INF, Venezuela, neue Konstellationen? Eine Annäherung.

Bericht vom 66. Forum integrierte Gesellschaft

Für dieses Treffen war das Thema „Vom einheitlichen Nationalstaat zum Rechtsstaat“ angesagt. Auf Grund der Vorgänge um Venezuela, der Kündigung des INF-Vertrags durch die USA wie auch durch Russland und die daraus resultierende Furcht vieler Menschen vor einer jetzt möglicherweise wachsenden Kriegsgefahr einigten wir uns, das angesagte Thema des Staates auf das nächste Treffen zu verschieben und uns zunächst den aktuellen politischen Fragen zuzuwenden, einfach, um zu verstehen, was sich ereignet.

Aber bemerkenswert: das Gespräch nahm dann seinen eigenen Verlauf. Am Ende führte es über die Frage, was die Großmächte USA, Russland, China und Europa heute global miteinander auszuhandeln haben, ob und wie sie sich gegenseitig bedrohen oder miteinander verbinden, dann doch  tief in die Frage des Staates. Genauer, führte es zu der Frage, von welchem Geist die Verbindung von Kapital und Staat in den an den Konflikten beteiligten Gesellschaften  getragen ist und was daraus für die zukünftige Entwicklung folgt.

Als offene Frage tauchte hier ‚China‘ auf: Entwickelt sich in China eine Verbindung von Staat und Kapital, die  n i c h t  wie die der „entwickelten“ Staaten von ungebremster Selbstvermehrung des Kapitals in die Expansion getrieben wird? Welche Art von Gesellschaft entsteht in China? Welche Konsequenzen hat das für uns? Kann man, muss man für Russland Ähnliches sagen? Worin unterscheiden sich diese Länder, obwohl sie beide aus Gemeinschaftstraditionen kommen? Wie steht Europa zwischen ‚amerikanischem‘ und ‚asiatischem‘ Kapitalismus? Wie der russische Hybrid zwischen dem europäischen und dem chinesischen?

Diese Fragen, die das Thema: ‚Vom einheitlichen Nationalstaat zum  Rechtsstaat?‘? um die geistige Dimension und um den Einfluss kultureller Unterschiede auf die Staatsbildung erweitern,  stehen damit nun für das nächste Treffen an. Das wird spannend.

Versuchen wir aber jetzt erst einmal dem Faden zu folgen, der zu diesen Fragen geführt hat.

Beginnen wir mit dem INF-Vertrag. Wird mit seiner Kündigung das globale Gleichgewicht atomar neu ausgehandelt? Der Abschluss des Vertrages, der die Installierung von landgestützten Raketen in der Reichweite von 500 bis 5500 km untersagte, war ein Kind der Entspannung, die aus dem Niedergang der Sowjetunion und dem Aufstieg der USA in den 80er Jahren folgte. Mit ihm entstand für die Europäer die Illusion, die Gefahr eines Atomkrieges sei gebannt, weil und solange Europa nicht dessen Austragungsort sein könne. Die EU war aber nicht Subjekt dieses Sondervertrages, sondern Objekt. Das eigentliche strategische Gleichgewicht wurde in den Verträgen zu den Langstreckenraketen ausgehandelt, konkret um die Frage der atomaren Erst- und Zweitschlags-Kapazitäten. Zuletzt im START II Vertrag. Mit der Kündigung des INF-Vertrages entfällt die Illusion eines besonderen Schutzes für Europa.

Im Unterschied zu 1987 erfolgt die Kündigung des INF-Vertrages heute in einer Situation zunehmender Spannung, die aus dem tendenziellen Niedergang der USA, dem gleichzeitigen Wiedererstarken Russlands und vor allem dem Aufkommen Chinas als mächtiger neuer Kraft hervorgeht. Dazu kommen noch die oben schon genannten neuen Atomstaaten, sowie neue Waffengattungen. Das alles zusammen  verschiebt das atomare Patt in eine unkalkulierbare Grauzone. Mit dem Auslaufen des START II Vertrages  2021 muss die globale Kräftelage daher neu verhandelt werden. Die Frage erhebt sich: Welche Rolle wollen diese neuen Atom-Staaten, insbesondere China bei der neuen Aushandlung des atomaren Gleichgewichtes einnehmen?  Welche Rolle will Europa einnehmen? Was können wir tun?

Damit rückt der neueste Brandherd in den Focus: Venezuela:

In den Vorgängen um Venezuela droht die Reihe der von den USA betriebenen Interventionen, die in der jüngeren Vergangenheit den Irak, Libyen, die Ukraine und Syrien als Trümmerfelder zurückließen, nun um  die nächste Wüste erweitert zu werden. Im Konflikt um Venezuela bekommt die Frage der Gewichtsverteilung im globalen Machtgefüge eine erkennbare neue Aktualität. Nicht  mehr nur Russland, wie zuletzt in Syrien, sondern jetzt  auch China stellt sich den Interventionsabsichten der USA öffentlich entgegen, indem es wie zuvor Russland im Fall Syrien, erklärte die Souveränität des Landes schützen zu wollen. 

Was bedeutet das alles?

