Einwanderungsland Sibirien? Beispiel Irkutsk.

Einwanderungsland Sibirien?

Beispiel Irkutsk.

Irkutsk ist eine alte russische Kolonialstadt. Sie entstand aus der Zurückdrängung der Taren-Mongolen durch die Truppen des Moskauer Zaren im 17. Jahrhundert, genau 1661. Der Name Irkutsk selbst zeugt von dieser Geschichte. Er geht, so die Erinnerung von mongolischer Seite, auf das mongolische Hauptstadt der Burjätischen autonomen Republik, Ulan Ude, deren Name sich aus dem mongolischen Ulan-Ut herleitet. Das eine bezeichnet einen kräftigen männlichen, das andere einen offenen, weiten Ort. In beiden Orten, östlich und westlich des Baikal, sahen die Nomaden besondere Kräfte des Natur konzentriert. Die russische Geschichte weiß von dieser Namensentwicklung nichts zu berichten.
Bis in die Anfänge des Zwanzigsten Jahrhunderts war Irkutsk eine gemütliche Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Baikalsee. Mit der sowjetischen Entwicklung wurde das alte Zentrum von Industrieanlagen und Plattenbauten eingekreist. Heute ist auch Irkutsk eine der millonenstarken sibirischen Industrieagglomerationen – allerdings immer noch mit einem historischen Kern und malerisch gelegen am Angara, der aus dem Baikal nach Norden fließt, so daß die Stadt seit Jahren wachsenden Zulauf von Touristen aller Ländern hat.
Seit 1991 allerdings, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das hört man von EinwohnerInnen, einheimischen Wissenschaftlern ebenso wie von Geschäftsleuten, verändere Irkutsk sein Gesicht zuehends: Man meint damit die azerbeidschanische Vorstadt, die ethnischen Mafias, vor allem aber den chinesischen Markt. Schanghai, heißt es, liegt heute im Zentrum unserer Stadt.
Seit der Öffnung der Grenzen 1991 wurde und wird Irkutsk zunehmend zu einem Ort der legalen, mehr aber noch der illegalen Einwanderung: Es sind Immigranten aus westlichen Teilen der ehemaligen Union, Armenier, Azerbeidschaner, Tschetschenen; es sind Immigranten aus den GUS-Ländern Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, auch aus den südlichen Teilen des sibirischen Rusland, Tuwa, Chakasien, Altai, vor allem aber sind es Chinesen, die zu Tausenden als Händler und Arbeitsimmigranten in die Stadt und in den Regierungsbezirk Irkutsk strömen.
Genaue Zahlen sind naturgemäß nicht bekannt. Die Zahl der legalen Einwanderer hält sich bei einigen zehntausend für Irkutsk in überschaubaren Grenzen, heißt es in der Gouvernementsverwaltung. Über die illegalen Zuwanderer, die von ethnischen Schlepperbanden ins Land geschleust werden, liegen keine Zahlen vor. Die weitaus größte Gruppe, so viel zeigt schon der Augenschein, stellen jedoch die Chinesen, die scharenweise und in wachsendem Masse ins Land kommen.
Genaue Angaben sind schon deswegen nicht möglich, weil die Mehrheit dieser Menschen unangemeldet in der Stadt und im Land Irkutsk lebt – wie auch in den angrenzenden Gebieten. Zudem ist – vornehmlich bei den chinesischen Immigraten – die Fluktuation sehr stark. Manche reisen – mit zeitlich begrenzten Visen von drei Monaten – mehrmals im Jahr ein und wieder aus; andere bleiben nach Ablauf der drei Monate illegal im Lande, wieder andere kommen völlig ohne legale Papiere oder benutzen die ihrer Verwandten. Die Verwaltung, des Chnesischen nicht mächtig, ist nicht in der Lage diese Vorgänge zu kontrollieren.
Vorsichtige Schätzungen gehen für den gesamten sibirischen und fern-östlichen Raum von gut einer Million chinesischer Immigranten aus. Andere, bemerkenswerter Weise, moskauer Angaben liegen bei sechs Millionen. So oder so: Der objektive Druck, den die 1,2 Milliarden starke chinesische Bevölkerung auf den mit 20 Millionen vergleichsweise unterbesiedelten sibirischen und fern-östlichen Raum ausübt, ist unübersehbar.
