Die Krise nutzen – Ausbruch oder Aufbruch aus der Wachstumsbrache? Vom ökonomischen zum sozialen und kulturellen Wachstum.

Welches sind die Entwicklungskräfte heute?

Annäherung an einen Kulturraum der Entschleunigung.


1. Wir befinden uns in einer globalen Wachstumskrise. Das pfeifen inzwischen schon die Spatzen von den Dächern. Aber was ist das Wesen der Krise? Äußerlich erscheint sie als Finanz- und Wirtschaftskrise, in deren Verlauf sich die materiellen Errungenschaften und Werte der Industriegesellschaft westlichen Typs in ihr Gegenteil verkehren. Die Folgen linearen ökonomischen Wachstumsdenkens verwandeln die Welt in eine Ansammlung von Wachstumsbrachen, die das Leben auf unserem Planeten bedrohen: Versorgungssicherheit verkehrt sich in existenziellen Mangel, tendenzielle Befreiung von physischer Arbeit lässt, verstärkt durch ungebremstes Bevölkerungswachstum, ein Heer von „Überflüssigen“ entstehen, die nach neuen Aufgaben suchen. Sie finden aber keine, da sie durch die bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse wie etwa Harz IV heute in Deutschland daran gehindert werden, ihre freigesetzten Kräfte zu entfalten. Und weiter: Unabhängigkeit vom Zwang ursprünglicher Selbstversorgung und Konsumfreiheit verwandelt sich in Abhängigkeit von Fremdversorgung und Konsumzwang, wenn Produkte wissentlich störanfällig hergestellt werden, um baldigen Neukauf zu erreichen. Mobilität verwandelt sich in Staus usw. Utopien vom besseren Leben enden schließlich in Resignation. In dem Maße wie die industriellen Zentren ihre Definitionsmacht als Boten und Hüter des globalen Wohlstands verlieren, gehen sie dazu über, ihre Vormacht mit Gewalt aufrechtzuerhalten. George Orwells Vision einer Gesellschaft der „Neusprach“, in der Frieden Krieg und Krieg Frieden heißt, droht sich vor unseren Augen zu verwirklichen. Manch ein Mensch sieht unsere Welt bereits am Ende. Nicht wenige starren, vermittelt durch pseudowissenschaftliche Medienkolportagen, auf das Jahr 2012, eine angebliche Prophezeiung des Weltendes nach dem Mayakalender, oder auf andere esoterische Daten, die einen nahen Weltuntergang verkünden.

2. Richtig verstanden sind all diese Vorgänge, die uns heute in Folge der aktuellen Krise beunruhigen, aber keineswegs Zeichen für das Ende allen Wachstums. Sie sind vielmehr ein Signal dafür, dass die Zeit des vornehmlich ökonomischen Wachstums der Menschheit vorbei ist und wir in die Phase eintreten, in der das soziale und kulturelle, sprich das moralische und geistige Wachstum an die erste Stelle rückt. Das heißt nicht, wirtschaftliche Fragen gering zu schätzen, es geht aber darum, sie mehr als bisher sozialen Kriterien zu unterwerfen, sie geistig und moralisch zu durchdringen. Wir müssen uns diesen Signalen beugen, ob wir wollen oder nicht. Tun wir es nicht, werden wir die Kontrolle über die ökonomischen Kräfte verlieren, die wir entwickelt haben, werden wir von den Wachstumsbrachen erdrückt, die unser zivilisatorischer Fortschritt hervorgebracht hat und noch immer hervorbringt. Das gilt für die ganze Reihe neuer und neuster Technologien von der Atom- bis hin zur Gen- und Nano-Technik. Die wichtigsten Brachen jedoch, die aus der Zeit des ungezügelten ökonomischen Wachstumsdiktats zurückblieben, tragen die Namen Faschismus und Stalinismus. Als zwei Seiten einer Entwicklung sind sie Ausdruck des im letzten Jahrhundert gewaltsam beschleunigten industriellen Fortschritts, welcher Mensch und Natur über die Grenze des Möglichen hinaus auspowerte. Er pervertierte Arbeit, die höchste Fähigkeit des Menschen die Welt tätig zu verändern, in Zwangsarbeit – Vernichtung durch Arbeit, reduzierte den Menschen auf seinen ökonomischen Nutzen, zerstörte seinen sozialen und moralischen Glauben an den Wert des menschlichen Lebens.  Deutlicher konnte die Perversion des bloß ökonomisch orientierten Fortschritts nicht mehr werden. Diese Brache enthält mehr noch als die anderen zuvor genannten die Botschaft, dass weitere Entwicklung nur möglich ist, wenn die Rekultivierung der Brachen, die aus der bisherigen ökonomischen Entwicklung der Menschheit hervorgegangen sind, über die wirtschaftliche Bewältigung der Krise hinaus bewusst als Aufgabe erkannt und angenommen wird, um so den Übergang in die neue Phase des sozialen und geistigen Wachstums zu ermöglichen.