Es bedeutet: Europa wird aus seiner Illusion gestoßen, sich in einem bevorzugten Sicherheitsraum zu befinden, der durch das Patt zwischen den beiden großen Atommächten garantiert sei. Das stärkt die Kräfte, die eine Aufrüstung der EU gegen Russland fordern.

Und es bedeutet: China und Russland positionieren sich neu. China tritt erstmals erkennbar aus seiner Deckung hinter Russland hervor. Die Frage erhebt sich, ob es und wie es seine neue Weltmachtstellung umsetzen will – und kann.

Soweit gekommen entspann sich in der Forumsrunde eine hitzige Debatte um den Charakter des chinesischen Weges. Wird China zur Unterstreichung seines gewachsenen Weltmachtanspruchs in die Konkurrenz um die Entwicklung von interkontinentalen Erstschlags-Kapazitäten einsteigen? Braucht China solche Offensivwaffen oder geht es eher einen defensiven Weg der sanften ökonomischen Vereinnahmung?

Als Kernfrage schälte sich heraus: Entwickelt sich in China eine Kapitalisierung besonderer Art, die  n i c h t  in die Expansion und  n i c h t  in die imperiale Aggression führt? Wirken in China andere Gesetze als die der im Westen geltenden akkumulativen Selbstverwertung des Kapitals, die notwendig in die aggressive Expansion führt? Entsteht in China eine bisher nicht gekannte Verschmelzung von Partei, Kapital und Gesellschaft, die sich auf die Ideologie des dort zur Zeit von Staats wegen propagierten „mittleren Menschen“ stützt, und für die nicht die Freiheit des Individuums, sondern das Wohl des Kollektivs der Wert ist, an dem Entwicklung gemessen wird? Haben Chinesen zum Geld eine andere, eine eher ‚weibliche‘ Beziehung? Und was hieße das für die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen? Entsteht da eine zwar kapitalisierte, aber soziale Gemeinschaftskultur neuen Typs oder ein totalitäres Monster?

Rückblicke in die Geschichte Chinas, in welcher chinesische Kaiser den Weg der imperialen Expansion trotz entsprechender Möglichkeiten abgelehnt, Ansätze dazu sogar abgebrochen haben, eine Geschichte, in der die Erfindung des Schwarzpulvers nicht zur Entwicklung einer Kriegsindustrie geführt hat, in der Philosophien der Mäßigung wie die des Kungfutse, mehr noch des Laotse das Leben bestimmten, lassen solche Vorstellungen einer defensiven Entwicklung des Landes aufkommen. China definierte sich immer als ‚Reich der Mitte‘ – lange vor Roms Aufstieg zur Weltmacht und auch noch nach dessen Zerfall. Chinas gegenwärtiger Aufstieg, man könnte auch sagen, Chinas Rückkehr zur Macht der Mitte vollzieht sich bisher auf diesem Wege. Synonym dafür ist die ‚neue

Aber was hat es zu bedeuten, dass China im Fall Venezuela jetzt an der Seite Russlands erstmals den USA als politische Weltmacht offensiv entgegentritt, sozusagen aus dem bisherigen Schatten Russlands als eigene Macht hervortritt? Bleibt China in der Defensive oder geht es unter Xi Jinping zur aggressiven Expansion über?

Wir konnten über diese Fragen im ersten Anlauf keine Einigung erzielen. Sie sprengten auch eindeutig den Rahmen zu den aktuellen Ereignissen. Einig waren wir lediglich, dass die gegenwärtige Koalition zweier solcher hybrider gesellschaftlicher Organismen wie Russlands und Chinas, die erstmals in dieser Weise zusammen auftreten, eine Chance bieten, die gefährlichen Energien, die aus der tendenziellen Auflösung des US-Imperiums resultieren, im prekären Gleichgewicht zu halten. Offen ist aber auch, welche Botschaft daraus erwächst, wenn der Welt auf diese Weise die Grenzen des westlichen Liberalismus gezeigt werden.

So oder so: Es entsteht ein Zeitfenster, das genutzt werden kann, um Alternativen  zu entwickeln, die über das gegenwärtige Patt hinausweisen – solange das Fenster offen bleibt.  ,

Dem wollen wir uns, wie oben gesagt, das nächste Mal zu nähern versuchen.

Einig waren wir uns schließlich auch, um ins Aktuelle zurückzukehren, dass die Kündigung des INF-Vertrages keineswegs eine verstärkte Aufrüstung der EU oder gar Deutschlands erfordert, sondern im Gegenteil eine klare Friedensoffensive, die Russland und Europa wieder als Partner zusammenführt. Auch das ist ein Zeitfenster, das genutzt werden muss.

seht zu beiden Aspekten, INF-Kündigung und Venezuela, die Texte im Anhang:

http://kai-ehlers.de/2019/02/inf-venezuela-neue-konstellationen-eine-annaeherung/

http://kai-ehlers.de/2019/02/inf-kuendigung-ende-einer-europaeischen-illusion/

Das nächste Treffen steht, wie oben angekündigt, unter dem Thema:

„Vom einheitlichen Nationalstaat zum Rechtsstaat?“

Das Treffen ist für den 17.03. um 15.00 angesetzt, am gleichen Ort wie üblich.

 

Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich. Freunde und Freundinnen, interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen. Anmeldungen ggfls. über die Adresse www.kai-ehlers.de

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner