Zum Stichwort „neues Rußland“ läßt sich allerhand assoziieren. Viel Positives natürlich: Gorbatschow, Perestroika, Neues Denken, Entspannung, deutsche Vereinigung, neue Weltordnung. Nach Gorbatschow dann: Gescheiterter Putsch, Aufbruch der Reformer, Wiedergeburt der Person, des Glaubens, der Geschichte, Emanzipation der kleinen Völker gegen das überalterte sowjetisch-russische Imperium.
Aber da ist auch die andere Seite: Die permanente Krise, die Inflation, die Mafia, die nie endenden Putschdrohungen, die drohende Jugoslawisierung, die Gefahr eines Weltbürgerkrieges von noch nie gekannten Ausmaßen.
Welcher Seite soll man sich zuwenden?
Wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind es gewohnt, in Zerfallszeiten zu denken – erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg; für viele geht nun es mit dem Zerfall der Ordnungsmacht UdSSR, der sich in dem Rußlands fortsetzt, unaufhaltsam dem dritten großen Krieg entgegen. Die lange im Bann der russisch-sowjetischen Herrschaft gehaltenen Konflikte zwischen den Völkern des großen euro-asiatischen Raumes sieht man nun unkontrolliert hervorbrechen: In Kaukasien, in Moldawien, in Tadschikistan und anderen ehemaligen zentalasiatischen Republiken, im Baltikum. Auch an der mittleren Wolga, wo sich im Durchzugsgebiet der großen Wanderungen viele Völker im Lauf der Geschichte miteinander vermischt haben, bevor die Russen das Gebiet kolonisierten, kündigen sich große Veränderungen an. Jugoslawien erscheint vielen nur als schwacher Vorbote der kommenden Entwicklung. So lautet, nachdem die erste Freude über den Zerfall des Angstgegners Sowjetunion vergangen ist, die allgemeine westliche Linie denn auch: Stärkt Moskau. Nur ein starkes Moskau, so scheint es vielen, könne das das drohende Chaos abwenden. Nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen, so war es auf einem der letzten Seminare deutscher Wirtschaftsvertreter zur russischen Frage zu hören, lasse sich die Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft vollziehen. Der chilenische Weg läßt grüßen.
Schwierig ist es dagegen, die andere Seite zu sehen, die Keime des Neuen in der zusammenbrechenden alten Ordnung zu erkennen. Schwierig ist es, weil ein festgelegter Blick nur das als positiv erkennt, was bekannt ist. Gut, so meinen viele, sei es, wenn die ehemalige Sowjetunion nun nach dem Modell der westlichen Demokratien funktioniere. Offensichtlich aber funktioniert sie nicht so. Nicht nur die in siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft gewachsenen Strukturen widersetzen sich ihrer einfachen Umkehrung. Auch die Hinterlassenschaften des in tausend Jahren gewachsenen russischen Imperiums fordern ihre Rechte in der jetzigen Umwandlungsphase. Das Wichtigste: Der Vielvölkerstaat und der tief in den Völkern des russischem Imperiums verwurzelte Kollektivismus, zwei Elemente, die nirgend sonst in der Welt in dieser Form, in dieser Intensität und in dieser Kombination zu finden sind.
Das für den Raum Neue, die Privatisierung des Besitzes und die Dezentralisierung der Herrschaft, tritt im Kampf mit dieser Geschichte an, nachdem jetzt auch für dieses Imperium die Stunde gekommen ist, die für die westlichen Imperien klassischen Zuschnitts schon mit dem ersten und dem zweiten Weltrieg geschlagen hatte. Nicht eins seiner inneren Probleme ist mehr durch weitere Ausdehung lösbar. Der Staatskollektivismus drohte durch Gängelung jeglicher persönlicher Initiative zudem eine Erneuerung der Gesellschaft von unten endgültig zu ersticken.
Aber auch wenn das alte System in den Augen ausnahmslos aller Bewohner und Bewohnerin des Landes reformbedürftig war, auch wenn nicht einmal ein Mensch von denen, die lauthals über die jetzige Krise schimpfen, tatsächlich zurück will vor die Zeit Gorbatschows, so ist doch auch klar, daß sich das Neue nicht gegen, sondern nur auf Grundlage der gewachsenen Gegebenheiten dieses Landes entwickeln kann. Schritt für Schritt müssen alte kollektive und neue selbstbestimmte Strukturen, alter Zentralismus mit neuen föderalen Prinzipien ineinandergreifen, wenn nicht das Alte einfach zerstört werden soll, ohne funktionsfähiges Neues an dessen Stelle zu setzen. So wie die Japaner einen japanischen Weg der Entwicklung, so müssen die Russen einen russischen finden, auf dem die materiellen und die geistigen Bedürfnisse einer zweihundertfünfundzig Millionen umfassenden Bevölkerung mit den Lebenserwartungen von Weltbürgern des 20. Jahrhunderts befriedigt werden können.
Dies ist zur Zeit die eine große Herausforderung, und zwar nicht nur für die russische Bevölkerung wie die anderen Völker des euro-asiatischen Raumes, sondern auch für ihre westlichen Berater: Die Strategie der Total-Privatisierung führt zur Zerstörung der alten Strukturen, bevor etwas Neues entstehen konnte. Wer sich ein einziges Mal in Fabriken, in Instituten, in Sowchosen und Dörfern auf dem Lande umsieht, der oder die kann die Folgen nicht übersehen: Geschlossene Betriebe, bankrottierende Sowchosen, eine zerfallende soziale und materielle Infrastruktur. Früher waren die Kollektive für Wegebau, für die Sozialversorgung, für die Kultur usw. verantwortlich. Jetzt liegt das in der Kompetenz der „neuen Macht“. Die aber hat kein Geld, er mangeln die Erfahrung und die alten Verbindungen. In der Folge all dessen besteht die Gefahr des vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zusammenbruchs mit unabsehbaren Folgen. Es müssen andere Wege gefunden werden als die der bloßen Liquidierung des Alten, Wege, auf denen kollektive und privaten Formen des Wirtschaftens auf lange Sicht miteinander koexistieren, ja im Ineinandergreifen neue Formen des sozialen Lebens sich entwickeln können. Der gegenwärtige Konflikt zwischen Boris Jelzin und dem obersten Kongreß hat wesentlich die Auseinandersetzung um diese Frage zum Inhalt. Dort stehen sich wesentlich Jelzins Administratoren und die gewählten Direktoren der Kollektive gegenüber. Für die Fortsetzung der Reform sind beide Seiten – aber wie, ohne die sozialen Strukturen soweit zu zerreißen, daß die alte Motivationslosigkeit nur durch eine neue ausgetauscht wird? In der Suche nach einem Kompromiß zwischen Staatskollektivismus und Totalprivatisierung liegt die Kraft des Neuen.
Die andere Herausforderung liegt in der Befreiung der neuen Völkervielfalt, deren Grundlage die Besinnung auf den Wert des Einzelnen, der Minderheit, des kleinen Volkes gegenüber Jahrzehnten der sozialistischen Gleichmacherei und davor liegenden Jahrhunderten der Russifizierung ist. Auch in der Entwicklung gleichberechtigter Beziehungen verschiedener Völker liegt die Kraft des Neuen – wenn die alten zentralistischen Mächte, wenn das alte zentralistische Bewußtsein es zuläßt.
In dem Feature „Jenseits von Moskau“ versuche ich, ein Stück dieser Entwicklung greifbar zu machen.
Kai Ehlers, 29.4.93
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