3. Indes setzen erst einmal die Länder der „dritten“ und der „vierten Welt“, die nach den zwei Weltkriegen des letzten Jahrhunderts in der wirtschaftlichen Entwicklung aufgeholt haben, zum Sturm auf das kriselnde Zentrum der Industriezivilisation an. Diese Bewegung ähnelt in ihren äußeren Zügen dem Ansturm der Hunnen, Germanen, auch Nordafrikaner und anderer Völker, der damals so genannten Barbaren auf das untergehende Rom. Ergebnis war seinerzeit eine Neuordnung der Welt: Ein Teil dieser Völker wurde in die lang andauernde Krise Roms integriert, ein anderer Teil von Rom bekämpft und vernichtet, ein dritter Teil bildete neue, eigene Kulturen außerhalb der untergehenden Weltmacht. Dieses Muster wiederholt sich heute in globalem Maßstab mit den bisher als unterentwickelt geltenden Ländern und Völkern in der Rolle moderner Barbaren: Einige werden in die sog. westliche Wertegemeinschaft integriert wie Eurasien oder Nordafrika, andere bekämpft wie Irak, Iran oder vernichtet wie die Taliban, dritte wachsen zu eigenständigen Kulturen außerhalb des bisherigen Zentrums der industriellen Zivilisation heran wie China, Indien, Südamerika, Australien, der indonesische Raum. Selbst Afrika rüttelt an seinen bisherigen Fesseln. Eine multipolare, plurale, kooperative Weltordnung kündigt sich an, in der großes Erneuerungspotential liegt. Noch folgt diese neu entstehende Welt allerdings in ihren Hauptströmungen jenen Vorgaben der alten Welt, die dort bereits in die Krise gekommen sind, das heißt, den Idealen des unbegrenzten, ja, stürmischen ökonomischen Wachstums.

4. Um die dynamischen, lebensförderlichen Elemente der heutigen Krise befreien zu können, müssen die zur Zeit geltenden Wachstumskriterien grundlegender hinterfragt werden, als das bisher geschieht. Das Wachstum der Versorgung der Menschheit ist an einem Punkt der Entwicklung angekommen, an dem sich ihre zwei Grundelemente, Selbstversorgung und Fremdversorgung, die vom Wesen her zusammen gehören wie  Individuum und Gemeinschaft, im Zuge der Sytemkonfrontation unserer Welt in eine unfruchtbare Polarität von Fremd- ODER Selbstversorgung gespalten haben und auch jetzt weiter spalten. Das Bewusstsein von der gegenseitigen Abhängigkeit, die dann fruchtbar ist, wenn sie als untrennbaren erkannt und freiwillig bejaht wird, ging verloren. Dabei wird, je nach sozialem und politischem Herkommen der Betrachterinnnen und Betrachter, wahlweise die eine oder die andere Seite als fortschrittlich oder rückständig verurteilt, ohne dass im allgemeinen Diskurs bisher geklärt worden wäre, wovon jeweils die Rede ist, wenn von dem einen oder dem anderen gesprochen wird. Selbstversorgung als Egoismus? Fremdversorgung als Altruismus? Selbstversorgung als Ausdruck der Unabhängigkeit? Oder umgekehrt Fremdversorgung als Statussymbol des freien Menschen? Selbstversorgung als Mangel? Fremdversorgung als Reichtum? Oder wider ganz anders: Selbstversorgung als Reichtum, Fremdversorgung als Entfremdung des Menschen von seinen Fähigkeiten? Selbstversorgung als romantischer Rückzug aus der Krise? Fremdversorgung als Flucht vor der Verantwortung? Fragen über Fragen. Die Frage nach den in die Zukunft weisenden, genauer nach den in eine lebensförderliche Zukunft weisenden Elementen des heutigen Umbruchs ist aber nur zu beantworten, wenn die Beziehung zwischen Selbstversorgung und Fremdversorgung, also zwischen Individuum und Gemeinschaft geklärt, wenn mögliche Veränderungen in diesen Beziehungen bewusst wahrgenommen und auch politisch gestaltet werden.

5. Selbstversorgung dürfte die ursprüngliche Form der Versorgung eines Menschen, seiner Gruppe, seiner Horde, eines Stammes, Clans oder auch Dorfes gewesen sein. Daran besteht wohl wenig Zweifel, zumal es auch heute noch solche Formen der ursprünglichen Selbstversorgung gibt. In dieser Lebensweise ist der Mensch noch sehr eingeschränkt. Im Laufe der Geschichte wurde Selbstversorgung durch arbeitsteilige Produktion von Gütern, die gegen Geld über den Markt getauscht wurden, zunächst ergänzt, dann in weiten Teilen der menschlichen Gesellschaft abgelöst oder ganz verdrängt. Die Entwicklung der arbeitsteiligen Fremdversorgung war zweifellos ein Schritt, der die Menschheit aus der Abhängigkeit von zufälligen örtlichen und zeitlichen Umständen begrenzter Vorsorgemöglichkeiten befreit und der den Lebensradius der Menschen, auch den kulturellen, also, den sozialen, den geistigen erheblich, schließlich bis in den globalen Raum hinein, erweitert hat. Insofern ist die Geschichte der Fremdversorgung identisch mit der Geschichte der Gesellschaft. Als  e i n  zur Zeit herrschendes Ergebnis dieser Entwicklung haben wir die heutige globale Industriegesellschaft und ihre Konsumkultur.

