Demokratie denken – dem Frieden dienen

Gespräch im Forum integrierte Gesellschaft

Thema der zurückliegenden Runde des  68sten „Forums integrierte Gesellschaft“ war: „Demokratie denken – dem Frieden dienen“. Kurz gefasst, um schnell zum schnell zum Kern zu kommen, ist dazu folgendes zu sagen: Demokratie und Frieden sind ‚eigentlich‘ untrennbar. Sie basieren beide auf Vertrauen, das die Menschen in guten Zeiten zueinander entwickeln und auch in schwierigen Zeiten miteinander halten können. Tatsächlich wird diese Verbindung allerdings durch die heute stattfindende Bürokratisierung demokratischer Strukturen nach innen und die Verwandlung ‚demokratischer Werte‘ in eine politische Waffe gegen angebliche oder wirkliche Bedrohungen von außen in zunehmendem Maße in Frage gestellt. Das gilt nicht schematisch für alle Staaten gleichermaßen und im gleichen Tempo, zeichnet sich aber als eine allgemeine Tendenz in der globalen Umbruchsituation von heute ab.

Was ist zu tun? „Die“ Demokratie verteidigen? Ja, zweifellos. Aber was soll verteidigt werden? Die westliche Werteordnung? Die Gewaltenteilung? Der Parlamentarismus? Das Recht auf Eigentum? Gleiche Chancen für alle? Pressefreiheit?  Mitbestimmung? Partizipation?

Oder geht es um mehr? Um Selbstbestimmung.? Um Selbstermächtigung? Oder überhaupt um eine herrschaftsfreie Gesellschaft?

Erste Annäherungen an Antworten zu diesen Fragen gab es in der Eingangsrunde unseres letzten Treffens so viele wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gespräches, darin war die Runde ein Abbild der Vielfalt der Vorstellungen, die zu diesem Thema in unserer Gesellschaft heute bestehen. Die Stichworte dazu reichen von Forderungen nach mehr Demokratie bis zur sarkastischen Charakterisierung der jetzigen Wahldemokratie als „Nutzmenschhaltung“, die abzulehnen sei.  

Einigkeit bestand zunächst einmal nur in der Bereitschaft diese unterschiedlichen Vorstellungen ohne Vorurteil offen miteinander in Beziehung zu bringen, um herauszufiltern, worin das Wesen demokratischer Kultur bestehen könnte, wenn man nicht bei leeren Begriffen und in Strukturdebatten hängen bleiben will. Im Zentrum erscheint dann das Wort Beziehung.

Ja, es geht um die Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander, angefangen in der Beziehung zwischen Ich und Du, fortgesetzt in jener von Ich, Du und Wir, in der Familie, in der Gemeinschaft, der Gemeinde, in regionalen und schließlich überregionalen Einheiten. Basis jeder förderlichen Beziehung ist das Vertrauen, das aus Erfahrung gegenseitiger Zuverlässigkeit resultiert, nur aus dieser Erfahrung resultieren kann. Dies ist die Urform von Demokratie – das miteinander Sprechen, das aufeinander Hören, die gegenseitige Hilfe, konkretisiert in einem Vertrag, sei es per Handschlag oder später in schriftlicher Form.

Hier kann ein Blick auf Gesellschaften, in denen heute noch der Handschlag mehr gilt als der Vertrag, etwa die russische, in der diese Tradition trotz Kapitalisierung und Übernahme der Normen westlich geprägter parlamentarischer Demokratie noch lebt, durchaus lehrreich sein, um den Charakter einer solchen Beziehungsgesellschaft im Unterschied zu einer Vertragsgesellschaft wie etwa der deutschen besser zu verstehen. Auch die Schweiz ist unter diesem Gesichtspunkt selbstverständlich ein genaueres Studium wert. In der Beziehungsgesellschaft steht die Person im Mittelpunkt, in der Vertragsgesellschaft das verbriefte Recht.

Die direkte Form von Demokratie,  beruhend auf unmittelbarer Beziehung der Menschen zueinander, stößt selbstverständlich schnell auf Grenzen. Wo ihre Ausweitung auf größere Lebenszusammenhänge nicht mehr möglich ist, werden Menschen gebraucht, die den Willen der kleineren Einheiten in die größeren Zusammenhänge und deren Impulse zurück in die kleineren, in die Basis-Einheiten tragen. Hier entsteht Verantwortung. Hier entsteht die politische Frage: Wie können die Vertreter oder Vertreterinnen so an die Basis gebunden werden, aus der sie kommen und für die sie eintreten sollen, dass einerseits mögliche Willkür unterbunden, andererseits Initiative nicht gelähmt wird?

