Porträt: Raissa Sarbi

take 1: O-Ton Raissa in Museumshalle

Regie: O-Ton zwanzig, bis dreißg Sekunden stehen lassen, dann langsam abblenden, unter dem Errzählertext weiter laufen lassen.

Erzähler:     Das ist Raissa Sarbi, Ehefrau, Mutter, Person             öffentlichen Ärgernisses. Ort: Tscheboksary an der Wolga. Raissa ist Mitarbeiterin im tschuwaschischen Kulturzentrum der Republik. Sie gibt ein Frauenjournal und eine Kinderzeitung in tschuwaschischer Sprache heraus. Sie ist Dichterin, Poetessa, wie sie hier genannt wird, Kulturaktivistin und Visionärin. Der Kosmos ist ihr Zuhause. Aber ihr schönes ägyptisch-türkisch geschnittenes und von dunklen Locken umrahmtes Gesicht und ihr fester Schritt sind ganz von dieser Welt. Auch die Ausssicht aus ihrer Wohnung im 17.Stock eines der wenigen Betonhochhäuser der Stadt vermag sie sehr handfest zu genießen.
Soeben berichtet sie mir und ihren Begleitern bei einem Rundgang durch das „Tschuwaschische Staatsmuseum“ von jenem Buch mit arabischen Schriftzeichen, das vor ihrem dritten Auge erschienen sei. „Mir wurde klar“, ruft sie: „Das habe ja ich geschrieben! Ich kann kein Arabisch, aber ich wußte, daß das Buch von den Usprüngen des tschuwaschischen Volkes in Mesopotamien berichtet. Ich begriff, daß es meine Aufgabe ist, mich daran zu erinnern, was ich damals geschrieben habe, und dies unserer heutigen Bevölkerung nahezubringen.“
Raissas Einsatz gilt der Wiedergeburt des Tschuwaschischen Volkes. Bei Juden, Türken und Persern geht sie auf die Suche nach Spuren seiner langen Wanderung: Aus dem Zweistromland zuerst nach dem Osten Zentralasiens, von dort mit den Hunnen nach Westen; mit deren Zurückfluten aus Europa sei es schließlich an der mittleren Wolga hängengeblieben.

take 2: O-Ton Raissa, Forts.

Regie: O-Ton verblenden, langsam hochziehen, einen Moment stehen lassen, dann abbelnden und unterlegen.

Erzähler:     Vor allem aber ist Raissa Frau, Mutter und             Kämpferin für die Rechte der Frauen. Sie sieht sich als Nachfolgerin der Amazonen. Das Titelemblem der von ihr herausgegegeben Frauenzeitung zeigt eine junge Frau, geschmückt mit der „Ama“. Die „Ama“, erzählt Raissa, sei die traditionelle Perlenkappe mit einer auf dem Scheitel gen Himmel gerichteten Spitze, die von unverheirateten Frauen als Zeichen ihrer Unberührtheit getragen wurde und heute wieder wird. Die „Ama“ sei aus der Kriegskappe der Amazonen entstanden, erklärt Raissa. Bis zu ihrer Christianisierung im sechzehnten Jahrhunder, also zu einer Zeit als im Westen der Dreißigjährige Krieg tobte, habe das Matriarchat die Lebensweise der Tschuwaschen bestimmt. Erst mit der Christianisierung durch die Russen sei es durch das Patriarchat gebrochen worden.
Raissa wurde wie alle Sowjetkinder im atheistischen Glauben an die Revolution erzogen. Vater und Mutter, die wir auf dem Dorf besuchen, sind noch heute stolz auf die Pionierzeit. Raissa ist inzwischen getaufte orthodoxe Christin. Im Herzen aber ist sie der alten Religion ihres Volkes treugeblieben, dem aus Mesopotamien stammenden Zoroastrismus: Sonne, Feuer, Liebe, Seelenwanderung, Mensch und Kosmos als eine organische Einheit. Das sind die Themen, die sich in ihren Gedichten finden. „Der Mensch wird 777 mal wiedergeboren“, lacht Raissa, „niemand kann sich um die Verantwortung für unseren Planeten drücken. Wir haben früher gelebt, also sind wir verantwortlich für das, was jetzt ist. Wir werden in Zukunft leben, also müssen wir uns um das kümmern, was noch entstehen will. Die Wolga ist eine der Nahtstellen unseres Globus. Wenn sie stirbt, stirbt die Welt. Darum müssen wir uns um ihre Erhaltung kümmern. Wir Frauen“, schließt sie, „verstehen das am besten, denn als Mütter wissen wir, was es heißt, das Leben zu beschützen. Kein Mann kann das wirklich begreifen. – Aber wir werden es ihnen zeigen.“
Von Raissa kam ich mit der festen Überzeugung zurück, daß der Zerfall des staatssozialistischen Weltbildes nicht nur beängstigende Kräfte, sondern auch große menschliche Reichtümer freisetzt.

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