III: Zeit der Jugend

O-Ton 1: Ankunft, Straßengeräusche    1,00
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Erzähler:     Nischni-Nowgorod ist die nächste Station. Hier frage ich vor allem nach Grigorij Jawlinski und seinem Partner, dem Bürgermeister der Stadt, Boris Nemzow. Beide gelten als junges, dynamisches Team. Sie stehen für ein alternatives Modell von Reformen. Doch heißt die Antwort auch hier:

O-Ton 2: Junger Mann         0,20
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Übersetzer:     „Jelzin, Jelzin! Warum? Er ist im Prinzip in Ordnung. Mir gefällt, was im Land vorgeht. Es ist eine Zeit für die Jugend. Das gefällt mir. Es gibt große Wahlmöglichkeiten, wo man arbeiten will, Möglichkeiten, die eigenen Kräfte zu entwickeln. Was will man mehr?
… tscho jetschtscho?

Erzähler:     Der junge Mann ist Student. Zur Zeit verdient er als Barmann das Geld für sein weiteres Studium. Im Prinzip sei er durchaus für Jawlinski, erklärt er. Aber damit würde er seine Stimme verschenken und deshalb werde er Jelzin wählen. Auf Jelzins rücksichtslose Sozialpolitik und auf den Krieg in Tschetschenien angesprochen, rechtfertigt er seine Wahl:

O-Ton 3: junger Mann, Forts.    0,21
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich stimme für Jelzin bloß deshalb, damit es keine globalen Veränderungen gibt, wie das vermutlich geschehen würde, wenn die Kommunisten drankämen. Dann ginge es wieder in Richtung Bürgerkrieg.“
…graschdanskie woinje

Erzähler:     Den Krieg befürchtet er wie viele andere allerdings nicht von Szuganow selbst, sondern von denen, die einen Wahlsieg der Kommunisten nicht akzeptieren würden: von den Bankiers, von den neuen Reichen und von der Mafia.
Vor wenigen Tagen erst, erinnert er sich, hätten die neuen russischen Finanzbosse in einem offenen Brief, der in allen großen Zeitungen erschien, nicht näher genannte „Maßnahmen“ für den Fall eines Wahlsieges der Kommunisten angekündigt.
Antworten wie diese bekam ich entlang der ganzen Strecke. Selbst in einem zugigen Nest in den Sumpfsteppen hinter Omsk, einem Dorf namens Barabinsk, antwortet ein junges Mädchen auf die Frage, was sie von der neuen Zeit halte:

O-Ton 3: junges Mädchen in Barabinsk    0,47
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:    „Na klar! Es ist eine Zeit für junge Leute. Die entwickeln sich ja erst.“

Erzähler: (1)    Und klar ist sie auch für Jelzin! Nach der Schule will sie Krankenschwester werden. Einen Ausbildungsplatz hat sie schon. Nicht alle haben einen. Stimmt. Aber wer sich bemüht, kann schon einen finden, meint sie. Nein, so ganz schlecht ist die Zeit nicht“, lacht sie, „nicht so schlecht jedenfalls, wie die Alten immer behaupten.“
…ne tak plocha, Geräusch einer Dose

O-Ton 4: Entfällt

Erzähler:     In der „Schule 42“ in Nowosibirsk rückt eine ganze Schulklasse um mein Mikrofon zusammen. Die Schule zählt zu den besseren und progressiveren der Stadt. Anders als ihre Konkurrentin, die „Schule 10“, ist sie weniger auf den Westen, als auf Pflege „russischer Traditionen“ orientiert, wie der Direktor es nennt.
Aber auch hier ein ähnliches Bild:

O-Ton 5: Schule 42, Mädchen
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (1) hochziehen

Erzähler (1):     „Die junge Generation“, sagt dieses Mädchen, „ist im Großen und Ganzen gegen die Kommunisten.“ Die Erwachsenen dagegen, so auch der Direktor, seien für Szuganow. Ein Generationenproblem also? Ja, genau!
Aber mit der Art des Wahlkampfes sind die Jungen und Mädchen nicht einverstanden. Wie Rock- und Popmusik mißbraucht werde zum Beispiel. Bei Konzerten, erzählen sie, fragen die Stars von der Bühne herab: `Wollt ihr noch weiter solche Musik hören?´ Dann antworten sie selbst: `Wenn ja, dann müßt ihr Jelzin wählen. Unter Szuganow wird es das nicht mehr geben.´ Wenn das Klima weiter so aufgeheizt werde, fürchten meine jugendlichen Gesprächspartner, kann das nur zu neuem Bürgerkrieg führen.
… graschdanskaja woina (alle zusammen)

Erzähler:     Sie würden alle für Jelzin stimmen, wenn sie schon wählen dürften. Seinen Versprechungen glauben sie aber nicht:
Auf die Frage nach dem Krieg in Tschetschenien reagieren sie heftig:

O-Ton 6: Schule 42, Junge    1,08
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     „Nein, nein!“, „So redet er ja schon lange“ rufen sie. „Da geht nur ein politisches Spiel ab“, sagt der Junge. „Sie benutzen diesen Krieg. Wenn Jelzin jetzt nach Grosny geht, will er damit nur Stimmen gewinnen“
Aber ewig könne das nicht mehr dauern, meint ein anderer.

Übersetzer:    „Die Menschen machen das nicht mehr mit. So oder so gehen wir einer Föderation entgegen. In jedem Fall wird es bei uns so etwas geben wie eine Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus.“
…Synthes Kommunism i Kapitalism

Erzähler:    Endgültig überzeugt mich ein neuerlicher Besuch in Jurga. Das ist die schon erwähnte Stadt auf dem Weg von Nowosibirsk ins Kohlerevier des Kusbass. Immerhin war Jurga früher eins der Zentren des militärisch-indudustriellen Komplexes. Heut ist davon nur die lagerähnliche Anlage des Stadtgrundrisses und ihre Vorliebe für Szuganow geblieben.
Vor den Toren des polytechnischen Instituts, wo sie studieren, verblüfft mich eine Gruppe kahlgeschorener junger Halbstarker mit ihrem Bekenntnis zur neuen Zeit:

O-Ton 7: Junge Männer in Jurga    0,24
Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, zum Stichwort „Jelzin“ hochziehen

Erzähler:     „Na, klar gehe ich wählen“, meint der Sprecher der Gruppe. Davon hänge doch seine Zukunft ab. Ob er mich verulken wolle, frage ich ihn. „Nein, ich sage immer, was ich denke“, gibt er zurück. Klar ist für ihn auch, für wen er ist: „Natürlich für Jelzin!“
… Jelzin, konjeschna

Erzähler:     Seine Freunde stimmen ihm bei. Ebenso weitere Jugendliche, die dort gerade Pause machen. Jelzin ist für sie der korrekteste Politiker des Landes. Seine Reformen finden sie progressiv. Kommunisten könne das Land nicht gebrauchen. „Die haben ihre Zeit gehabt“, finden die jungen Männer. Man habe ja  gesehen, was sie daraus gemacht hätten: „Kollektivierung, diese kranke Industrialisierung und alles das.“
„Das“, meint einer und spuckt kräftig aus, „war noch schlimmer, als es jetzt ist.“

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