Globalisierung und Mongolei: Eine Prüfung in der Steppe

Mongolei – Pferde, Jurten, Gastfreundschaft? Erholung vom Stress der Industriegesellschaft? Oder Treffen und Tätigwerden mit Menschen, die in der globalisierten Welt von heute den Ort suchen, an dem sie überleben und sich behaupten können? Wir hatten uns für eine Verbindung von beidem entschieden: Wir, das waren neun Menschen einer in Hamburg ansässigen Initiative „Schafft zwei, drei viele Jurten“. Wir waren zu Gast bei mongolischen Freunden, die ihrerseits in der Mongolei eine Gruppe „Kultur der Jurte“ bilden. Gastgeber waren Frau Prof. Dorjpagma Sharaw, Ethnopädagogin, und Dr. Ganbold Dagwadorj, leitender Forscher am veterinär-wissenschaftlichen Institut der Universität von Ulaanbaatar sowie Mitglieder ihres weitläufigen Familien- und Freundschaftsnetzes. Ziel der Reise war herauszufinden, wie eine Unterstützung für die Modernisierung einer nomadischen Jurtengemeinschaft aussehen kann, welche die traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise nicht zerstört, sondern entwickelt.
Unsere Planung war zweifellos super, das Ziel definiert, das ganze Vorhaben zudem so organisiert, dass genügend Spielraum für die reichlich vorhandenen individuellen Wünsche bleiben sollte: Eine Kernzeit im Juli war vereinbart, während der wir alle an einem Ort in der Steppe sein wollten; eine Jurte würde für uns bereit stehen, um die herum Zelte aufgebaut werden könnten. Verpflegung würde vor Ort geregelt, halb aus eigenen Vorräten, halb aus Ressourcen unserer Gastgeber in der Steppe. Die Organisation vor Ort lag in den Händen unserer mongolischen Freunde, die ihre deutschen Gäste nacheinander vom Flughafen in Ulaanbaatar zur Jurtengemeinschaft in der Steppe geleiten würden. Für Übersetzer würde gesorgt sein. Die Finanzierung hatten wir privat geregelt. Dies alles und noch viel mehr war schon im Frühjahr 2006 besprochen worden, als wir – sozusagen im deutschen Teil der Reise – mit mongolischen Gästen über mehrere norddeutsche Bio-höfe und Einrichtungen tourten. Danach wurde alles per Telefon und E-Mail weiter fixiert.
Drei Varianten hatten zur Wahl gestanden, als wir – noch in Hamburg – mit unseren mongolischen Gästen berieten, welchen Ort wir für unsere Studien wählen sollten: die Orchon-Ebene bei Karakorum, die mittleren Höhen weiter den Orchon hinauf oder schließlich eine Gegend ganz oben in den Bergen des Changai Nuruu. An allen drei Orten würden wir uns in Familienkreisen unserer Freunde bewegen.
Der Orchon, sei kurz angemerkt, entspringt ca. dreihundert Kilometer westlich der Hauptstadt Ulaanbaatar in den Changai Nuruu Bergen der Provinz Archangai. Über mehrere Stromschnellen fließt er eine Weile westwärts, biegt dann nach der Stadt Karakorum, seinerzeit Regierungssitz Tschingis Chans, in eine große Flachsteppe nach Norden ein, um schließlich, vereinigt mit dem Selenga in den Baikalsee zu münden. Wir hatten uns für die mittlere der drei möglichen Varianten entschieden, in der Vorstellung, so Fluss, Gebirge und Ebene als typisches Erfahrungsfeld miteinander verbinden zu können. Also, wie gesagt: alles geplant, was man bedenken konnte.
Als wir kamen, lief alles ganz anders: Die Kernzeit, die wir alle gemeinsam in der Steppe verbringen wollten, musste verschoben werden, weil eine Familienhochzeit für den in Japan lebenden ältesten Sohn unserer Freunde zu bestehen war. Den Termin hatten die Brauteltern gesetzt, die auf einer Feier nach traditionellen Riten in der Mongolei bestanden, obwohl das Paar schon längst miteinander verheiratet ist und ein Kind von anderthalb Jahren hat. Unsere Freunde baten uns, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, wohl auch, um ihrem Familienanhang mehr Gewicht zu verleihen. Mit diesem Empfang war unsere Planung, soweit es Termine betraf, erst einmal über den Haufen geworfen. Von nun an regierte die Spontaneität. Unveränderlich blieben nur An- und Abflugtermine und selbst da gab es Unsicherheiten. Das war die erste Überraschung.
