage eine autonome zweisprachige Bildungspolitik zu entwickeln. Schon bei ihnen fehlt es allerdings an den notwendigen Mitteln. In  kleineren autonomen Gebieten bleiben ähnliche Versuche von vornherein Initiativen auf dem Papier.
So etwa in Dudinka hoch im Norden am Eismeer. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen, von denen der autonome Kreis seinen Namen ableitet. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 14: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…

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Übersetzerin:     „Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine davon kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch das Sprachprogramm zeigt: Was als Reform begonnen hat, droht sich in sein Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon zitierte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen daher bereits 1994 zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschtschenien hat diese Tendenz seitdem erheblich verschärft. Faktisch ist der Abbau der vom Internationalen Währungsfond dignostizierten Überqualikation schon lange eingeleitet.

O-Ton 15: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Mächtig schlägt sich die neue Zeit aber auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.
Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten, in dessen Hallen hier allerdings zum Ausgleich reichlich Topfpflanzen aufgestellt sind.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 16: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
…Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 17: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagigi bedni, no ani…

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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes. Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandars reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 18: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
…eta bolschaja Problemea!“

O-Ton 19: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer eine dieser Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 20:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, auch Beziehungen; Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Häufig gelingt das nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 21: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna..

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje iswestna, schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNe“, welche die härtesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit den Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen ihre Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

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