Wetter zieht auf – Kommt ein sowjetischer Pinochet? Bilanzen zur Perestroika

Vorlauf:
(Schlagzeilen der letzten Wochen, von verschiedenen SprecherInnen verlesen.)
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Tote in Wilna. Kämpfe in Georgien. Unruhen in Kasachstan.
Fünfzig- und Hundertrubelscheine entwertet. KGB zur Wirtschaftskontrolle ermächtigt. Doppelstreifen aus Militär und Polizei im zivilen Alltag eingeführt. Nationales Rettungskomitee für den Einsatz von Milizen eingerichtet. Zensur erneuert. Glasnost-Sendungen in TV und Radio abgesetzt. Verordnungskrieg Gorbatschows gegen Jelzin und die übrigen Republiken. Attacken der Ultrakonservativen unter dem Obristen Alksnis gegen Gorbatschow. Gorbatschow schweigt auf dem Plenum der KPdSU.

Erzähler:
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Kurswechsel im Kreml? Gesinnungswandel bei Gorbatschow? Perestroika gescheitert? Oder gelangt Perestroika jetzt erst an ihr eigentliches Ziel, wie der Historiker Juri Afanasjew, selbst Deputierter, vor der „überregionalen Abgeordnetengruppe“ des obesten Sowjet erklärte? Droht gar ein sowjetischer Pinochet, der die „neuen Kapitalisten“ mit einem ökonomischen Stabilitätsprogramm zu einem sowjetischen Wirtschaftswunder aufzupäppeln verspricht? Solche Befürchtungen waren aus dem Munde sowjetischer Oppositioneller inzwischen schon zu vernehmen. Wer sind die „neuen Kapitalisten?“ Wie realistisch sind solche Erwartungen?
Aus den Nachrichten der Stunde sind diese Fragen allein nicht zu beantworten. Schauen wir daher zurück.

Sprecher:
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April 1985: Unter dem Stichwort der „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ präsentiert das turnusmäßig tagende Plenum der KPdSU einer aufmerkenden Öffentlichkeit im In- und Ausland ein gigantisches Modernisierungsprogramm. Atom-, Computer- und Biotechnologie sollen verstärkt ausgebaut, die übrige Produktion intensiviert, rationalisiert und effektiviert werden. Zur Jahrtausendwende soll der wissenschaftliche, technologische und soziale Vorsprung des Westens eingeholt, von diesem Zeitpunkt an überholt sein. Was die Welt aufmerken läßt: nicht der seit Jahrzehnten ritualisierte bürokratische Appell zu mehr sozialistischer Aufbauleistung, sondern die Aktivierung des Faktors Mensch, wie die neue Sprachregelung lautet, soll die Grundlage des geplanten Sprungs ins 2. Jahrtausend sein: Prestroika durch Glasnost, Wandel durch Demokratisierung.
Im Februar 1986 gibt der 27. Parteitag der KPdSU dem Programm die Weihe einer revolutionären Erneuerung des Sozialismus. Zugleich betont er den systemimmanenten Charakter der geplanten Reformen:

Offizielle Stimme:
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„Was verstehen wir unter einer Beschleunigung? In erster Linie geht es um die Temposteigerung beim Wirtschaftswachstum. Doch nicht nur darum. Ihr Wesen besteht in einer neuen Qualität des Wachstums: in der größtmöglichen Intensivierung der Produktion auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der strukturellen Umgestaltung der Wirtschaft, der Anwendung effektiver Formen der Leitung, der Arbeitsorganisation und Stimulierung.
Der Kurs auf die Beschleunigung läuft nicht (! – d.V.) auf Umgestaltungen im Wirtschaftsbereich hinaus. Er sieht vor, daß eine aktive Sozialpolitik betrieben und das Prinzip der sozialistischen Gerechtigkeit konsequent durchgesetzt wird. Die Beschleunigungsstrategie setzt Vervollkommnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Erneuerung der Arbeitsformen und -methoden der politischen und ideologischen Institutionen, Vertiefung der sozialistischen Demokratie und entschlossene Überwindung von Trägheit, Stagnation und Konservativismus, d.h. all dessen voraus, was den gesellschaftlichen Fortschritt hemmt.
Das Wichtigste, das uns den Erfolg zu sichern hat, ist das lebendige Schöpfertum der Massen, ist die maximale Nutzung der immensen Möglichkeiten und Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“

Sprecher:
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Während der Westen noch die ungewohnten Worte ‚Perestroika‘ und ‚glasnost‘ buchstabieren lernte, überschwemmte Gorbatschows Lieblingsparole `delo, delo, delo‘, etwa: `mach, mach, mach`, ‚Tat, Leistung, Verantwortung‘, bereits in Broschüren, auf Plakaten, Ansteckern und Versammlungen das Land. Gorbatschow verschwieg auch nicht, daß der Weg zum westlichen Lebensstandard über die Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten, möglicherweise gar durch eine vorübergehende Krise führen werde. Aber erst Tatjana Saslawskaja, Soziologin, Wegbereiterin der Perestroika noch vor Gorbatschows Berufung, danach vorübergehend in seinen engsten Beraterkreis aufgerückt, konfrontierte die sowjetische Öffentlichkeit in den Jahren ’87 und ’88 mit der häßlichen Seite der Perestroika. Gestützt auf umfangreiche statistische Daten und Meinungsumfragen zu den Ursachen und dem bisherigem Verlauf der Perestroika erklärte sie ungeschminkt:

Tatjana Saslawskaja:
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„Alle diese Ausführungen belegen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Spezialisierung und Vernetzung der Produktion dem Faktor Mensch in der Wirtschaft eine zunehmend zentrale Rolle zuweisen. Gleichzeitig aber sind die soziokulturellen Ansprüche der Arbeitskräfte gestiegen, während der Druck zur Arbeit nachgelassen hat. Deshalb wird die Steuerung der Arbeitskräfte immer schwieriger, oder, genauer gesagt, sie werden autoritären und bürokratischen Verwaltungsmethoden gegenüber unempfänglicher.“

Sprecher:
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Perestroika, so Frau Saslawskaja, werde deshalb zu einer „klaren Abgrenzung der gewissenhaften Arbeiter von den Schluderern“ führen. Überhaupt sei Perestroika keineswegs eine soziale Revolution, etwa der Arbeiter und Bauern gegen den Apparat, den Handel und das Dienstleistungsgewerbe. Dazu sei die Mehrheit der Bevölkerung weder bereit noch fähig. Perestroika ziele auf Aktivierung der qualifiziertesten Kräfte aller Klassen, Schichten und Gruppen, sei eine politische Revolution der demokratisch gesinnten gegen die rückständigen und reaktionären Teile des Volkes. Andererseits werde Perestroika die Lage der sozialen Gruppen zueinander grundlegend verändern, wobei die einen auf Kosten der anderen Vorteile erlangen würden. Die notwendige Rationalisierung werde zu Arbeitslosigkeit, vielleicht zu Massenelend führen. Nicht zuletzt Frauen mit Kleinkindern, Kranke, Alte, sowie, allgemeiner gesehen, schwächer entwickelte Teile der Union würden davon betroffen. Zwangsläufig, so Frau Saslawskaja, müsse man mit erheblichen sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Perestroika rechnen.

Tatjana Saslawskaja:
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„Das ist ein organisches Ergebnis der Umgestaltung, jener ’soziale Preis‘, den man für die beschleunigte sozial-ökonomische Entwicklung des Landes und die Überwindung seiner Rückständigkeit zahlen muß.“

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Erzähler:
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Spätestens mit Frau Saslawskajas Warnungen war das Dilemma der Perestroika öffentlich benannt: Die Katze sollte gewaschen werden, ohne sie naß zu machen. Die jahrzehntelange Gleichmacherei sollte aufgebrochen werden, aber ohne soziale Differenzierungen. Eine Revolution wurde propagiert, jedoch nur soweit es der Erneuerung der bestehenden Verhältnisse, letztlich natürlich der des Eigentums, dienen würde. Frau Saslawskaja empfahl die Ausarbeitung einer, wie sie es nannte, „Strategie der sozialen Leitung der Perestoika“, in der das Maß des unvermeidlichen sozialen Preises gegen die daraus entstehende Unruhe abgewogen werden müsse. Wer aber Objekt, wer Subjekt dieser Strategie sein sollte, darauf blieb die Theoretikerin die Antwort in ihrer Bilanz ebenso schuldig wie Gorbatschow zuvor in der Praxis. Was blieb, war der Aufruf der Reformer zur Demokratisierung und die Formel, ‚das Leben selbst‘ werde das richtige Maß herstellen.
Als ‚Neues Denken‘, ‚Glasnost‘, ‚Selbstverwaltung‘ eroberte die demokratische Seite der Perestroika, getragen von Gorbatschows Charisma, die Herzen der sowjetischen Intelligenz und, wie von Tatjana Saslawaskaja vorausgesehen, der aktiven Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die sog. Informellen, bis dahin ausgeschlossen von politischer Gestaltung, stürzten sich auf die Vorbereitungen der Wahl zum obersten Sowjet. Als dieser im Sommer ’88 mit einem Achtungserfolg der demokratischen Kräfte konstituiert war, ging die Aufmerksamkeit und die Hoffnung der neuen Bewegung auf die unionsweit bevorstehenden Wahlen für die Republik- Stadt- und Bezirkssowjets über. Programmdebatten überschwemmten das Land. Die Kandidatensuche begann. Wer irgend verfügbar war, wurde zur Kandidatur überredet. Es galt, die neue Macht zu installieren. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die ökonomischen Seite, die zunehmende soziale, bald auch nationale Differenzierung, der soziale Preis der Perestroika, wie es Tatjana Saslawskaja genannt hatte, rutschte ins Abseits der demokratischen Aufmerksamkeit, wurde in Statistiken, Kommissionen, theoretische Wettbewerbe, auf die Schreibtische der Bürokraten, letzlich also ins Belieben der nach wie vor im Hintergrund aktiven Vertreter der alten Macht verdrängt.

Sprecher:
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Im Sommer 1989 steht Leningrad im Fieber eines öffentlichen Wettbewerbs um „Chosraschott“, Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung. Alle namhaften ökonomischen Institute sind mit detailliert ausgearbeiteten Strukturanalysen und Veränderungsvorschlägen beteiligt. Eine Gruppe um Alexandra Dimitriwa vom finanz-ökonomischen Institut, die ähnlich wie Tatjana Saslawskaja eine kritische, wenn auch jüngere Soziologengruppe repräsentiert, bringt die Vorstellung eines touristisch ausgerichteten Technopolis ins Spiel, das um Leningrad herum entstehen müsse. Politische Gruppen wie die radikaldemokratische Sammelbewegung „Volksfront“ wollen freie ökonomische Zonen entwickeln. Eine eher grün orientierte unabhängige Wissenschaftlergruppe fordert langfristige ökologische und ökonomische Normen, Limits und Quoten für den zukünftigen Umgang mit den Ressourcen. In einem sind sich alle Teilnehmer einig: Es muß dezentralisiert werden. Koste es, was es wolle. Die öffentliche Debatte darüber blüht. Wie dies aber verwirklicht werden soll, vor allem, was das für die Frage des Eigentums heißt, wird öffentlich nicht erörtert. Die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln bleibt tabu.
Im estländischen Tallin, von dem die Initiative für das Konzept der Selbstbewirtschaftung Mitte der 80er ausgegangen war, ist man zur selben Zeit von Konzepten der Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung schon zur Befürwortung freien Unternehmertums übergegangen. Das führt auf der einen Seite zu harten Konfrontationen mit den Moskauer Monopolen. Dieselben Menschen, die im Namen der Perestroika gegen Moskau kämpfen, haben andererseits auf die Frage, wie nach Einführung privatkapitalistischer Bedingungen die soziale Gerechtigkeit hergestellt werden soll, keine Antwort. „Wir müssen den Menschen beibringen, hart zu arbeiten“, erklärt Arvo Kuddo Besuchern aus dem Westen, die ihn danach fragen. Im übrigen werde die Zukunft zeigen, was nötig ist. Arvo Kuddo ist inzwischen Sozialminister von Estland.
Der oberste Sowjet der Union befindet sich, kaum zusammengetreten, bereits in der ersten Phase seines Autoritätsverfalls: Während die wirtschaftliche Situation sich zusehends verschlechtert, die Bevölkerung sich auf einen bevorstehenden Krisenwinter einstellt, die soziale und nationale Differenzierung der Union voranschreitet, liefern sich die frischgebackenen Abgeordneten prinzipialistische Redeschlachten über die Frage der gleichberechtigten Zulassung unterschiedlicher Eigentumsformen neben dem sog. sozialistischen, d.h. dem Staatseigentum. Entscheidungen werden nicht getroffen. Stattdessen werden z.B. Verordnungen verabschiedet, die die zuvor propagierten Freiheiten für private unternehmerische Initiative steuerrechtlich soweit einschränken, daß solche Initiativen praktisch in die Illegalität, mindestens aber in die Halblegalität oder – im Fall privater Bauernwirtschaft – unter die Rentabilitätsgrenze abgedrängt, wenn nicht in vielen Fällen sogar einfach erdrosselt werden.
Die steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst den Rechten zu. Sie machen Gorbatschow für die Krise verantwortlich. Organisationen wie die „Front der Werktätigen“, russisches Kürzel: OFT, und verschiedene Gruppierungen der nationalistischen „Pamjat“-Bewegung agitieren heftig gegen „Neue Kapitalisten“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen die „zionistisch-kosmopolitische Verschwörung“ usw. Noch aber stehen sie im Schatten der bevorstehenden Kommunalwahlen, in denen die demokratische Bewegung nach allgemeiner Meinung zu ihrer eigentlichen Bewährungsprobe antreten soll.

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Erzähler:
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Im Herbst ’89 konnte man allerdings auch schon andere Stimmen hören. Immer mehr Menschen warnten vor einer Zuspitzung der Krise nach Art der Weimarer Republik. Andere befürchteten einen Bürgerkrieg wie zu Zeiten der Bolschewiki. Eine gemeinsame Front gegen die Gefahr kam allerdings noch nicht zustande. Zu unterschiedlich waren die praktischen Konsequenzen.