Die zweite Überraschung bescherte uns der Transport: Verabredet war, mit Jeep oder Minibus in die Steppe hinaus zu fahren. Aus Kostengründen hatten sich unsere Freunde jedoch entschieden, ihren eigenen PKW, einen japanischen Stadtwagen, für diese Tour einzusetzen. Die Fahrt wurde zu einem Abenteuer für sich: Mit Gepäck und Personen absolut überladen rutschen wir bei sengender Hitze auf der Ölwanne des zu flachen PKW über die dreihundert Kilometer lange Schlaglochpiste bis Karakorum. Der Fahrer, ein junger Freund der Familie, gab trotzdem gnadenlos Gas. Bei jedem Aufsetzer stockte uns der Atem. Was würden wir tun, wenn er den Wagen schrottreif führe? Wer könnte den Schaden tragen? Wir zogen es vor, hin und wieder auszusteigen und zu Fuß weiter zu gehen. Morgens in aller Frühe waren wir aufgebrochen, bei einsetzender Dunkelheit kamen wir an.
Bei der Ankunft erwartete uns die dritte Überraschung. Gleich hinter Karakorum endete unsere Reise, allerdings nicht auf halber Höhe in den Bergen wie erwartet, sondern vor zwei Jurten in der Ebene gleich hinter der Stadt. Tschoigin, Gastgeber einer abendlichen Zwischenrast in Karakorum, lieferte uns dort ab. Am Morgen erkannten wir, dass wir genau an dem Ort gelandet waren, den wir ausdrücklich nicht gewählt hatten, nämlich in der einem Delta ähnelnden Flachsteppe nördlich von Karakorum, durch die der Orchon sich in vielen Verästelungen nach Norden wälzt. Links und rechts wichen die Berge so weit zurück, dass sie kaum noch zu erkennen waren, dafür war Karakorum so nah, dass man einzelne Häuser ausmachen konnte. So hatten wir uns den Aufenthalt in der Steppe nicht vorgestellt.
Irritiert, allerdings auch herausgefordert durch diese ganz andere Art mit Planung umzugehen, begannen wir nun intensiver nach dem Nomadischen in der mongolischen Kultur zu fragen, dann schrittweise auch zu verstehen: Zunächst lernten wir unsere Gastgeber kennen: Großvater Demberl und seine Familie, Sarangirel, Naigal und die sehbehinderte Darima. Bis vor kurzem lebten alle in einer Jurte. Als Naigal und Sarangirel heirateten, erhielt Naigal eine eigene Jurte, in der das junge Paar jetzt wohnt. Für uns haben die beiden ihre Jurte vorübergehend geräumt, allerdings nur nachts, tagsüber wird auch diese Jurte für die alltäglichen Verrichtungen gebraucht.
Zu den zwei Jurten gehören ca. 50 Ziegen und Schafe, dazu fünf Yaks und deren Kälber. Tagsüber ziehen alle Tiere weit in die Ebene, die Yaks waten auch schon mal durch einen Seitenarm des Orchon in die matschigen und steinigen Brachen zwischen den Flussarmen. Nachts werden Ziegen und Schafe in einen Pferch direkt vor der Jurte getrieben. Erwachsene Tiere werden von Jungtieren getrennt. Die Trennung erfolgt, damit die Jungtiere nachts nicht die Euter der Muttertiere leer trinken. Auch die Yakkälber kommen in den Pferch. Nur die erwachsenen Yaks bleiben draußen. An sie würde sich kein Wolf herantrauen. An einer Querstange vor den Jurten stehen zwei Pferde. Die ganze Szene wird von zwei Hunden beaufsichtigt. Die arbeiten allerdings nur nachts, tagsüber schlafen sie, wenn nicht etwas sehr Außergewöhnliches geschieht.
Morgens um sechs erheben sich Sarangirel, Darima, Naigal ebenso wie der alte Demberl, um zu melken. Eins nach dem anderen fangen die jungen Frauen die Muttertiere im Pferch ein, führen sie zum Seil, das Demberl außen am Pferch befestigt hat, um sie dort wie Perlen Kopf an Kopf, eins mit dem Schwanz nach rechts, das nächste mit dem Schwanz nach links nebeneinander anzubinden. Sobald die ersten Tiere stehen, beginnen die Frauen zu melken. Wer immer zur Zeit zu Besuch ist, ob groß oder klein, hilft mit, wo es geht. Wir klinken uns ebenfalls ein.
Auch die Yaks werden gemolken. Sie werden nicht angeleint, sondern einzeln dort aufgesucht, wo sie stehen. Aber auch von ihnen werden die Jungtiere entfernt gehalten. Nach dem Melken werden alle Tiere entlassen. Die Jungtiere eilen zu ihren Müttern. Jedes zu seiner. Ein lustiges Chaos. Alle Tiere gemeinsam ziehen dann gemächlich in die Ebene hinaus. Erst am Abend werden sie wieder geholt.
Üblicherweise werden auch Stuten gemolken. Alle zwei Stunden werden die Fohlen zu den Stuten getrieben, damit die bereit sind Milch zu geben. Nach dem Melken dürfen die Fohlen den Rest aus den Eutern ziehen. Aus der Stutenmilch wird der schwach alkoholhaltige, aber äußerst vitaminreiche Kumis gewonnen, mongolisch Airag. Er ist das wichtigste Getränk der Mongolen. Wer eine Jurte betritt, wird mit Airag begrüßt. Keine Begegnung, kein Gespräch ohne vielfaches Kreisen des Bechers mit Airag, den die Frau der Jurte beständig nachfüllt.
Demberls Stuten werden nicht gemolken. Bei zwei Tieren macht das Melken keinen Sinn. Seine Pferde dienen nur noch dem Reiten. Früher standen mehr Pferde vor Demberls Jurte. Auch seine Schaf- und Ziegenherde war größer, ebenso die Zahl seiner Yaks. Mehr als die Hälfte seiner Tiere hat er in den schweren Wintern der Jahre 2004 und 2005 verloren. Geblieben sind die wenigen, mit denen eben noch die einfachsten Grundbedürfnisse der Familie gedeckt werden können. Wenn es nicht Demberls kleine Pension, wenn es nicht die eine oder andere Hilfe von Söhnen, Töchtern oder anderen Verwandten aus der Stadt gäbe, müsste die Familie die restlichen Tiere verkaufen und ihr Leben in der Steppe aufgeben. Das hieße sich wieder zu finden im Heer der Arbeitslosen, die in den Außenbezirken von Ulaanbaatar zu überleben versuchen.
Nach dem Melken wird die Milch gekocht und weiter zu Butter, Käse. Jogurt usw. aufbereitet. Damit sind Sarangirel und Darima den Vormittag über beschäftigt. Dasselbe wiederholt sich noch einmal am Abend gegen 18,00 Uhr. Gegen zwischen 21,00 und 22,00 Uhr wird es dunkel. Dann ist der Tag. der hier nicht durch elektrisches Licht verlängert wird, beendet. Daran kann auch die kleine tragbare Solaranlage, die wir mitgebracht haben, im Prinzip noch nichts ändern. Nach ein paar Tagen haben auch wir den Rhythmus dieser Arbeit so verinnerlicht, dass wir mit unseren Gastgebern bei Einsetzen der Dunkelheit schlafen gehen.
Nun beginnt die Stunde der Hunde. Unruhig streifen sie um die Jurte und um das Gatter herum. Sie sehen Ihre Aufgabe darin, die Jurte nachts vor ungebetenen Besuchern zu schützen. Was immer Fremdes sich nähert, wird verbellt – und dies schon aus Entfernungen, in denen das menschliche Auge und Ohr noch keinerlei Störung wahrnimmt. Die Geräusche der Nacht werden wesentlich von den Hunden bestimmt. Sie unterhalten eine Art Meldesystem, das sich von einer Jurtengruppe zur anderen fortpflanzt. Für Ausländer ist an Schlaf kaum zu denken, jedenfalls nicht in der ersten und auch nicht in der zweiten Nacht. Irgendwann begreift man dann aber, dass man sicher ist, solange die Hunde bellen, solange Yaks, Ochsen und Pferde wiehern, grunzen, rülpsen und gemütliche Verdauungsgeräusche von sich geben. Eine merkwürdige Ruhe entsteht, ein lebendiger Raum, der einen einhüllt. Die Steppe.
Man wird bemerkt haben, dass ich inzwischen von weiteren Jurten gesprochen habe, deren Hunde sich nachts miteinander verständigen. Nicht weit entfernt von den beiden Jurten Großvater Demberls nämlich sind in lockerem Abstand von mehreren hundert Metern fünf weitere Jurten aufgebaut, die offenbar ihre eigene Wirtschaft betreiben. Die drei nächstgelegenen Jurten werden von sehr verschiedenen Familien bewohnt. In der einen leben zwei Halbwüchsige ohne Eltern, in der anderen eine Frau mit zwei Kindern, in der dritten eine kräftige Frau mit mehreren Kindern. Ihren Mann bekommt man nicht zu Gesicht. Die Wirtschaft ist bei allen die gleiche. Wenn ihre Schafe, Ziegen oder Yaks sich tagsüber miteinander vermischen, werden sie abends vor dem Melkeintrieb auseinander sortiert. Früher, sagt man uns, kannten die Hirten ihre Tiere Kopf für Kopf. Heute werden die Tiere mit Farbstreifen markiert, um sie zu unterscheiden.
Zwei weitere Jurten stehen einen Fünf-Minuten-Ritt weiter in Richtung der von der Stadt wegführenden offenen Steppe. Dort wird eine Herde von Pferden gehalten. Über diese Herde wird die ganze Jurtengruppe, wie es scheint, ohne Geldaustausch, mit Airag, versorgt. Man kennt einander. Dorjpagma meint sogar, hier einen weiteren Verwandten entdeckt zu haben. Aber kann man dies alles schon als eine Gemeinschaft, mongolisch als Chot Ail, gar als Ansatz für neue genossenschaftliche Entwicklungen verstehen? Wohl kaum. Man muss nur hinsehen, wie mühsam die Tiere abends auseinandersortiert werden, wenn sie sich tagsüber miteinander vermischt haben. Jede Familie melkt für sich selbst, versorgt sich selbst, verarbeitet Milch- und Fleischprodukte für sich allein, hat ihre eigene Familienwirtschaft. Die Folgen der Privatisierung seit 1992 sind unübersehbar.
Aber dann erfahren wir, dass man die Weidegründe gemeinsam aussucht, das man sich beim Hüten der Tiere abwechselt, dass nicht nur Airag auf die Jurten verteilt wird, sondern man sich in vielen Alltagsdingen gegenseitig unterstützt. Zum Schlachten kommt der junge Mann aus der Jurte nebenan herüber. Er weiß, wie man schlachtet, ohne Blut zu vergießen und ohne auch nur das geringste Teil des getöteten Tieres zu verlieren. Auch gefilzt wird gemeinsam. Die jungen Männer reiten gemeinsam hinaus um Heu für den Winter zu machen. Die Kinder fahren gemeinsam zur Schule nach Karakorum.
Am dritten Tag, in der Melkpause über Mittag, kommt so etwas wie eine Versammlung zustande. Mehrheitlich Frauen sind gekommen. Wir stellen uns vor. Unser Ziel zu erklären fällt uns schwer. Was haben wir anzubieten? Gut, wir haben den tragbaren Sonnenkollektor gebracht. Das hat Demberl fast zu Tränen gerührt. Auch hatten wir sonst noch einiges an Gerätschaften und Nützlichem bei uns. Aber unsere Frage, ob die fünf Jurten an diesem Ort sich als Gemeinschaft verstünden, bleibt irgendwie fremd in der Luft stehen. „Wenn einer krank ist, helfen wir“, bemerkt eine Frau schließlich knapp. „Die Weide“ wirft jemand ein. Weiterverarbeitung der Produkte? „Das wäre schon interessant“, murmelt der Gleiche. Kooperation mit der Stadt? „Würden wir gern: Gemüse anbauen“, sagt eine Frau, „Aber wie? Wir haben kein Land.“ „Es steht ihnen zu, aber die örtlichen Bürokraten wollen bestochen werden“, schimpft Dorjpagma. Eine lange Pause entsteht, in der nur Airag getrunken wird. „Uns fehlen die Kenntnisse“, meint eine Frau endlich. „Wir brauchen Instrumente“, ergänzt eine andere. Ein karges Gespräch. Wir können nichts versprechen. Wir fühlen mehr als wir hören, welche Mängel und welche Wünsche bestehen, auch dass es, trotz allem Hoffnungen gibt, irgendwie. Aber was können wir tun?
Nach ein paar Tagen bringt Naigal einen dunkelhäutigen Gast mit in die Jurte, seinen Freund Mindé, Pferdezüchter. Nach ein paar Runden Airags und freundlichen Worten zum Woher und Wohin kommt Mindé zur Sache: Er ist gekommen, um uns einzuladen, ihn und seine Familie in seiner Jurte weiter draußen im Norden zu besuchen. Er will uns seine Pferde zeigen, außerdem einen Garten, den er zusammen mit anderen angelegt hat. Wir sagen zu. Was wir ein paar Tage später vorfinden, sind drei Jurten in einer Steppe, die teils versandet, teils schon in Moor übergeht. Großmutter, Mutter, Vater, drei Jungs, drei Mädchen leben hier. Bei sengender Hitze ist die Familie dabei, meterhohen Treibsand auszuschaufeln und wegzukarren, der das große Pferdegatter unter sich zu begraben droht. Gut 200 Stuten hat die Familie. Airag und Pferdehandel machen ihr Einkommen. Alle sechs Kinder sind in der Ausbildung, die Jungs in Karakorum, die Mädchen an der Uni in Ulaanbaatar. Den Sommer verbringen die Kinder jedes Jahr hier in der Steppe. Selbstverständlich finden sie das. Nur mit ihrer Hilfe können Eltern und Großmutter die große Pferdezucht halten. Die Erlöse gehen für die Ausbildung drauf.
Vater, Mutter, drei Söhne und vier von uns schlafen nachts in der Jurte. Für Ausländer gewöhnungsbedürftig. Am Morgen kutschiert Mindé mich auf seinem Motorrad japanischer Bauart über die staubige Trasse an den Rand der Ebene. Dort liegt sein Garten, sein ganzer Stolz. Ich verstehe: Vom Berg kommt Sturzwasser, wenn es regnet. Das Wasser wird in einem selbstgebauten Stau aufgefangen, um dann in einem dünnen Rinnsal mitten durch ein ca. 200 Meter 50 Meter breites Feld zu sickern. Auf dem Feld stehen Kartoffeln, Gurken, Kürbisse, teils sehr sauber, teils bis zur Unkenntlichkeit verkrautet. Fünf Familien betreiben das Experiment dieses Feldes, erzählt Mindé. Man hätte gern Unterstützung durch westliches Kong Hob, durch Gerät, durch Maschinen. Man würde auch gern an einen anderen Ort wechseln, der nicht von Sturzwässern verschwemmt wird. „Was könnt ihr helfen?“ Das ist wieder so eine Frage, die wir nur mit nach haus nehmen können.
Im Zuge dieses Ausflugs lernen wir auch Demberls Winterquartier kennen. Es liegt, bestehend aus blockhausähnlich gelegten Naturstämmen, neben denen die Winterjurte aufgeschlagen wird, am Rande der Ebene auf halber Höhe windgeschützt in dem zu den Bergen aufsteigendem Gelände. Von hier aus schweift der Blick weit über die verästelten Arme des Orchon. Hierhin wird das Heu geschafft, das im Sommer in den Bergtälern gewonnen wird. Von seiner Menge und Qualität hängt das Überleben der Tiere im Winter ab.