6. Die über Markt und Geldverkehr vermittelte Fremdversorgung war jedoch historisch nicht die einzige Möglichkeit, die engen Grenzen ursprünglicher Selbstversorgung zu erweitern. Ein anderer Entwicklungsstrang ließ Formen gemeinschaftlicher Selbstversorgung einschließlich selbstversorgender Eigenproduktion auf Basis gegenseitiger Hilfe und unterschiedlicher Formen gemeineigentümlicher Eigentumsverhältnisse entstehen. In ihnen spielten Markt und Geldverkehr gegenüber unmittelbarem Tausch und gegenseitiger sozialer Unterstützung eine untergeordnete Rolle. Solche Versorgungsstrukturen sind  vorzugsweise im eurasischen Raum, besonders in der russischen Kultur, aber auch an anderen außereuropäischen Orten und zu anderen als den heutigen Zeiten entstanden. Hieraus haben sich auch andere soziale Realitäten ergeben als im heutigen Westen – eher gemeineigentümlich orientierte Verhältnisse anstelle von privateigentümlichen. Solche gemeineigentümlichen Grundverhältnisse haben Auswirkungen bis heute, manche bestehen trotz voranschreitender Industrialisierung bis in die Gegenwart.

7. Beide Entwicklungswege liegen heute als real existierende gesellschaftliche Verhältnisse, zum Teil in gemischten, zum Teil in reinen Formen vor: Hier privateigentümliche Geldwirtschaft, deren Kern das sich selbst verwertende Geld, dort gemeinwirtschaftliche Strukturen, deren Kern die soziale Sicherheit ist. Heute sind die einen wie die anderen, wo sie in extremer Form auftraten wie der „Fürsorgestaat“ sowjetischen Typs oder der Manchesterkapitalismus in Ländern des Westens, an ihre Grenze gekommen, bei der sie in ihrer Vereinseitigung jeweils ins Disfunktionale umschlagen: Auf der einen Seite ging die Fremdversorgung in eine von den konkreten Lebensbedürfnissen losgelöste Überproduktion über und tut dies in zunehmendem Maße, weil nicht mehr die Versorgung, sondern die aus dem Vorgang der Versorgung zu schlagende Geldvermehrung ihr Inhalt ist. Dies ist ja einer der wesentlichen Inhalte der gegenwärtigen Finanzkrise. Damit wird die Fremdversorgung von einer fortschrittlichen Kraft, die sich zum Nutzen aller entwickelte, in zunehmendem Maße zu einem krisentreibenden Element – eine von der konkreten Produktion losgelöste Finanzblase entsteht,  die Menschen entfremden sich von eigenem Tun, werden von anonymen Marktkräften beherrscht. Selbstversorgung andererseits rutscht auf den Stand der Beschränkung von Individuen zurück, die sich aus der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung ausklinken wollen oder auch mangels Geld aus dem Kreislauf der Fremdversorgung ausgeklinkt werden; für diese Menschen wird die Überschaubarkeit, die soziale Sicherheit der Selbstversorgung ebenfalls zum Abseits, letztlich zur Falle, aus der sie sich nicht mehr lösen können. Schwindende Verantwortungsfähigkeit des Menschen für die Organisation des eigenen Lebens bis hin zu hin zu sozialer Lethargie, Verödung lokaler und regionaler Räume ist in beiden Fällen die Folge, obwohl scheinbar ganz unterschiedlich verursacht.

8. Eine Lösung dieses Widerspruches steht auf der Tagesordnung. Sie kann in der Kombination von Fremd- und Selbstversorgung liegen. Ein bewusstes Zusammenführen beider Elemente kann sowohl die ins Extrem treibende Fremdversorgung, welche jede Eigentätigkeit zu verdrängen beginnt, als auch die Reduzierung des Menschen auf eine Selbstversorgung, die ihn von der Welt abschneidet, hinter sich lassen. Wo dies geschieht, kann, das Extrem isolierter Selbstversorgung ODER alles verdrängender Fremdversorgung hinter sich lassend, eine neue, lebensförderne, sich gegenseitig ergänzende Symbiose entstehen. In ihr kann sich Fremdversorgung an dem Bedarf orientieren, der nicht von einer als gemeinschaftliche Eigenproduktion organisierten Selbstversorgung gedeckt werden kann oder soll, während Selbstversorgung sich auf die Nutzung der lokalen, regionalen oder auch globalen Besonderheiten konzentrieren kann. Im Mittelpunkt einer solchen Organisation des Lebens steht immer der konkrete Bedarf des konkreten Menschen und zwar nicht als Forderung, sondern als Tatsache. Das schließt den Umgang mit Natur-Ressourcen und allgemeinen Kulturgütern mit ein. Sie optimiert darüber hinaus nicht nur die wirtschaftliche Versorgung, sondern lässt auch größeren Raum für soziales und kulturelles Geschehen entstehen. Das öffnet  einen emotionalen und seelischen Raum für die Erneuerung lebendiger Beziehungen zwischen den Menschen und damit für kulturelle Erneuerung. Einen Begegnungsraum, einen Spielraum, in dem soziale Fantasie sich entwickeln kann.