Die Geschichte hat dazu die unterschiedlichsten Antworten gegeben – von der griechischen Polis, der Versammlung aller freien Männer, über die Doppelbesetzung der römischen Konsuln, die Forderung nach meritokratischen Vertretungsorganen, also Vertretungen nach ‚Verdienst‘, bis hinauf in das heute in den ‚entwickelten‘ Staaten bestehende System der parlamentarischen Parteiendemokratie. Deren Akteure, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sein sollen, haben sich von der Basis derer, die sie vertreten, inzwischen aber so weit entfernt, dass eine direkte Beziehung und eine direkte Kontrolle durch die Menschen, als deren Vertreter sie sprechen sollten, nicht mehr möglich ist. Daran kann auch die Medialisierung durch Internet und soziale Medien nichts ändern, sie vergrößert eher noch die Distanz zwischen konkretem Alltagsgeschehen und dessen verzerrter Widerspiegelung auf der Bühne des Parlamentes. Diese Bürokratisierung der Vertretungsorgane ruft kategorisch nach Mandaten, die unmittelbar an die soziale Basis gebunden sind.

Was ist ein gebundenes Mandat? Klar gesagt – beim gebundenen Mandat geht es so wenig um ein ‚imperatives‘ Mandat wie andererseits um die verfassungsmäßig festgeschriebene freie Gewissensentscheidung unserer heutigen Abgeordneten. ‚Imperatives‘ Mandat ebenso wie die ‚freie Gewissensentscheidung‘ unterbrechen den Vertrauensfluss zwischen der Basis und weiterführenden politischen Ebenen. Was gebraucht wird, ist eine unmittelbare Rückkoppelung der Aktivitäten der Vertreter an die Basis, von der sie ausgeschickt worden sind – durch den die Basis in den Prozess einer einmal angestoßenen Entscheidungsfindung einbezogen bleibt. Wenn die ausgeschickten Vertreter mit dem Anliegen ihrer Gruppe oder Gemeinschaft auf höherer Ebene nicht durchdringen, dann müssen sie sich zurückwenden an ihre Basis, um sich dort erneut zu beraten. Können sie dann mit dem, was dort erneut beschlossen wird, nicht einverstanden sein, dann können sie aus voller Verantwortung und in  freier Entscheidung als Vertreter zurücktreten.

Diese Art eines kommunizierenden Mandates verbindet die Übernahme von verbindlicher Verantwortung für den Auftrag der Basis mit der Freiheit der Gewissensentscheidung in der Weise, dass der Vertreter oder die Vertreterin  grundsätzlich frei ist, sich zu der Angelegenheit zu entscheiden, welche die Basisgemeinschaft ihm oder ihr anträgt – einmal, indem sie sich anfangs bereit erklären, die Initiative ihrer Basis zu vertreten, zum zweiten und ggfls. zum widerholten Mal, wenn sie sich entscheiden, ob sie im Prozess  der Rückkoppelung die einmal angeschobene Angelegenheit weiter vertreten wollen oder nicht. Ein so organisierter Prozess vermeidet ein Entweder-Oder von imperativem Mandat oder freier Gewissensentscheidung, indem ein gewählter Vertreter oder eine Vertreterin  sich beständig aufs Neue dazu entscheiden können und müssen, die Sache im Sinne  ihres Kollektivs weiter zu vertreten oder andernfalls den Platz jemand anderem zu überlassen.

Eine solche Art der Mandatspraxis, das muss natürlich klar ausgesprochen werden, wäre selbstverständlich das Ende des Berufspolitikers und der Berufspolitikerin, wie wir sie heute kennen. Sie begründet sich auf konsequente Subsidiarität, in der alle Entscheidungen, die an der sozialen Basis getroffen werden können, auch von der Basis getroffen werden.   

Das gebundene Mandat ist aber selbstverständlich kein Wundermittel, durch das das jetzige System der Parteienbürokratie sich über Nacht in eine Volksvertretung verwandeln könnte, die im Vertrauen der Basis ihrer Klienten handelt.  Um dies zu erreichen bedarf es sehr viel weiter gehender Veränderungen, allem voran der Ablösung des herrschenden Mehrheitsprinzips durch abgestufte Konsensverfahren, in das die unteren Ebenen durch Rückkoppelung eingebunden sind.

Alle diese und ähnliche strukturelle Korrekturen müssen allerdings, wenn sie nicht fruchtlos bleiben sollen, das gegenwärtig herrschende Bewusstsein überwinden, dass der einheitliche Nationalstaat, der alle Lebensbereiche monopolisiert, die quasi ‚naturgegebene‘ Form des sozialen Organismus sei, der gegenüber es keine Alternativen gebe. Die Alternative wird aber sichtbar in der Differenzierung, in der Entflechtung, in der Entmilitarisierung dieses Monopols und der generellen Freisetzung von Kräften der Selbstverwaltung für alle Bereiche der Gesellschaft, während der Staat auf die Garantie der Rechtsordnung reduziert wird. Hier liegt die Zukunft einer möglichen Demokratisierung, die eine friedliche Entwicklung ermöglichen könnte.

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner

 

Kommendes Thema:

Was ist ein freies Geistesleben?

Das Treffen ist für den 12.05. um 15.00 angesetzt, am gleichen Ort wie üblich.

(Dieser Bericht zum 68 Treffen kam aus gesundheitlichen Gründen etwas verspätet. Das angekündigte Treffen des 69. Forums am 12.05 zum Thema „Was ist ein freies Geistesleben?“  hat inzwischen bereits stattgefunden. Der Bericht dazu wird Anfang Juni kommen)