Ganz allmählich treten die Konturen nomadischer Gemeinschaften aus der scheinbaren Unverbindlichkeit der ersten Tage hervor: Eine Jurte – das ist eine Familie. Wenn die Familie größer wird, können zwei oder drei Jurten einen Zusammenhang bilden. Oft, aber nicht immer tut sich eine solche Jurteneinheit mit ein oder zwei anderen zu einer Weidegemeinschaft zusammen. Selbstversorgung ist Grundlage des Lebens. Ihre Basis ist das private Eigentum an Tieren und einfachsten Produktionsmitteln. Milch- und Fleischprodukte werden geldlos zwischen der Jurteneinheiten getauscht, allein schon um deren Verderben zu verhindern. Bei grundlegenden Arbeiten, die eine Familie nicht allein leisten kann, geht man sich gegenseitig zur Hand. Die Beziehungen sind durch gemeinsame Suche nach dem besten Weideplatz im Sommer und Vorsorge für den Winter bestimmt. Generell repräsentiert die Sommer-Jurte nur eine Seite des nomadischen Lebens; die andere zeigt sich im festen Winterquartier, in dem die Jurte entweder selbst durch doppelten Filzbelag winterfest gemacht oder auch ein festes Holzhaus bezogen und die Jurte während der Zeit „eingefroren“ wird.
Soweit gekommen, verstehen wir auch, was es mit Tschoigin auf sich hat, der uns am ersten Tag in Karakorum im Empfang genommen und dann draußen in der Steppe abgeliefert hatte. Tschoigin ist nicht nur Werklehrer in einer der Schulen Karakorums. Er ist zugleich Erbauer von Jurten und Möbeln, die er mit Hilfe einer einfachen japanischen Säge und einer Allzweckwerkbank herstellt. Darüber hinaus taucht er als Mädchen für alles immer dann draußen auf, wenn es irgendetwas zu reparieren, zu organisieren oder zu kommunizieren gibt.
Tschoigin ist, wie wir auch bald herausfinden, der älteste Sohn Demberls. Dies ist er nicht nur dem Alter nach, sondern auch im Sinne der familiären Rangordnung: Nach Demberl ist er derjenige, der die Ansagen in der Familie macht. Ohne ihn läuft nichts. Mit ihm läuft alles. Über Tschoigin werden auch die Kinder dieser Jurtengemeinschaft versorgt, die in Karakorum zur Schule gehen. Höher als Tschoigin stehen nur noch die Aller-Ältesten, der Übervater und die Übermutter des Clans aus Ulaanbaator, Ganbold und Dorjpagma.
Ein Netz der gegenseitigen Hilfe zum gegenseitigen Nutzen auf Basis privater, familiengestützter Eigentumsverhältnisse wird erkennbar. Dabei ist unter Familie mehr zu verstehen als die nächste Blutsverwandtschaft. Zur Familie gehören noch die entferntesten Onkel, Tanten und Verwandten dritten, vierten fünften bis neunten Grades, einschließlich der als Verwandte angenommenen Mitglieder langfristiger Weidegemeinschaften und deren Kinder, die oft als die eigenen betrachtet werden. Dazu kommen noch besondere Freunde. Kurz, das existenzsichernde Netz der Verwandtschaften besteht aus einer familiengestützten, jedoch über bloße Blutsbande hinausgehenden, teils frei gewählten Solidargemeinschaft, zu der auch die in den festen Siedlungen, in Ulaanbaatar oder sogar im Ausland lebenden direkten oder entfernten Angehörigen und Freunde mit dazu gehören.
Als wir aus der Steppe bei Karakorum schließlich doch noch in die höheren Regionen des Orchon aufbrechen, um dort Verwandte aus Ganbolds Linie aufzusuchen, lernen wir dort eine im Vergleich zu Demberls Familie reiche nomadische Wirtschaft kennen, die sich vor allem auf die Produktion von Kaschmirwolle und umfangreichen Handel mit Pferden stützt. Der relative Reichtum ist unübersehbar, auch wenn er – den Hirten bewusst – mit der Überweidung der Steppe durch zu viele Ziegen erkauft und daher auf Dauer nicht sicher ist: Solarpanél, Fernsehschüssel, CD-Rekorder, Mähmaschine zur Gewinnung des Winterheues, LKW vor der Jurte. Aber gerade hier wird uns deutlich, dass die Solidargemeinschaft, die wir bei Demberl in ihrer ärmlichen Form kennen gelernt haben, unabhängig vom aktuellen Lebensstandard der jeweiligen Jurtengemeinschaften offenbar die typische Form des nomadischen Lebens darstellt. Das über alle anderen Einzelheiten hinaus bemerkenswerteste Element darin ist die Bewegung, in welcher Kinder, Verwandte und Bekannte im Jahreskreislauf um die Jurte rotieren: Im Sommer ist die Familie, ist die ganze familiengestützte Solidargemeinschaft zum Leben und zum Einsatz in der Jurte versammelt. So in den Jurten bei Karakorum, so in den Bergen.