9. Eine solche Entwicklung zu denken, bedeutet, obwohl sie „eigentlich“ selbstverständlich erscheinen könnte, grundlegende Paradigmen des herrschenden Menschenbildes zu hinterfragen: In der Perspektive einer lebensförderlich orientierten Symbiose von Fremd- und Eigenversorgung ist der Mensch nicht mehr die Art des Selbstversorgers, der allein seinen eigenen Bedarf deckt, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt, aber so – quasi unbewusst und unfreiwillig – den „Markt“ in Gang setzt, wie Adam Smith meinte. Und er ist dies weder auf der einfachsten Stufe der ursprünglichen Selbstversorgung, noch auf der entwickelten Stufe  der gesellschaftlich organisierten Selbstvermehrung des Kapitals. Er ist aber, so gesehen, auch nicht mehr der Fremdversorger – im Sinne des Konsumenten, der allein von den Produkten einer entfremdeten, globalisierten Produktion lebt, ohne selbst zu seiner eigenen Versorgung am Ort seines Lebens noch etwas Eigenes tun zu können, der zumindest aber in zunehmendem Maße von ihr abhängig wird. Ebenso wenig ist der Mensch in dieser Perspektive jemand, der allein von den Produkten seines eigenen Anbaus oder Jagdergebnisses lebt – nicht einmal in der pervertierten heutigen Form von Schäppchenjagden, gezieltem Billigkonsum oder Mülltonnenernten aus dem allgemeinen globalen Konsumangebot.

10. Wir stehen heute an der Schwelle, an welcher der einzelne Mensch sowohl die Beschränkungen ursprünglicher Selbstversorgung wie auch die entfremdete Trennung des Konsumenten vom Produzenten überwinden kann, die eine über das Ziel hinausschießende Fremdversorgung nach sich zog und immer noch zieht. Er kann dies in Vermittlung der beiden Elemente allein für sich, sehr viel effektiver aber in selbst organisierten, selbst gewählten Versorgungsgemeinschaften. Das sind lokal, regional, durchaus auch überregional bis global organisierte Asssoziationen, welche die Versorgung mit Konsumgütern aus auswärtiger, also aus fremder Produktion und Strukturen der Eigenversorgung miteinander vernetzen. Sie sind die potentiellen Träger dieser Entwicklung. (Siehe dazu u.a. mein Buch“ Grundeinkommen für alle –Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“, Verlag Pforte, 2007, in dem ich die Entwicklung der neuen Gemeinschaftsbewegung skizziert habe) Was sich so ankündigt, ist eine aus Eigentätigkeit und Fremdbelieferung kombinierte Versorgung, in der sich Eigentätigkeit und Fremdversorgung gegenseitig ergänzen, wobei, wie gesagt, Versorgung nicht nur materielle Aspekte betrifft, sondern auch emotionale, soziale und kulturelle. Dazu gehört die Entstehung eines Bewusstseins darüber, dass ein Produkt auch eine soziale, eine kulturelle und auch ethische oder moralische Geschichte hat, dass es wichtig ist zu wissen, wofür zu sorgen ist, für wen, warum, welche Aspekte der Versorgung Vorrang vor anderen haben, wozu ein Produkt wirklich gebraucht wird, wie und unter welchen sozialen Verhältnissen es entsteht, wie die Menschen leben oder auch leiden, die es erstellen. Dazu gehört das Wissen, dass die eigene Versorgung Produkt einer jahrtausende alten Kulturentwicklung ist, nicht etwa nur eine moderne Selbstverständlichkeit, um die man sich nicht zu kümmern brauchte.

11. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei hier ausdrücklich noch einmal darauf hingewiesen, dass Selbst- und Fremdversorgung selbstverständlich zwei Seiten ein und desselben Vorgangs, eben der Versorgung sind. Beide Seiten haben ihre Berechtigung, nicht anders als die Einheit von Individuum und Gemeinschaft, Mensch und Umwelt, beide gehören im Wesen zusammen, sind im Alltag in der Regel nur schwer voneinander zu trennen, gehen historisch in immer neuen Kombinationen ineinander über. Die eine wie die andere Seite hat ihre wichtige Funktion für eine vollständige Versorgung der Menschen im Wechsel zwischen eigener Arbeit und Interesse an der Arbeit und dem Wohlergehen der Mitmenschen – sofern, weil und damit es dem eigenen Wohlergehen dient. Der Austausch hat einen rein sachlichen, wirtschaftlichen, organisatorischen und einen sozialen, kommunikativen, emotionalen, kulturellen, geistigen Sinn. Selbst unter den extremen Bedingungen des globalisierten Marktes oder andererseits verschiedener Formen von Kollektivwirtschaft wie etwa in der Sowjetunion oder auch dem israelischen Kibbuz waren Elemente von Selbstversorgung in der Fremdversorgung enthalten und umgekehrt – obwohl sie sich unter den Bedingungen der Systemkonfrontation gegenseitig behinderten und sich auch jetzt noch behindern. In diesem Sinne muss in Bezug auf die Einführung einer Symbiose von Selbst- und Fremdversorgung heute nach dem Ende der Systemteilung der Welt nicht von Herstellung einer ganz neuen, sondern von Wiederherstellung einer gestörten Wechselbeziehung gesprochen werden – aber eben unter geänderten Bedingungen auf dem historischen Niveau eines neu einsetzenden Entwicklungsprozesses.