Sprecher:
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Da ist zum Beispiel Lena Zelinski, Lehrerin, langjährige Dissidentin, Perestroika-Aktivistin der ersten Stunde. 1987 hatte sie ihre Aktivitäten noch voll auf die bevorstehende Wahl zum obersten Sowjet konzentriert. Im Sommer ’89 nahm sie an einem Managerseminar in den USA teil. Im Herbst ’89 stellte sie ihre neugegründete Agentur für Wirtschaftsnachrichten, ‚postfaktum‘, der sowjetischen Öffentlichkeit vor. Nach Gründen für diese Wandlung befragt, antwortete sie:

Lena Zelinski:
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„Wir wollen eine Managerschule eröffnen. Das Land braucht professionelle Manager. Nur so werden wir imstande sein, die Mißwirtschaft und die Desorganisation des alten Systems zu überwinden. Nur so werden wir die erste kriminelle Welle von Kooperativen durch tatsächliche neue Unternehmen verdrängen können. Es gibt ja bei uns kein gewachsenes unternehmerisches Know how. Wenn wir es nicht schaffen, eine Schicht professioneller Manager auszubilden, wird sich nichts weiter als eine Erneuerung des alten Sumpfes herstellen – Kommandoallüren, Schlamperei, Mafia. Die alten Bürokraten werden mit den neuen Reichen kungeln. Die Zeit der schönen Worte ist vorbei. Man muß Gorbatschow gegen die Roll-back-Versuche der rechten, aber auch gegen die provokative Prinzipienreiterei der Linken unterstützen. Die realistischen Kräfte müssen jetzt von der Politik zu ökonomischen Fragen kommen, sonst geht die Krise in einen Zusammenbruch über, der schlimmer wird als vorher. Das wäre die Stunde einer neuen Dikatur, egal ob von links oder rechts.“

Sprecher:
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Als geradezu prophetisch könnte sich das Bild erweisen, das Ekaterina Podoltsewa, ideologischer Kopf der Leningrader Gruppe der „Demokratischen Union“ zu der Zeit entwarf. Die „Demokratische Union“ war die erste politische Gruppe, die einen Parteianspruch außerhalb der KPdSU stellte. Ihr Motto ‚Stroika statt Perestroika‘, Aufbau statt Umbau, Demokratisierung, statt Liberalisierung und ein entschiedener Aktivismus auf dieser Linie hat dieser Gruppe in der sowjetischen den Opposition den Vorwurf des Linksradikalismus eingetragen.

Ekaterina Podoltsewa:
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„Wir werden uns an den bevorstehenden Wahlen nicht beteiligen. Eine Beteiligung daran schafft nur Illusionen über die angebliche Demokratisierung. Sie verbraucht die geringen Kräfte der Opposition und lenkt von der Notwendigkeit der grundsätzlichen Umwälzung des totalitären Systems ab. Um die Krise überwinden zu können, brauchen wir jetzt eine verfassungsgebende Versammlung, eine Regierung und ein Parlament, die vom Volk gewählt werden müssen. Ich weiß natürlich, daß das unmöglich ist. Die Inflation wird steigen. Die Leute werden in Panik geraten. Die Kriminalität wird wachsen. Die Regierung wird gebeten werden, den Notstand auszurufen. Gorbatschow wird Diktator sein, aber nicht durch Umsturz, sondern durch legale Ermächtigung. Die Leute werden ihm sogar dankbar sein, daß er die Ordnung wiederherstellt und der Westen wird ihm Kredite geben.
Der Westen glaubt an demokratische Massenproteste in der UdSSR. Bei uns hat man Angst vor einer Explosion des Bürgerkriegs. Wir haben Angst vor Verbrechern, die ihre Gewehre nehmen. Früher gab es hier revolutionäre Kämpfe. Heute, glaube ich, ist hier ein revolutionärer Bürgerkrieg unmöglich. Es wird nur die Kriminalität anwachsen, irgendetwas Grauenhaftes wird geschehen. Ich glaube, daß Gorbatschow auf 15 braune Republiken zusteuert. Schauen Sie sich die Propaganda an. Schauen Sie sich die Lage in den Republiken an. Gorbatschow wird einen eigenen Weg der baltischen Länder nicht zulassen.“

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Erzähler:
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Im Sommer 1990, nach der Wahl, war die Desillusionierung allgemein. Zwar zog die Wahlbewegung gegen heftigen Widerstand der konservativen Kräfte, insbesondere der KPdSU, als neue Macht in die Rathäuser Moskaus, Leningrads, Kiews, der baltischen Hauptstädte sowie vieler kleinerer Orte ein. In rückständigeren Landesteilen konnte sie mindestens ihre Position als legale Opposition ausbauen. Ihr Machtantritt offenbarte aber zugleich ihre Machtlosigkeit. Die Bevölkerung entdeckte die Grenzen der neuen Macht. Die neue Macht begann die Grenzen der Demokratisierung zu entdecken. Die ökonomische Frage rückte ins Zentrum. Wachsende Unsicherheit über den sozialen Preis der weiteren Entwicklung und darüber, wer ihn zu zahlen haben würde, erfaßte das Land.

Sprecher:
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Hören wir z..B. Wladimir Sagowski, Jude, früher journalistischer Gelegenheitsarbeiter, einer von denen, die zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Seit Ende ’89 ist er Coach und Vizepräsident des „Tennisklubs auf der Burevestnik“, einer Kooperative. Der Klub ist heute eine der bekanntesten Adressen unter den Sportfans Leningrads. Wladimir verdient gut, hat eine angenehme Arbeit in angenehmer Umgebung. Er könnte zufrieden sein. Aber bei ihm klingt es wie bei allen, die man in diesen Tagen befragt:

Wladimir Sagowski:
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„Einerseits ist alles in Ordnung. Ich kann normal leben, sogar besser als früher. Andererseits – die wachsenden sozialen Spannungen! Keiner weiß, wo das enden wird. Es sind ja letztlich nur Wenige, die eine Chance haben, noch Wenigere, die sie auch ergreifen. Viele sinken durch Perestroika noch weiter ins Elend als in den Jahren zuvor.“

Sprecher:
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Wie um sich selbst zu beschwören, wiederholt Wladimir immer aufs Neue das Wort: „talantliwi ludi“, „begabte Leute“. „Begabte Leute“ seien früher niedergehalten worden. Ohne „begabte Leute“, die ihre Chance wahrnähmen, gebe es keinen Fortschritt. Perestroika sei diese Chance gewesen. Die einfachen Leute aber, die von Perestroika keine Vorteile hätten, sondern immer noch zu denselben, z. T. sogar schlechteren Bedingungen arbeiten müßten, entwickelten einen wachsenden Haß gegen die „Konjunkturschiks“, die Nutznieder der Perestroika: Intellekturelle, Künstler, Kooperativen.