In der Bewertung dieser Entwicklung ist man vor Ort jedoch erstaunlich nüchtern: Prof. Djadlow von der historischen Fakultät der Stadt Irkutsk beispielsweise, Spezialist für die Entwicklung von Diasporen, insbesondere der chinesischen, deren Entstehung er seit Jahren mit mehreren Forschungsprojekten verfolgt, sieht keine aktuelle Bedrohung des russischen Lebensraumes durch die Immigration, auch nicht durch die chinesische. Er weist vielmehr auf die unterschiedlichen Phasen hin, welche die Immigration, insonderheit die chinesische, seit 1991 durchlaufen habe:
1991 bis 1993, so der Professor, habe die Immigration durch chinesische Kleinhändler Sibirien und den fernen Osten – vielleicht sogar Russland im großen Maßstabe – vor der totalen Katastrophe gerettet, als chinesische Billigstwaren die notdürftigsten Lebensbedürfnisse der russischen Bevölkerung deckten. Zwar habe sich inzwischen ein russischer Markt für gehobene und mittlere Ansprüche herausgebildet, auf dem – Geld vorausgesetzt – alles zu bekommen sei. Für die unteren sozialen Schichten sei der chinesische Billigmarkt jedoch auch heute noch überlebenswichtig.
Zum Zweiten, so der Professor weiter und liegt damit ganz auf der offiziellen Linie der Irkutsker Politik – würden dem russischen, speziell dem sibirisch-fernöstlichen Arbeitsmarkt durch die Immigration die notwendigen, ohne die Immigranten sonst fehlenden Arbeitskräfte zugeführt.
Ganz im Gegensatz nämlich zu den landläufigen, vor allem im Westen verbreiteten Klischés der wachsenden russischen Arbeitslosigkeit, so der Professor, sei der russische Arbeitsmarkt, vor allem der sibirisch-fern-östliche in gefährlichem Maße mit Menschen unterversorgt, die bereit seien, physische Arbeit zu leisten. Die einheimische Bevölkerung verweigere zu weiten Teilen den Einsatz bei physischer Arbeit, sie bewege sich lieber nach Westen, wende sich dem Kommerz, intellektuellen oder dienstleistenden Arbeiten zu. Die physischen Arbeiten würden zunehmend von Immigranten aus dem Süden und dem Osten übernommen – armenische, azerbeidschanische, tschetschenische Bauarbeiter seien heute die Regel, besonders aber die Chinesen, die durch die hohe Arbeitslosigkeit in ihrem Heimatland über die Grenzen getrieben würden und gezwungen seien, jegliche Arbeit anzunehmen, die sich biete.
Bisher, so der Professor – halte sich die ganze Entwicklung daher in Grenzen. Aktuelle Warnungen vor einer „gelben Gefahr“ hält er für Alarmismus. Bisher sei die Immigration weder für Irkutsk noch für andere sibirisch-fern-östliche Städte gefährlich, sondern immer noch nützlich, zumal Ansiedlung, Eigentumserwerb und Einbürgerung durch aktuelle Gesetze sehr erschwert würden. Für die Zukunft allerdings sieht nicht nur der Professor, sondern sehen auch staatliche Organe Probleme: Bei weiterer Zuwanderung von chinesischen Immigranten, ja, deren zu erwartender St eigerung, so befürchtet man, könnte das kulturelle Gleichgewicht der Stadt Irkutsk wie insgesamt Sibiriens verloren gehen, das sich bisher durch eine ausgewogene Vielfalt an Kulturen auszeichnete. In zehn oder fünfzehn Jahren könnte eine Situation entstehen, daß neben der sibirischen nur noch eine weitere Kultur existiere, die chinesische. In einer solchen kulturellen Doppelstruktur aber liege die große Gefahr von Prioritätskonflikten, die es bisher in Irkuts nicht gebe. Wie dieser Gefahr begegnet werden kann – darüber gibt es keinen politischen Konsens. Die Zeit werde es zeigen. Allein darin ist man sich einig.

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