12. Die Vermittlung von Fremd- und Eigenversorgung beginnt im Kopf, indem zunächst eine klare Bestandsaufnahme der durch das Ende der Systemkonfrontation entstandenen weltweiten Bedingungen vorgenommen und daraus folgend erkannt wird, dass die beste Eigenversorgung die soziale Versorgung im Sinne gegenseitiger Hilfe ist, und die beste soziale Versorgung darin besteht, sich um Hilfe für den einzelnen Menschen zu sorgen. Dass eine solche Symbiose von Fremd- und Selbstversorgung nicht nur zu neuen Formen der Arbeitsteilung, der Organisation von Produktion und Konsum, also zu neuen Formen des Wirtschaftens führt, sondern notwendigerweise auch zu neuen Beziehungen von Wirtschaft und Staat, der den Rahmen für ein solches Wirtschaften geben muss, liegt auf der Hand. Allzu deutlich hat sich das Versagen des bisherigen Staates im realen Sozialismus, allzu deutlich auch im Kapitalismus gezeigt, wo er hier als Stalinismus, dort als Faschismus im Extrem seinen Zwangscharakter offenbarte. Ohne in spekulativer Weise einer realen Entwicklung vorgreifen zu wollen, ist doch klar, dass bei einer Organisation des Lebens, die Fremd- und Selbstversorgung in Versorgungsgemeinschaften zusammenführt, die Ökonomie in den Strukturen der Versorgungsgemeinschaften entschieden wird. Der Staat kann sich in einer solchen Kultur, die nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe ausgerichtet ist, statt nach dem der gegenseitigen Ausbeutung auf die Regelung der rechtlichen Beziehungen der Menschen zueinander konzentrieren.

13. Ein wesentlicher Schritt einer Bestandsaufnahme besteht natürlich darin, die heutigen Krisenerscheinungen wahrzunehmen, zu analysieren, zu beschreiben und ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, wie das ja allgemein heute schon geschieht, aber dann nicht bei Klagen darüber stehen zu bleiben, dass alles so schlimm kam, wie es kam. Vielmehr gilt es, die Krisenerscheinungen als Kulturbrachen zu erkennen, die Ergebnis einer rücksichtslosen Beschleunigung des ökonomischen Wachstums sind. Zu erkennen, dass ihre Zunahme uns herausfordert, uns die verdrängte und nahezu vergessene Brachenbewirtschaftung als Prinzip der Lebensförderung in Erinnerung zu rufen (zwei-, Drei-, Vierfelder- und Etagenwirtschaft wie auch andere Methoden natürlicher Regeneration). Die  Brachenwirtschaft wurde durch künstliche Beschleunigung des Wachstums abgelöst und zerstört, jetzt ist es Zeit, das in ihr liegende Prinzip der Regeneration auf dem technischen und wissenschaftlichen Niveau und mit dem Bewusstsein von heute wieder zu beleben. Es geht dabei nicht nur um den agrarischen Bereich; um ihn geht es ganz sicher, aber über ihn hinaus geht es darum, das Prinzip der Brache als generelles Kultur- und Bildungselement zu aktivieren, das heute wieder neuen Lebensraum schaffen kann. Konkret geht es darum, die Wachstumsbrachen wieder in den lebendigen Kreislauf von Natur und Kultur  auf diesem Globus einzuführen, damit Neues aus ihnen entstehen kann. Hierhin gehören zunächst alle Formen des einfachen Recycling, darüber hinaus auch ästhetische Ansätze zur (Wieder)eingliederung von Müll-, Industrie-, Sozial- und Kriegsbrachen in den Kulturbildungsprozess der Gesellschaft. Dies alles immer auch unter besonderer Berücksichtigung der Brachen, die aus Stalinismus und Faschismus hervorgingen. Ein weites Forschungsfeld öffnet sich vor uns, das dringender – und es sei mir erlaubt zu sagen, auch herausfordernd attraktiver – Bearbeitung bedarf.

14. Was ist konkret unter Ansätzen zur (Wieder)eingliederung von Brachen zu verstehen? Die Brache – traditionell ist sie das ausgepowerte Feld, verunreinigt mit Überresten aus der voraus gegangenen Nutzung, von Unkräutern belastet, ein Feld, das sich regenerieren soll, um wieder neu, wenn möglich auch intensiver als zuvor Frucht hervorbringen zu können. Einfaches Umgraben, einfaches Pflügen reicht nicht mehr. Es bedarf einer bewussten Nicht-Nutzung des Feldes, einer kontrollierten Verwilderung,  eines Wieder-Zurücklassens in den natürlichen Kreislauf der Regeneration, statt es, obwohl ausgelaugt, künstlich hoch zu powern. Es muss als Brache erkannt, angenommen und gepflegt werden, bis es nach einer Pause von ein, zwei oder mehreren Jahren mit neuen Kräften hervortreten kann – nicht anders als die gesamte belebte Natur, die sich im Rhythmus ihrer jeweiligen Generationen erneuert. Wir Menschen machen davon individuell keine Ausnahme, um leben zu können, schlafen wir und wir sterben. So erholen wir uns individuell und so erneuert sich die lebendige Menschheit. Gesellschaftlich aber haben wir haben eine Situation produziert, die von der Fiktion eines immerwährenden ungebremsten Wachstums ausgeht, das keine Ermüdungen, keine Brachen mehr kennt. Tatsächlich jedoch produzieren wir in zunehmendem Maße Brachen, ohne uns um sie zu kümmern: globale Müllhalden, verödete Industrielandschaften, abgeschobene soziale Problemfelder, zerstörte Schlachtfelder, generell, der ausgepowerte Mensch, die ausgepowerte Natur, all die ausgebrannten Utopien vom besseren Leben, besonders natürlich die zuletzt entwickelten des sozialstaatlichen Kapitalismus und des realen Sozialismus. Auch diese Brachen können nicht einfach umgegraben, sie müssen ausdrücklich in das Programm unserer Regeneration und Kulturbildung aufgenommen werden.

