Kein starker Staat – keine gemeinsame Front

Putins Kriegserklärung gegen den internationalen Terrorismus ist nicht, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint: Sie ist kein Akt der Stärke, weder innen-, noch außenpolitisch. Sie ist Ausdruck einer gefährlichen Schwäche Russlands, das sich auf den verzweifelten Alleingang eines isolationistischen Weges begibt.
In seiner TV-Rede zu Beslan, deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Die Umsetzung dieser Forderung – präventive Mobilisierung gegen „den“ Terrorismus, Abschaffung der Wahl der Gouverneure, Abschaffung des Mehrheitswahlrechts, das neben den Parteivertretern bisher, die inzwischen mehrheitlich auf Putin-Linie sind, immer noch unabhängige Kadidaten in die Duma brachte, weitere Einschränkung der Freizügigkeit, mehr Vollmachten für den FSB (KGB) usw., lässt allerdings noch weniger innere Entwicklung zu als bisher. Der bloß bürokratische Würgegriff, in dessen Rahmen sich Putins autoritäre Herrschaft bisher trotz zunehmender Durchsetzung durch Geheimdienstkader noch niederschlug, wandelt sich zum offenen geheimdienstlichen, der die Gesellschaft an der Basis zu ersticken droht: Die von Putin beabsichtigten Maßnahmen für einen starken Staat schaffen keine Bürgergesellschaft, nicht einmal eine von oben organisierte, sie verhindern sie und schwächen die Innovationskraft der russischen Gesellschaft auf Dauer. Die von Putin in Aussicht gestellte Kommission, in der Bürger die Arbeit der Geheimdienste kontrollieren sollen, ist angesichts der gleichzeitigen massiven Einschränkung der Rechte im Lande ein Hohn. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus versetzt die russische Gesellschaft ideologisch in den Kriegszustand, der angesichts der zugleich wachsenden antiwestlichen Ressentiments faktisch auf einen isolationistischen nationalistischen Kurs hinausläuft. Die Einfrierung der Bankkonten von Jukos, die im Schatten der Beslan-Erschütterung durchgezogen wurde, als die Öffentlichkeit davon keine Kenntnis nahm, ergänzt diesen Kurs auf wirtschaftlichen, bzw. strukturpolitischem Gebiet. Die Einschränkung der Arbeit westlich finanzierter und orientierter NGOs, die nach der Erklärung Putins, man werde jeder kleinsten Unterstützung des Terrors nachgehen, zu erwarten ist, transportiert ihn in den russischen Alltag. Nationalisten wie der berüchtigte Geostratege Alexander Dugin, die seit langem einen schärferen nationalen Kurs fordern, frohlocken.
Mit der Kriegserklärung gegenüber dem internationalen Terrorismus ist der tschetschenische Konflikt über die Dimension eines inneren Konfliktes, als den Putin ihn immer behandeln und ersticken wollte, endgültig hinausgewachsen.
Tatsache ist natürlich, dass dieser Konflikt nie eine bloß innere Angelegenheit von Russland war, insofern ein Kolonialkrieg eben kein „innerer Konflikt“ ist. Selbst rechtlich war die Situation nach der Deklaration der Unabhängigkeit von Seiten Dudajews usw. nicht eindeutig, zumal Tschetschenien – anders als andere „nationale“ Republiken wie etwa Tatarstan oder andere Wolgarepubliken nicht innerhalb des russischen Territoriums, sondern am Rande liegt.
Russland kann aber „Hilfen“ vom Westen, speziell von Seiten der USA in der Tschetschenienfrage nicht zulassen, weil dies vor dem Hintergrund der strategischen Konkurrenz um die Vorherrschaft im Kaukasus geschieht. Es gibt keine gemeinsame Front: Die Brzezinski Doktrin, nach der die USA Weltmacht Nr. 1. sind, welche jetzt auch Eurasien kontrollieren müsse, indem die russische Vorherrschaft untergraben und destabilisiert wird, ist heute herrschende Linie der US-Politik. Brzezinski rühmt sich öffentlich, maßgeblich verantwortlich gewesen zu sein für den von den USA unterstützten afghanischen Djihad gegen die Sowjetunion. Heute ist er Vorsitzender des 1999 gegründeten „American Committee for Peace in Chechnya“. Und man betrachte die aktuelle Situation: Der einzige Nutznießer von Unruhen im Kaukasus sind die USA, der einzige, dem die Tragödie von Beslan nützt, ist der Wahlkämpfer George W. Bush.
Vor diesem Hintergrund kommen aktuelle Reaktionen der deutschen Politik, ruppig vorgetragen durch Kanzler Schröder, in bedenkliche Falten gelegt durch Außenminister Fischer – also, keine Kritik an der Tschetschenienlinie Putins, gemeinsame Präventionslinie gegen den Internationalen Terrorismus mit der Begründung, man habe gemeinsame strategische Ziele, eine Destabilisierung des Kaukasus sei weder für Russland noch für Deutschland von Interesse – einer strategischen Frontbildung gleich, die nichts Gutes erwarten lässt.
Einziger Ausweg aus dieser Lage sind Verhandlungen mit dem ehemals legitim gewählten Präsidenten Tschetscheniens, Maschadow, der nur so aus seiner Zwangsgemeinschaft mit Leuten wie dem Terroristen Bassajew und anderen gelöst werden kann. Mit beteiligt werden müssen andere Kaukaus-Anrainer und direkte Nachbarn, die ein Interesse daran haben, der Destabilisierung des Kaukasus Einhalt zu gebieten und stattdessen einen kontrollierbaren Rechtsraum herzustellen, der von einem transparenten internationalen Übergangsgremium garantiert wird. Das wäre kein Protektorat von irgendjemand – Russland, USA, Türkei u. ä. – das wäre eine Schutz.- und Entwicklungszone unter UN-Aufsicht. Das hieße: Blauhelmpräsenz statt unilateraler Truppenaufmärsche.
Eine solche Entwicklung schlösse „innenpolitische“ Gesten Wladimir Putins wie die volle Rehabilitierung der tschetschenischen Bevölkerung, die Entschuldigung für einen fast vollzogenen Genozid ebenso mit ein wie die öffentliche und vertragliche Distanzierung aller Beteiligten von gewaltsamen Formen der Konfliktlösungen im Kaukasus. Wenn dies versucht würde, könnte die Chance bestehen, das tschetschenische Geschwür nicht zum Ausgangspunkt eines eurasischen Krieges werden zu lassen. Wenn stattdessen ideologisch und militärisch aufgerüstet, der autoritäre Präventionsstaat national und international, zum Glaubenssatz erhoben werden, darf man sich bereits Gedanken darüber machen, was nach Putin kommt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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