Wladimir Sagorski:
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„Die OFT, Pamjat und andere schüren diesen Haß. Sie versuchen ihn auf die Juden zu lenken. Sie sagen, es seien die Juden, die den Westwind nutzten, die privatisieren und Geld machen wollten – während die Russen in der Fabrik und auf der Sowchose schuften müßten. Die Juden werden als Sündenböcke aufgebaut. Im Grunde aber zielt der Haß der Leute, den Pamjats, OFT und andere zu schüren versuchen, nicht nur auf die Juden, sondern auf die ganze neue Schicht der ‚begabten Leute‘, die ihre Chance wahrnehmen wollen.
Wenn Juden heute auswandern, dann nicht wegen eines akuten Antisemitismus. Der ist nicht schlimmer als früher, ist eher zurückgegangen. Immerhin können Juden jetzt auswandern, Klubs bilden, Judenschulen eröffnen. Die aktuelle Besserstellung gegenüber anderen, die das Land nicht verlassen dürfen, ist im Gegenteil sogar ein Grund für die Stimmung gegen sie. Hauptgrund für die Auswanderung ist der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, die eigenen Fähigkeiten besser zu verwirklichen und den Kindern ein chancenreicheres Leben zu ermöglichen. Immer weniger Menschen glauben, daß das bei uns noch möglich ist, nachdem Perestroika anfangs Hoffnungen geweckt hat. Unbestreitbar nimmt auch die Angst vor Pogromen zu. Aber nicht wegen aktueller Übergriffe. Es ist die Angst, daß die Krise wie damals in Deutschland zur Diktatur führt und es im Zusammenhang damit zu rassistischen Ausschreitungen kommt. Das kann durchaus sein. Ich kann die Leute, die gehen wollen, sehr gut verstehen. Aber ich fühle mich als Russe. Da ich neben meinem Job hier auch als Journalist weiter arbeiten will, bin ich zudem darauf angewiesen, in dem Land zu leben, in dessen Sprache und Kultur ich zuhause bin. Ich werde meine Chance weiter hier suchen, auch wenn ich die Zukunft eher düster sehe.“

Sprecher:
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Lena B. ist Gewerkschaftsfunktionärin. Sie arbeitet in einem Computerbetrieb. Mit etwas über 300 Rubeln im Monat gehört sie schon zu den besseren Verdienerinnen, wenn auch nicht zu den ökonomischen Nutznießern der Perestroika. Sie teilt sich eine Zweizimmerwohnung und eine kleine Datscha mit ihrer Mutter. Lena hat selbstverständlich demokratische Kandidaten gewählt. Im Winter 89/90 machte sie die erste Westreise ihres Lebens. Vieles hat sich verändert, findet sie. Glasnost und die neuen Freiheiten möchte sie nicht missen. Auch Lena klagt über die neuen Ungerechtigkeiten.

Lena B:
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„Es gibt Leute, bei denen sammelt sich inzwischen viel Geld. Stimmt. Aber allgemein ist es Quatsch, wenn die Regierung behauptet, die Menschen hätten zu viel Geld. Die Mehrheit verdient nicht mehr als früher, obwohl viele mehr arbeiten. Der Durchschnitt liegt immer noch bei 250 Rubel per Monat. Das ist die offizielle Zahl. In Wirklichkeit ist sie noch zu hoch angesetzt, weil da auch die hohen Gehälter mitgerechnet werden. Viele Frauen verdienen, obwohl sie voll im Beruf stehen, nicht mehr als 100, 120 oder 150 Rubel. Schau mich an! Ich bin Spezialistin! Aber auch bei mir sammelt sich nichts. Umgekehrt: das Geld ist jeden Tag weniger wert. Die Menschen werden allmählich sauer. Nach 5 Jahren Perestroika wird das Leben immer schwieriger. Nimm auch jetzt die Einrichtung der Valutaläden: Wer kann da kaufen? Die einfachen Leute nicht. Sie haben keine Valuta. Leute wie ich auch nicht. Spekulanten sammeln sich dort, Leute, die sich auf dunklen Wegen Valuta besorgen. Sie kaufen dort – und werden dann teuer weiterverkaufen. Alles auf Kosten der kleinen Verdiener. Die Mehrheit hat aus solchen Gründen Angst vor der Einführung des privaten Eigentums. Ich selbst übrigens auch. Die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit ist groß. Es gibt bei uns kein soziales Netz, das die Absteiger affängt. In Zukunft wird es bei uns heißen: Jeder ist sich selbst der nächste! Egoismus statt Kollektivismus! Die schlechten Seiten beider Systeme werden sich zu einer Wolfsgesellschaft addieren.“

Sprecher:
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Lena ist kein Parteimitglied. Sie haßt die Partei. Sie haßt auch die OFT wie überhaupt alle, die von einer Erneuerung des Sozialismus sprechen. Der habe sich gründlich verbraucht, findet sie. Aber sie verteidigt tapfer seinen sozialen Anspruch. Wofür brauchen wir neue Millionäre, schimpft sie. Sie finde es richtig, wenn das Volkseinkommen mäßig, dafür aber gleichmäßig allen zugute komme. Sie wisse ja, daß dieses Bild für die zurückliegenden Jahre der UdSSR nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, aber die beginnende Individualisierung, der Verlust aller Werte, die früher etwas gezählt hätten, insgesamt die absehbare Brutaliserung sei schrecklich. Kein Wunder, daß Gruppen wie „Pamjat“ oder „OFT“ mit Parolen gegen das Privateigentum Gehör bei den Massen fänden. Wenn die Krise sich weiter so zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung entwickle, sei zu befürchten, daß die „Bewegung gegen die westliche Degeneration“, wie sie sich auch nenne, weiteren Zulauf bekomme. Im Moment sei es ja ruhig um diese Gruppen geworden, nachdem sich im letzten Sommer große Proteste gegen sie erhoben hätten. Man höre jetzt kaum noch etwas von ihnen. Überhaupt herrsche nach den Kommunalwahlen vom Frühjahr Ruhe vor dem Sturm.

Lena B:
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„Die Leute warten ab, was die neuen Sowjets bringen. Viel wird es nicht sein. Zu viele Programme, zu wenig Taten. Überall gibt es Probleme. Der Apparat stellt sich quer. Viele reden deshalb von Doppelherrschaft. So wie in Polen mit der Solidarnosc‘. Aber davon sind wir weit entfernt, glaube ich. In Wirklichkeit haben die Sowjets kaum konkrete Macht. Der Apparat ist noch nicht gebrochen. Sie haben noch alles, Partei, KGB usw., du verstehst?! Zum Fürchten war der Auftritt der Militärs beim russischen Parteitag. Sie haben offen mit der Militärdiktatur gedroht! Im Winter kann alles ganz anders aussehen. Bängstigend! Aber was soll man machen! Stoßen wir an! Wir sowjetischen Menschen haben gelernt, auch in den ausssichtslosesten Lagen zu lachen. Der Zarismus, die 70 Jahre Geschichte unseres Sozialismus haben das so mit sich gebracht. Auf die Zukunft! Wir werden es überleben. Wir geben die Hoffnung nicht auf.“

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Erzähler:
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Einer der neuen Hoffnungsträger, ein typischer Vertreter der neuen Macht, begegnet uns in der Person von Alfred Koch. Alfred Koch ist seit den Wahlen des Frühjahrs ’90 Bürgermeister von Sestrorjetzk, einem Städtchen dreißig Kilometer nördlich von Leningrad. Ich traf ihn durch Vermittlung eines langjährigen Freundes, dem er einen Platz für das Begräbnis von dessen Mutter auf einem der schönen Waldfriedhöfe des Sestrorjezker Rayons vermittelt hatte. Man muß wissen: ein Friedhofsplatz nach eigener Wahl ist heute in einer Stadt wie Leningrad fast noch schwerer als eine Wohnung zu finden. Die Bestattungsbürokratie ist überlastet – und im Übrigen genau wie das ganze Land im Umbruch. Die Norm ist Verbrennung. Makaber zu sagen, aber auch auf die endgültige Abfertigung muß der durchschnittliche Sowjetbürger noch in der Schlange warten. Bis zur Verbrennung, nicht selten über Wochen, werden die Leichen in der Kühlhalle aufbewahrt. Der Urnenplatz wird zugewiesen. Wer diese Routine mit Erdbegräbnis, Wunsch nach selbstbestimmten Grabplatz usw. durchbrechen möchte, muß Verbindungen spielen lassen und zahlen.
Solch ein Mensch ist Alfred Koch: Er kümmert sich selbst um die Sorgen der Sestrorjezker, „meiner Leute“, wie er sie nennt. Am zweiten Tag unserer Begegnung konnte ich ihn in seinem Amtssitz eine Bahnstunde außerhalb Leningrads dabei erleben, wie er seine wöchentliche Petitionsstunde abhielt. Gut zwanzig Mütterchen, aber auch gestandene Männer und erwachsene Frauen drängten sich durch das enge Vorzimmer. Namentlich aufgerufen, traten sie einzeln vor seinen Schreibtisch, unsicher, verlegen, manche vor Kummer oder Rührung weinend. Alfred Koch hörte sich ihren Kummer an: Klagen über barbarische Wohnverhältnisse, Willkür mittlerer Bürokraten, Streitfälle um Grenzsteine. Er fragte nach, notierte, versprach Bearbeitung, ließ Dankesbeteuerungen über sich ergehen. Souverän. Gleichbleibend freundlich.
Mit einem der Petitenden führte er ein längeres Gespräch. Der Mann beklagte sich, daß notwendige Baumaßnahmen an dem Garten- und Hotelbetrieb, den er leite, von der Kommune immer wieder verschoben würden, obwohl der Betrieb mit wenig Investitionen profitabel gemacht werden könnte. Alfred Koch schlug ihm vor, die Sache mit einer Kooperative selbst in die Hand zu nehmen. Er selbst werde sich um den notwendigen Kredit für ihn bemühen. Sichtlich beindruckt verließ der so Angesprochene nach einem langen Händeschütteln den Raum.
Wenn die Frage des Privateigentums im obersten Sowjet nicht entschieden werde, erklärte mir Alfred Koch, dann müse man eben an der Basis beginnen. In „seinem“ Bezirk habe er seit seinem Amtsantritt jede private Initiative ermundert. Morgen werde er eine Verordnung zur Legitimierung von Privateigentum für den Geltungsbereich seines Bezirks erlassen.

Sprecher:
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Alfred Radolfowitsch Koch ist 28 Jahre alt. Er entstammt einer deutschen Familie aus Kasachstan. Er ist verheiratet und Vater einer zehnjährigen Tochter. Er absolvierte ein Studium als Ökonom am Finanz-ökonomischen Institut in Leningrad, das er mit 26 als Doktor der Ökonomie abschloß. Anschließend schlug er sich zwei Jahre als Lehrer in diesem Fach durch. Im Frühjahr, erzählt er, als er soeben mit dem Gedanken gespielt habe, in den Westen zu emigrieren, sei er über die Anzeige des neugewählten Sestrorjezker Sowjets in der Tagespresse gestolpert. Dort war man auf der Suche nach einem neuen Bürgermeister. Alfred sandte ein Konzept ein und wurde von der Findungskommission des neuen örtlichen Sowjets unter sechs Bewerbern zum neuen Bürgermeister von Sestrorjezk gekürt. Seitdem pendelt Alfred täglich zwischen seinem durch Bretterwände unterteilten Zimmer in einer kommunalen Wohnung in der Leningrader Innenstand und dem pompösen Amtssitz am Sestrorjezker See hin und her. In Zimmer seines kommunalen Quartiers, wo er mit Frau und Tochter mehr haust als wohnt, ist er von Alkoholismus, Dreck und Elend eingekreist. Vom Schreibtisch seines Amtszimmers aus, von dem er das gegenüberligende das Ende des Raumes kaum noch erkennen kann, regiert er über mehr als 30.000 Seelen eines Kur- und Wohngebietes, das sich vom nördlichen Vorstadtrand Leningrads mehr als hundert Kilometer an der Küste des finnischen Meerbusens hinaufzieht. Alfred Kochs Credo ist einfach:

Alfred Koch:
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In fünf Jahren will ich es geschafft haben. Dann soll mein Bezirk zu einem blühenden Erholungs- und vorbildlichen Wohngebiet geworden sein.  Dafür brauche ich Hotels, profitable Großunternehmen und die Befreiung der privaten Initiative. Von der Stadt brauche ich Kredite, um selbst Kredite geben zu können. Übrigens baue ich selbst schon seit einiger Zeit an einem kleinen Haus hier draußen, in dem wir hoffentlich bald leben können. Programmatische Versprechungen habe ich nicht gemacht. Ich halte nichts von Politik. Programme interessieren mich nicht. Meine Verhandlungsebene ist der Stadtrat, nicht der Sowjet, nicht die Presse. Bürgermeister zu Bürgermeister, das ist die Ebene, Sobtschak in Leningrad, ich hier. Zwischenebenen versuche ich zu umgehen. Ich will mich nicht aufhalten lassen. Wenn du alle fragst, kannst du es keinem recht machen. Wenn ich hier im Rat frage: Wollt ihr ein Hotel haben? Dann rufen alle, ja! Wenn ich dann anfangen will zu bauen, sagen sie: Bei uns aber nicht. So geht das hin und her und es geschieht nichts. Ich will etwas Konkretes machen, damit unser Leben besser wird. Ich bin Praktiker. Die anderen können meinetwegen reden. Deswegen habe ich das Rennen hier wohl auch gewonnen. Ich habe nur gesagt: Gebt mir fünf Jahre. Wenn es dann besser geworden ist, ist es gut. Dann stelle ich diesen Posten zur Verfügung. Ich will dann ins Bankgeschäft wechseln. Wenn es am Ende der fünf Jahre nicht besser geworden ist, haben wir sowieso eine andere Situation. Darüber denke ich jetzt nicht nach.“

Erzähler:
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Alfred Radolfowitsch dachte natürlich doch darüber nach: Was ich denn von dem zaristischen Minister Stolypin halte, wollte er wissen, als wir uns nach der Petitionsstunde, die in ungeheizten Räumen stattgefunden hatte, in seinem Arbeitszimmer bei einem Tee wärmten. Mit von der Partie war inzwischen Anatol Kriwentschenko, der neue Präsident des frischgewählten Sowjets von Sestrorjezk, Alfred Kochs demokratischer Auftraggeber gewissermaßen. Ob ich der Meinung sei, so Alfred weiter, daß Stolypin ein Reaktionär sei, nur weil er die radikalen Schwätzer erschossen habe? Nur gegen den Widerstand von rechts wie links habe er die Landreform damals schließlich durchsetzen können. Anatol Kriwitschenko nickte beifällig. Ich wollte gerade den sog. Stlypinschen Kragen erwähnen, wie man zu Zeiten dieses Ministers den Henkerstrick im Volk nannte. Da hatte Alfred schon nachgesetzt. Und Pinochet? Wie man im Westen zu Pinochet stehe?! Der habe ja auch für die Freiheit unternehmerischer Initiative gesorgt. Dies sei letzendlich die wichtigste Freiheit! Nur wenn die Freiheit der privaten unternehmerischen Initiative durch Anerkennung des Privateigentums gewährt und gegen linke wie rechte Varianten, notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werde, sei ein besseres Leben in der Sowjetunion zu erreichen. Alles andere sei nur Geschwätz und Gedröhn. Wenn Bürgerkrieg ausbreche, dann um diese Frage. Um diese Frage gruppierten sich gegenwärtig die Kräfte. Auf der einen Seite an erster Stelle das Militär, dann die Monopole, dann die Partei. Auf der anderen Seite die Pragmatiker der neuen Macht, neue Unternehmer, die nach Selbsständigkeit strebenden Republiken usw. Das „usw.“ blieb leider im Dunkeln. Ich konnte es auch bei weiteren Gesprächen nicht klären.

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Erzähler:
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Alfred Kochs unverhoffte Offenbarungen trieben mich zu meinen bewährten Adressen in der demokratischen Szene, die ich noch vom letzten Jahr kannte. Ich hoffte auf eine Relativierung, mindestens aber auf Erklärungen. Erklärungen fanden sich. Aber sie fielen nicht minder alarmierend aus als Alfred Kochs Offenbarung.
Die erste Lektion kam von Lena Zelinksi. Ich traf sie in großer Hektik: Versuche des Stadtsowjets, sich in die Verfahren der Bezirke zur Zulassung von privaten Unternehmungen einzumischen, müßten zurückgekämpft werden. Alte und neue Macht versuchten gemeinsam, den Prozess durch Gerede von oben zu ersticken. Man müsse die Initiative an die Verwaltungsorgane der Bezirke verlagern. Vor Ort müßten unwiderrufbare Entscheidungen getroffen werden… Lena Hörte zunächst gar nicht, was ich sie fragte. Dann erklärte sie sehr bestimmt:

Lena Zelinski:
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„Das Leben selbst schreibt diese Gesetze. Ich kann diese westlichen sozialistischen Ideen nicht mehr hören. Sie sind gut für’s Dessert. Wir hier sind aber noch nicht soweit. Wir fangen erst an. Die Hauptmahlzeit ist noch nicht einmal aufgetragen. Wir leben in einem anderen Jahrhundert, in einer anderen Welt: Sie leben am Ende des Kapitalismus, wir am Anfang. Wir haben jetzt nur ein einziges Ziel: Wir wollen, daß es uns besser geht. Wir wollen den Kapitalismus einführen. Dieser Prozess ist unvermeidlich. Das bedeutet soziale Differenzierung. Wer etwas leistet, soll besser leben. Das ist natürlich und unvermeidlich. Anders werden wir nicht aus der Misere herauskommen. Vielleicht später, vielleicht nach dreißig, vierzig Jahren können auch wir uns einmal solche feinsinnigen Fragen leisten wie Sie. Wir leben in Asien. Sie leben in Europa. Das ist die Wirklichkeit. Andere Zeiten. Andere Welten. Schauen Sie sich den Konflikt zwischen Irak und Kuweit an. Wieder eine andere Zeit! Auch das ist uns näher als Ihnen. Gehen Sie nach Afrika, wo Menschen soeben aus der Vorzivilisation kommen. Versuchen Sie, Ihnen Ihre europäischen sozialen Ideen zu erklären. Schluß mit diesem europäischen Gerede vom Sozialismus! Bei uns muß erst einmal der Kapitalismus nachgeholt werden. Dann können wir weiter sehen.“

Erzähler:
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In Tallin war es Sulev Mäeltsemees, Ökonom, Vizedirektor der Akademie der Wissenschaften Estlands, der zur meiner weiteren Ernüchterung beitrug. Sulev ist einer der Urheber des marktwirtschaftlichen Selbsverwaltungskonzepts Estlands und in dieser Funktion seit Jahren als Berater der estnischen Regierung tätig. Nach der Wahl im Frühjahr zog er zudem als Abgeordneter in den Talliner Stadtsowjet ein:

Sulev Mäeltsemees:
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„Was letztes Jahr noch eine theoretische Frage war, die soziale Gerechtigkeit bei der Einführung des Marktes, ist jetzt ein praktisches Problem, das uns schwere Sorgen macht. Wir haben bei uns jetzt mit den Preiserhöhungen begonnen. Die Preise werden um das Drei-, Vier und Mehrfache steigen, zum Teil sind sie es schon. Wir haben es so gestaffelt, daß die Güter des täglichen Bedarfs möglichst wenig steigen. Aber das klappt nicht so, wie wir wollen. Die Produkte verschwinden einfach vom Markt und werden dann doch teuer verkauft. Wir müßten die Löhne anheben. Aber das können wir nicht einfach beschließen. So sinkt das Realeinkommen der Bevölkerung rapide. Es trifft natürlich vor allem die Ärmsten der Armen, Rentner, Kinderreiche, Studenten, Einkommenslose. Für diese Gruppe haben wir jetzt eine Kompensation beschlossen, 15 Rubel pro Person. Aber das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bevölkerung ist unruhig. Kommt hinzu, daß die Umstellung auf die Selbstverwaltung nicht klappt. Unsere Leute sind es einfach nicht gewohnt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Viele Sachen, die unbedingt geregelt werden müßten, bleiben zwischen den Ebenen hängen. Ganz zu schweigen davon, daß bei uns niemand weiß, ob Unions- oder Republikgesetze gelten, ja nicht einmal, welche Gesetze der Republik. Praktisch heißt das, daß wir völlig außerstande sind, die Umwandlung von der Planbewirtschaftung auf Marktwirtschaft auch nur annähernd zu kontrollieren. Es ist ein chaotischer Prozess, bei dem sich einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Wir können nichts machen. Das ist ein schweres Problem. Wir wir wissen nicht, wie das weitergehen soll. Die Bevölkerung wird unruhig. Wir haben nur Glück, daß wir in „Moskau“ einen gemeinsamen Gegner haben. Das hält uns trotz allem zusammen.“

Erzähler:
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Einsicht in das volle Ausmaß der Desillusionierung eröffnete mir Oxana Dimitriwa. Ihr Technopolis-Konzept sei inzwischen als Buch erschienen, erklärte sie, aber niemand handle danach. Heute werde das Konzept der „freien Zonen“ verfolgt. In der Praxis bedeute das aber nur, daß jetzt der Willkür persönlicher Bereicherung Tür und Tor geöffnet werde. Gestützt auf neues statistisches Material und auf Erfahrungen aus den unternehmensberaterischen Tätigkeiten des Instituts, zieht sie eine vernichtende Bilanz der Perestroika:

Oxana Dimitriwa:
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„Nicht eine neue Klasse fähiger Manager ist entstanden, sondern die alten Apparatschiks haben sich an neuen Posten eingerichtet. Sie haben die Entwicklung der Kooperativbewegung nicht zugelassen, sondern sie durch Steuergesetze und anderes in die Illegalität oder auf kleine Dienstleistungen abgedrängt. Nicht die Talentiertesten, sondern die Anpassungsfähigsten sind so nach oben gekommen. Das früher ja immerhin noch vorhandene industrielle know how der Staatsbetriebe ist auf das Niveau von Kooperativen abgesunken. Niemand verwertet alte Erfahrungen. Die neuen Leute in den Verwaltungen fragen die alten nicht. Die alten machen stille Sabotage. Nirgendwo wird richtig gearbeitet. Die Produktion steht praktisch still. Die Joint ventures produzieren ja nichts, ebensowenig wie die meisten Kooperativen. Sie verkaufen nur die natürlichen Ressourcen. Unsere Leute haben ja nicht das Bewußtsein von Kapitalisten, sondern das von primitiven Bürokraten, die nicht weiter als von hier nach jetzt denken. Das Ergebnis wird schlimmer als der englische Kapitalismus damals. Dort war das Kapital über Jahrhunderte gewachsen. In unserem Land hat es nie Kapital gegeben. Eigentum war entweder Geschenk oder Raub. Die forcierte Privatisierung, die jetzt als Ausweg beschritten werden soll, wird die Krise zum Chaos steigern. Leute mit mangelnder Kompetenz werden an die Spitze kommen. Bald wird es hier zwei Klassen geben: Unkompetente Besitzer und Spezialisten, die für sie arbeiten. Wer hält das aus? Die guten Leute werden alle in den Westen gehen. Meine ganze Generation, alle, die jetzt aufgewacht sind, aber jetzt keine Chance mehr sehen, schauen nach Westen. Das ist der Ruin des Landes. Das wird ein Exodus unserer intellektuellen Kapazitäten. Ökonomisch läuft das Ganze natürlich auf einen Ausverkauf an den Westen hinaus. Eine Katastrophe! Da haben die OFT und andere ganz recht. Aber auch die rechnen wohl vergebens mit Widerstand aus der Bevölkerung. Die russischen Menschen halten alles aus. Nach fünf Jahren Perestroika sind die Menschen außerdem müde. Das ist die beste Situation für einen Staatsstreich.“

Erzähler:
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Eine einzige Hoffnung, schloß Oxana Dimitriwa, habe sie noch: Jelzin! Wenn Rußland sich auf sich selbst besinnen würde, statt darauf, Klammer für die Union sein zu müssen, könne das ein mächtiger Impuls sein. Erklärend setzte sie hinzu:

Oxana Dimitriwa:
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„Das ist keine Position von Blut und Boden wie die unserer vaterländischen Gruppen. Das ist eine rein ökonomische Position. Rußland erstickt einfach an den Folgen seines eigenen Imperialismus. Wir haben ja nicht nur die besten Leute exportiert. Wir importierten auch alle Probleme und konzentrierten sie bei uns. Ungefähr 70% der Schwerindustrie der Union liegt im zentralrussischen Raum, damit natürlich auch deren soziale und ökologische Folgen. Die Mehrzahl der Atomkraftwerke steht bei uns. Die Mehrzahl der Streiks findet bei uns statt. Die Zerstörung der ländlichen Infrastrukturen ist bei uns am weitesten vorangeschritten. Wenn Rußland sich von seiner imperialen Rolle nicht befreit, wird auch die Union nicht befreit werden können.“

*

Erzähler:
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In Moskau steigerte sich die Kritik an der Ohnmacht der neuen Macht im Herbst ’90 bis zur Aufkündigung des demokratischen Konsenses. Moskau präsentierte sich wie das Auge eines Taifuns: Windstille im Herzen des Chaos! Im Zentrum der Macht gab es nur noch ein Thema: die Ohnmacht des Zentrums! Die Kritik an der demokratischen Macht, die in Leningrad, Tallin und anderen Orten der Union, selbst in Sestrorjezk noch gemildert wird durch reale Konflikte mit Moskau, fand in Moskau nur noch einen einzigen Ausdruck: „silna ruka“, eine „starke Hand“ müsse her!
Nehmen wir das „dom literaterow“, „Haus der Dichter“, politisches Zentrum des russischen Schrifstellerverbandes. Der russische Schriftstellerverband ist, wie bei solchen Organisationen in der UdSSR üblich, das organisatorische und ökonomische Zentrum für alle Schrifsteller. Heute ist er zerstritten in einen demokratischen Klub „April“ und den konservativen Rest, dessen Vertreter die Mitlieder des Klubs wahlweise als Handlanger des Westens, Antipatrioten oder jüdische Kosmopoliten verhöhnen. Im „dom literaterow“ ist man am ideologischen Pulsschlag der Stadt, manche glauben immer noch, auch des Landes.
Andranik Migranjan, Armenier, vielleicht dreißig Jahre, Dozent am Weltwirtschaftsinstitut, Leitartikler der „Istwestija“, Mitglied des Clubs „April“, diktierte mir dort auf Band, was er – wie er lachend anmerkte – soeben zeitgleich in der „Istwestija“ veröffentlicht hatte:

Andranik Migranjan:
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„Die Union zerfällt von den Rändern her. Es gibt heute keinen sowjetischen Unionsstaat mehr. Unionsgesetze haben keine Bedeutung für die Republiken. Eine einheitliche Machtstruktur ist nicht mehr vorhanden. Das Wichtigste ist, sich das einzugestehen. Wir befinden uns heute in einer autoritären Etappe der Modernisierung. Zuerst müssen bürgerliche Strukturen der Wirtschaft entwickelt werden, auf dieser Grundlage Demokratie. Bei uns ist es umgekehrt gelaufen. Die bestehenden Strukturen wurden zerstört. Jedes Nievau hält sich heute für kompetent. Aber so entsteht keine Demokratie, sondern Mist, Chaos. Jetzt wird überall eine „starke Hand“ gefordert. Aber der Zug ist schon abgefahren. Wenn eine „starke hand“ noch etwas retten kann, dann in den Republiken. Gorbatschow ist bereits ein Präsident ohne Macht. Nur mit dem Militär könnte er die Ansprüche des Zentrums durchsetzen. Aber er ist nicht einmal mehr Herr des Militärs. Auch die Armee zerfällt. Die Union wird weiter zerfallen. In Rußland wird sich dieser Prozess fortsetzen. Jede kleine autonome Republik wird ihre Unabhängigkeit fordern. Die Teilmächte werden aufeinanderprallen. Das kann auch Jelzin nicht aufhalten. Das Ergebnis wird ein Hitler für die Sowjetunion sein.“