15. Ein Beispiel für diese Rekultivierungsarbeit ist der Vorschlag des im November 2008 verstorbenen Künstlers und Kultivators von Landschaft, Herman Prigann, den er neben vielen anderen vergleichbaren Projekten aus seiner Hand machte, Müllberge nicht einfach zuzuschütten und so aus dem Bewusstsein der Gesellschaft auszugliedern, sondern als gestaltete Orte zu Anschauungs-, Lehr- und kulturellen Objekten darüber zu machen, wie Abfall und Gift unser Leben bedroht, zugleich aber auch, wie aus Müll unter Anwendung des modernsten wissenschaftlich-technischen Know how neue Kräfte entstehen können. Solche Orte sind dann Mahnmal, Lehrstätte und Giftumwandler und in dieser Kombination Ausflugsziel für kulturbeflissene und lernbegierige Zeitgenossen zugleich. So wird die Brache zum Ort der physischen Wiedereingliederung in die Naturkreisläufe und zugleich der Kulturumwandlung und Bewusstseinsbildung. Ähnliches lässt sich für die übrigen Industrie-, Sozial und Kriegsbrachen sagen. Sie alle warten darauf, mehr als bisher erkannt und in den Kulturbildungsprozess einbezogen zu werden.

16. Weniger anspruchsvolle Ansätze zur Beschäftigung mit Brachen hat es über dieses Bespiel hinaus in den letzten Jahren durchaus gegeben. Ein Blick in die Listen von Wikipedia reicht aus, um das klar zu machen. Aber eine gründliche Erforschung der Geschichte der Brachenwirtschaft, ihres grundlegenden Charakters, wie auch insbesondere ihrer Ablösung durch Praxis und Ideologie eines künstlich beschleunigten Wachstums steht bisher aus. Die Erforschung all dessen bedarf des gemeinsamen Willens aller heute dazu bereiten Kräfte, gleich ob aus den bisherigen Zentren oder aus den neu zu Entwicklungsknoten heranwachsenden Ländern. Es gilt, die Regeneration, die Pause als das Wesen der Brachenwirtschaft zu erfassen und im öffentlichen Bewusstsein die Einsicht zu verbreiten, dass Pausen dieser Art lebensnotwendig sind, wenn die Menschheit sich weiter entwickeln will. Pausen sind nicht etwa gleichbedeutend damit, das sei noch einmal betont, die Brache einfach liegen zu lassen. Sie muss rechtzeitig, sie muss in ihrer Eigenart erkannt werden, sie muss im Prozess ihres Zurückwilderns beobachtet werden, um heraus zu finden, was sie braucht, um ihre Kräfte optimal erneuern zu können. Vielleicht muss hier ein Zaun, dort ein Graben, woanders ein neuer Weg angesetzt werden. Generell ist zu sagen: Es gilt herauszuarbeiten, dass eine Brache zu erkennen und zu bewirtschaften bedeutet, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und die gegenwärtige Krise als Signal anzunehmen, im ökonomischen Wachstum zurückzustecken, damit das Ganze des Lebens sich erneuern kann. Die Kultur der Brache in neuer Weise ins Bewusstsein zu nehmen bedeutet, von der Priorität des ökonomischen zur Priorität des moralischen, emotionalen und geistigen Wachstums unserer heutigen Gesellschaft überzugehen, ohne allerdings die ökonomische Seite dabei zu vernachlässigen, denn selbstverständlich liegt die Rekultivierung der Brachen auch im Interesse wirtschaftlicher Wohlfahrt bis hin zur Sicherung des physischen Überlebens, so wie die ökonomische Entwicklung unserer Zivilisation natürlich nicht ohne soziale und kulturelle Elemente möglich war. Das Interesse am physischen Überleben gilt insbesondere den Menschen, die zur Zeit im Elend leben, gleich ob in den Zentren oder den Peripherien. Bei der Verbesserung ihrer materiellen Lebenssituation geht es jetzt aber nicht etwa um eine „Balance“ zwischen Ökonomie und Ökologie, Arm und Reich oder dergleichen, wie eine scheinbar einsichtige, im Effekt aber nach wie vor an der herrschenden Wachstumsideologie festhaltende Argumentation glauben machen will. Im Kampf gegen die Unterversorgung geht es auch für die Ärmsten heute darum, sich wie alle anderen Menschen am sozialen und kulturellen Aufbruch in eine andere als nur vom ökonomischen Wachstum definierte Welt aktiv beteiligen zu können.