Und nicht nur aus dem Sum, dem einfachen kleinen Verwaltungszentrum, nicht nur aus Karakorum oder aus Ulaanbaatar kommen die Kinder und Verwandten für drei Monate in die Steppe, wo sie sich voll und ganz in die Arbeit eingliedern, sondern selbst die im Ausland studierenden oder gar im Ausland lebenden Mitglieder des weiteren Familienzusammenhanges finden sich im Sommer in der Steppe ein. Im Herbst, im Winter und im Frühjahr, wenn Schule und Studium wieder eingesetzt haben, bleibt nur eine Kernfamilie aus Vätern, Müttern oder Großeltern in den Jurten (oder auch festen Winterquartieren), während die Kinder von ihren direkten Verwandten oder Mitgliedern des Verwandtschafts- und Freundesnetzes in den Sums, den kleineren Städten oder auch in Ulaanbaatar selber aufgenommen und während der Schul- und Studienzeit dort betreut werden.
Mit diesem Lebensrhythmus könnten die nomadischen Solidargemeinschaften den Anforderungen und Herausforderungen der Globalisierung möglicherweise wesentlich besser gewachsen sein, wenn es ihnen gelingt, ihren Lebensstandard auch ohne Überweidung der Steppen zuhalten, als die in feste Strukturen eingebundenen Mitglieder sesshafter industrieller Gesellschaften. Hierüber lohnt es nachzudenken.
Eine übergreifende Struktur öffnete sich schließlich am Ende unserer Reise, als uns – zurückgekehrt nach Ulaanbatar, Dorjpagma und Ganbold an den Stadtrand führten, wo eine mutige ältere Witwe im Umfeld der Vorstadt-Jurten einen künstlich bewässerten großen Garten angelegt hat, in dem sie Gurken, Tomaten, Kohl, Äpfel, Birnen, Sanddorn und vieles mehr biologisch rein erntet und in dessen Gelände sie zugleich Tiere hält, ein Holzhaus und eine Jurte stehen hat. Die Nachbarhöfe dagegen sind knochentrocken und staubig.
Die Anlage eines solchen Gartens ist, wie auch Mindés Beispiel schon gezeigt hat, für mongolische Verhältnisse, insbesondere natürlich für die slumähnliche Urbanisierung in der Jurten-Vororten Ulaanbaatars, eine äußerste Seltenheit, sehr schwer, fast revolutionär. Es ist der Versuch, nomadisches und sesshaftes Leben, Jurte und Stadt miteinander zu verbinden. Da nimmt es nicht Wunder, dass dieser Ort für die Gruppe „Kultur der Jurte“ zum Versammlungsort ihrer Initiative geworden ist. Ganbold und Dorjpagma haben einen angrenzenden Hof mit Holzhaus erworben, der an das Bewässserungssystem angeschlossen werden soll. Auf dem Hof steht ebenfalls eine Jurte. Darin lebt eine Familie mit behinderten Kindern, die nichts zahlt, dafür aber den Platzwart macht. Eine ökologisch orientierte, soziale und kulturelle Stadt-Jurten-Symbiose möchte man hier entwickeln.
So kehrten wir, ernüchtert zwar, doch eindeutig klüger geworden nach Hamburg zurück. Wir wissen jetzt, was unter Unterstützung von Jurtengemeinschaften verstanden werden kann, nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Entwicklung einer Kollektivfreundschaft, anders gesagt, eines Freundschaftsnetzes auf Basis gegenseitigen Nutzens, gegenseitiger Hilfe und gegenseitiger Achtung. Drehscheibe sind Solidargemeinschaften hier wie dort, die ein langfristiges Interesse daran haben, alternative – ökologisch und spirituell nachhaltige – Formen des Miteinander Lebens zu entwickeln.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe dazu auch:

„Kai Ehlers, „Zukunft der Jurte. Kulturkampf in der Mongolei?“ Mankau Verlag, Murnau, 2006

Ausserdem: „Kultur der Jurte – Berichte 2006“

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