Sprecher:
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Was man in der Sowjetunion jetzt brauche, so Migranjans Vision, sei ein Mann wie Bismarck, der einen politischen Konsens im Lande herbeiführe. Man könne liberale Strukturen nicht einfach importieren. Schon Spengler habe das richtig benannt, als er seinerzeit die Liberalen kritisierte, die das englische System einfach auf Deutschland übertragen wollten. Ein geschichtlich gewachsener Konsens lasse sich nicht ohne Weiteres auf eine andere Mentalität pfropfen.
Auch Sergei Juschenkow setzt auf den „preußischen Weg“. Juschenkow ist Lehrer an der militärpolitischen Akademie „Lenin“, Koordinator der Gruppe „radikale Demokraten“ im Parlament des obersten russischen Sowjet und Autor mehrerer Bücher über die „Informellen“. Juschenkow möchte dort fortsetzen, wo Stolypin aufhören mußte. Die „Wiedergeburt eines mächtigen Rußland“ schwebt ihm vor, das vom „asiatischen Weg der orientalischen Despotie“ jetzt auf die Entwicklung einer sozialen Gesellschaft einschwenken müsse. Ohne eine Politik der eisernen Faust werde das nicht durchsetzbar sein.
Juri Derugin, Mitglied der „Gruppe demokratische Offiziere“ prophezeit die Zuspitzung des Machtkampfs in der Armee. Er werde zwischen dem jüngeren Offizierskorps und der Generalität ausgetragen. Auch wenn Gorbatschow selbst nicht wolle, werde ihn dies zwingen, zu Dikatur überzugehen.

Sprecher (wechsel):
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Aber nicht nur Migranjan, Juschenkow, Derugin oder viele andere Liberale beschwören im vorwinterlichen Moskau des ausklingenden Jahres 1990 einen Bismarck, Stolypin oder gar Pinochet, um mit dem demokratischen Chaos aufzuräumen. Auch Alexander Kusnetzow, ebenfalls Mitglied des Schriftstellerverbandes, Monarchist von Geburt, Antizionist aus Überzeugung, wie er sagt, dekorierter Alpinist, hält einen „preußischen Weg“ für nützlich – allerdings nicht um eine Modernisierung nach dem Vorbild westlicher Demokratien, sondern um die Wiedergeburt einer konstituionellen Monarchie auf einem eigenen russischen Weg durchzusetzen.
Nicht viel anders Tamara Ponomarowa, ebenfalls Schriftstellerin. Als Vorsitzende des „russischen Zentrums“, organisiert sie, wie sie sagt, Kulturarbeit zur Wiedergeburt des russischen Nationalbewußtseins. Die Treffen finden in den Räumen des Schriftstellerverbandes statt. Dort ist auch das Büro des „Zentrums“. Frau Ponomarowa schwärmt von Solschenyzins Plan einer Union der drei slawischen Republiken Rußland, Weißrußland und Ukraine unter einem monarchistischen Dach.
Auch OFT, verschiedene Pamjat-Gruppierungen, die einen stalinistische, die anderen antistalinistische, die dritten offen faschistische Nationalisten, stehen bereit. Gemeinsam ziehen sie gegen „diki Kapitalism“, „wilden Kapitalismus“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen „Pornografie“ und „Zionisten“ auf die Straße. Das politische Konzept dieser Kräfte ist einfach. Hören wir Dimitri Wassiljew, ideologischer Kopf der Moskauer „Pamjat“-Gruppierungen, Monarchist, militanter Antisemit:

Dimitri Wassiljew:
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„Wir haben uns an der Wahl im Frühjahr nicht beteiligt. Wir haben aber auch nichts dagegen unternommen. Wir haben dem Volk die Wahl ganz bewußt gelassen, damit sie sich von der Nützlichkeit der Liberalen selbst überzeugen können. Was in 70 Jahren zerstört wurde, das wollen die in 500 Tagen, selbst in 5 Jahren wieder aufbauen? Das ist natürlich  eine absolute Illusion. Es wird vielleicht, selbst das bezweifle ich, ein kurzes Strohfeuer geben. Aber dann wird es noch schlimmer werden, weil die wesentliche Frage noch nicht entschieden wurde, die Frage, wer der Herr im Haus ist.“

Erzähler:
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Ob die Erben Nikolaus des Letzten diese Rolle jemals werden wieder einnehmen können, wie der Kunstmaler Wassiljew träumt, darf mit einigem Recht bezweifelt werden. Auch ein Stalin wird diesen Platz nicht mehr ausfüllen können. Der von ihm bewirkte Modernisierungsschub der sowjetischen Gesellschaft beruhte auf despotischer Gleichmacherei. 70 Jahre gewaltsam beschleunigter Industrialisierung haben aber soziale Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung hervorgebracht, die eine Neuordnung, der Klassen, Schichten und Gruppen zueinander, um mit Frau Saslawskaja zu sprechen, zu einem Überlebensprogramm dieser Gesellschaft machten.  Nach mehr als fünf Jahren Perestroika sind die sozialen Ungleichheiten jetzt zu offenen Konflikten herangereift. Die Fronten verschieben sich von der Rednertribüne der Sowjets auf die Straße, von Moskau in die Republiken. Hunderttausende waren in den letzten Monaten auf der Straße. Unter diesen Bedingungen trägt die Beschwörung der „starken Macht“ den Charakter einer „selffulfilling prophecy“, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die Bevölkerung sehnt sich nach einer Kraft, die den gordischen Knoten einfach durchschlägt. Aber jeder Versuch, den einmal begonnenen Prozess gewaltsam einzufrieren, kann nur eine Explosion nach sich ziehen. Perestroika ist nicht gescheitert. Sie ist in eine neue Phase getreten.

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Sprechhilfen:
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Ich gebe Aussparehinweis im Folgenden nur an, wo anders gesprochen wird als es (im Text) geschrieben ist. Im übrigen bitte auf die angegebenen Betonungen achten.

S.  1 Alksnis`
S.  2 Afana`sjew
S.  4 delo = dje`lo, kurzes e, das o zwischen a und o, ebenfalls       kurz.
S.  4 Sasla`wskaja, T.
S.  7 Chosraschott` – das „Ch“ im Rachen rollen,
S.  8 A`rvo Ku`ddo = alle Vokale kurz,
S.  9 Lje`na Zeli`nski
S. 10 Ekateri`na Podo`ltsewa = beide „o“ gedeckt, fast wie „a“,
S. 12 Sago`wski,
S. 13 tala`ntliwi Lu`di,
S. 13 Konjunktu`rschicks,
S. 19 A`lfred Rado`lfowitsch Koch,
S. 24 Su`lev Mäeltese`mees = alle „e“ kurz,
S. 26 Oxa`na Dimi`triwa,
S. 28 si`lna ruka`,
S. 28 dom litera`terow,
S. 28 Andra’nik Migranja`n,
S. 30 Sergei` Ju`schenkow,
S. 30 Juri`Deru`hin,
S. 30 Alexa`nder Kusne’tzow,
S. 32 Tama`ra Ponomoro`wa = „“o“ wie gedecktes „a“
S. 32 Dimi`tri Wassi`ljew

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