18. Die Entwicklung einer neuen Brachenkultur kann mit der Entwicklung einer Gemeinschaftskultur einhergehen, in der Produktion und Konsumption sich miteinander verbinden, angefangen bei Wahlfamilien als kleinste Einheit bis hin zu weltweiten Netzen. Politisch können die Menschen sich bei dieser Lebensweise darauf beschränken, ihre gegenseitigen Freiheitsräume miteinander abzustimmen, insofern ihre Kultur vom Prinzip der gegenseitigen Hilfe und der gegenseitigen Förderung der Selbsterkenntnis als oberstem Prinzip der geistigen Entwicklung bestimmt ist. Es sind selbst gewählte und selbst bestimmte Gemeinschaften, die so entstehen, keine Zwangsgemeinschaften. Das ist zu betonen. Sie entstehen in bewusster Abgrenzung zu den Zwangskollektiven der Vergangenheit, faschistischen wie stalinistischen, ebenso wie andererseits aus der klaren Abkehr von der Isolation einer in unverbundene Individuen zerfallenden Gesellschaft. Wirtschaft, Rechtswesen und Kultur bewegen sich bei dieser Lebensweise als voneinander unabhängige Kräfte, aber doch in einem integrierten Prozess, in dem diese drei Elemente sich gegenseitig ergänzen und begrenzen. Das unterscheidet diese Gesellschaft radikal von der bisherigen, in der alle Lebensprozesse einem Staat untergeordnet sind, der seinerseits von der Ökonomie beherrscht wird. Ich nenne diese andere Lebensweise eine integrierte Gesellschaft. (siehe mein schon erwähntes Buch dazu) Der Schritt in eine solche Gesellschaft ist, wenn er gesetzt wird, gleichbedeutend mit dem Schritt aus dem jugendlichen Alter der Menschheit in die Verantwortlichkeit für die Entwicklung des Globus – sozusagen als Fortschritt in der Selbsterkenntnis des Globus, wenn wir den Globus, unsere Erde, als lebendiges Ganzes begreifen.

19. Die römischen und nach-römischen Umbrüche darf man in dem hier gezeichneten Bild durchaus als Pubertät der Menschheit begreifen. Sie wurden seinerzeit vom Impuls des sich entwickelnden Christentums angetrieben, das mit einem neuen Menschenbild des sich selbst entdeckenden Individuums eine neue Entwicklungsdynamik in die Welt brachte. Es überflügelte das bis dahin vorherrschende Kollektivbewusstsein, verband sich mit den starren Regeln des römischen Individualrechtes und leitete auf dem Umweg über den Zerfall Westroms jenen lange andauernden Entwicklungsprozess ein, der die auf  Herausbildung des Individuums orientierte abendländische, westliche Kultur als dominant auf dem Globus entstehen ließ. Andere Kulturen, nicht zuletzt die aus der oströmischen Geschichtsströmung hervorgehenden, waren nicht minder wertvoll, haben aber nicht die gleiche individualisierende und damit verbundene expansive ökonomische Dynamik entwickelt. Inzwischen ist die Dynamik dieses Wachstumsprozesses, der eine auf individuelle Verwirklichung des einzelnen Menschen als höchstes Gut orientierte Gesellschaft entstehen ließ, jedoch erschöpft, nachdem sie sich in der Sackgasse zweier Weltkriege, des Faschismus und Stalinismus verfangen hatte. Diese Katastrophen waren Ausdruck der vollkommenen Orientierung der Industriegesellschaften auf materiellen Fortschritt, die sich in der gewaltsamen Unterordnung des Menschen unter die zur Kriegsmaschine gewordene Industrie zuspitzte. Der Mensch, das Leben wurde der Maschine untergeordnet. Hinter die Erkenntnis dieser Tatsachen gibt es kein Zurück. Eine Zukunft kann es nur geben, wenn der Mensch das Leben, sein eigenes und das des Globus, wieder ins Zentrum stellt. Eine weitere Entwicklung des Menschen, die nicht rückwärtsgewandt ist, sondern die nach vorn weisenden Kräfte der heutigen Krise unterstützt, wird es dann geben, wenn das hoch individualisierte heutige Individuum begreift, gleich, wo auf dem Globus es lebt und in welcher Gesellschaft, dass es wie alle anderen Individuen nur eine Zukunft hat, wenn es sich selbst in die Kultur der gegenseitigen Hilfe einbringt und wenn alle Individuen sich zusammen in die natürlichen Kreisläufe einfügen. Dies beinhaltet einen bewussten Verzicht auf überflüssiges ökonomisches Wachstum. Der Mensch steht vor der Aufgabe, seine Entfremdung von der Natur zu überwinden, sich selbst als Natur zu erkennen, mit der Bewegung der Natur, mit der des Kosmos, mit sich selbst identisch zu werden. Eine neue Ethik entsteht, wo der Mensch zu der Erkenntnis kommt, dass Natur, Kosmos, Gott sich im Menschen erkennt und verwirklicht.

20. Zu schaffen ist der Übergang in eine Kultur der gegenseitigen Hilfe und der Eingliederung in die Naturkreisläufe (nur) in dem Bewusstsein, dass Tendenzen der krassen Individualisierung auf unserer Welt heute in intensivster, einander teilweise schroff widersprechender Weise auf die Suche nach Gemeinschaft, nach Eingliederung in kosmische Rhythmen, nach religiöser Einbindung treffen. Beide kulturellen Strömungen sind gleichermaßen fundamental. Ihre Wechselwirkungen können Anregungen, können neue, zukunftsfähige Elemente des Zusammenlebens der Menschen und des Verhältnisses der Menschen zu ihrer Mitwelt hervorbringen, sie können aber auch zerstörerisch wirken, je nachdem, ob sie erkannt, gefördert und bewusst gestaltet werden oder ob sie sich unerkannt in spontanen Konflikten austoben. In dieser Konstellation liegt die Aufforderung genauestens wahrzunehmen, wo heute Ich-Impulse und Gemeinschafts-Impulse aufeinander treffen, wie sie aufeinander treffen, dafür zu sorgen, dass solche Begegnungen in gegenseitiger Achtung des Anderes stattfinden, ihnen Raum und Zeit zu geben sich miteinander zu gestalten. Das Fremde ist immer das Befruchtende, auch wenn es die eigenen Gewohnheiten zunächst in Frage stellt. Ohne Eigenes wird das Fremde jedoch zum Feind. Hier treffen sich Selbst- und Fremdversorgung auf hohem Niveau.

21. Wie kann nun die Mehrarbeit geleistet werden, die nötig ist, um den Übergang in den neuen Lebensabschnitt der Menschheit zu bewirken? Wer soll sie leisten? Hier gilt es sich klar zu machen, was schon eingangs angedeutet wurde, dass die größte Brache, die sich heute entwickelt, das Feld der sog. „Überflüssigen“ ist. Es ist das Feld derer, die keinen Platz in der Produktion finden, während die in der Produktion Verbleibenden immer intensiverem Stress ausgesetzt sind. Dies ist der krisenbezogene Blick auf die gegenwärtige Lage. Sie bringt eine gewaltige Masse unzufriedener und unglücklicher Menschen hervor, der eine kleine Zahl derer gegenübersteht, die über die Produktivkräfte verfügen und sich für berechtigt halten, die Mehrheit der Menschen irgendwie ruhig zu stellen. Da sind Vorstellungen wie die des US-Strategen Sbigniew Brzezinski, der vorschlägt die Masse der Unbeschäftigten mit „tittitainment“ (eine Wortmischung aus Milchbrüsten und entertainment) zufrieden zu stellen noch die harmlosesten. Die aus solchen Voraussetzungen entstehende Lage gleicht einer Zeitbombe, bei deren Zündung sich die historischen Brachen noch einmal zu potenzieren drohen, bevor die alten unter den Pflug genommen wurden. Dieselbe Lage jedoch, die diese Gefahr enthält, setzt zugleich massenhafte Kräfte für soziale und kulturelle Entwicklung frei, wenn die Menschen die Signale richtig erkennen und wenn sie sich so organisieren, dass alle Menschen aus dem Produkt der gemeinsamen, der gesellschaftlichen Arbeit gleichermaßen versorgt werden können, ungeachtet welche Art von Tätigkeit sie ausführen, sodass sie über ihre Kräfte frei verfügen können. Die optimale Grundorganisation für eine solche Gesellschaft ist zweifellos die selbst gewählte und die selbst bestimmte Versorgungsgemeinschaft, welche Produktion und Konsumption, Fremdversorgung und Selbstversorgung, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Tätigkeiten ihrer Mitglieder miteinander verbindet und in sich ausgleicht und so, das darf hier wiederholt werden, den konkreten Bedarf des konkreten Menschen, darüber hinaus sein Mensch-Sein, sein Mensch-Werden-Wollen, ja, Mensch-Werden-Können in den Mittelpunkt rückt. Ansätze zu solchen Organisationsformen finden sich in der heutigen Gemeinschaftsbewegung. Manche der bereits existierenden Gemeinschaften sind schon jetzt Focus lokaler oder regionaler Strukturerneuerung und Impulsgeber für die sich andeutende neue Lebensweise. Versorgungsgemeinschaft als optimale Grundorganisation schießt aber selbstverständlich andere Wege zu leben nicht aus; sie bildet nur das Grundgerüst der Gesellschaft. Ein hilfreicher Schritt in eine andere als die jetzige Organisation der Gesellschaft könnte durchaus auch die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens sein, wie es seit einiger Zeit diskutiert wird, insofern es allen Menschen die Möglichkeit gibt, sich frei von ökonomischem Überlebensdruck miteinander zu organisieren. Die Einführung eines Grundeinkommens, wenn sie gelänge, befreite die Menschen allerdings nicht von der Notwendigkeit, über die mögliche eigene, vom Staat garantierte ökonomische Absicherung hinaus sich selbst an der Reduzierung der Wachstumsbrachen und der Entwicklung von Alternativen zur Wachstumsgesellschaft zu beteiligen. Ohne ein solches Bemühen des einzelnen Menschen an seiner eigenen Lebensbasis bestünde auch für eine Gesellschaft mit Grundeinkommen die Gefahr, dass die bestehenden Verhältnisse nur fortgesetzt würden.

22. Rom, das wäre abschließend noch zu sagen, wurde nicht an einem Tag erbaut und es dauerte auch noch ca. 500 Jahre, bis die mit dem Christentum einsetzende Zeitenwende Rom überwunden und die neuen Kulturen des sog. Mittelalters hervorgebracht hatte. Wir Heutigen, das dürfte klar sein, haben für den bevorstehenden Übergang in den neuen Lebensabschnitt der Menschheit nicht so viel Zeit. Aus all dem folgt: Ein Forschungsprojekt Brache steht auf der Tagesordnung. Ich fordere dazu auf, ein solches Projekt zu begründen – Beschleunigen wir die Entschleunigung! Für eine Befreiung des Menschen vom Zwang der Ökonomie, für die Entwicklung einer Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe, für eine Zukunft, die Freiheit und Gleichheit durch Solidarität verbindet.

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