RUSSLAND nach der Wahl:: Ruhe vor dem Sturm? Probleme in den Regionen?

Die Machtübergabe ist reibungslos erfolgt. Doch weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, könnte das Programm der neuen Führung direkt in neue Konflikte münden. Denn nachdem die Privatisierung der Produktionsmittel weitgehend abgeschlossen ist, muss nun das kommunale und soziale Leben privatisiert werden. Dies könnte zu schweren Auseinandersetzungen in den russischen Regionen führen.

Am Wahlsonntag überraschte die Meldung, dass nicht nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zur gleichen Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und zusätzlich 106 Volksentscheide in 18 „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden. Worum es dabei ging, blieb im Dunkeln. Aber die Tatsache, dass mehr als hundert Volksentscheide in den Regionen an diesem Tag so gut wie nicht ins öffentliche Bewusstsein drangen, zeigt, worum die neue Führung sich zu kümmern haben wird: Um die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Staatsspitze und Basis der Bevölkerung in den Regionen..

Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber nach Protesten auf Eis gelegt wurden. Dazu gehören die Entwicklung des Gesundheitswesens, das allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, die Durchführung eines Wohnungsbauprogramms, um die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung in der russischen Bevölkerung.

Der gegenwärtige Zustand in diesen vier Bereichen ist durchweg mangelhaft, teilweise sogar katastrophal. Im Gesundheitswesen hat eine Zwei-Klassen-Medizin die früher kostenlose medizinische Versorgung verdrängt. Die Preise auf dem derzeit chaotischen Wohnungsmarkt -einer Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und Häusern in Staatsbesitz – sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt wie für das Gesundheitswesen: Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve schließlich hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; viel wurde dadurch allerdings bisher nicht erreicht.

Es könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung der von Medwedew angekündigten „Vier I’s“ – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – den angeblichen sozialen Intentionen der „nationalen Programme“ diametral entgegenläuft. Große Teile der Bevölkerung sind nach wie vor nicht bereit, viele auch materiell nicht in der Lage, den in diesen Programmen angelegten Übergang vom Prinzip der gemeinschaftlichen Grundversorgung, einschließlich darin enthaltener besonderer Zuwendungen für besondere Gesellschaftsschichten, in eine Geldordnung mitzumachen, in der jeder allein für sich sorgen, das heißt vor allem, zahlen muss.

Ein Blick auf das Programm Gennadi Sjuganows, des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwedews, der trotz der Wahlniederlage über starken Rückhalt in der Bevölkerung vor allem in den Regionen verfügt, verdeutlicht den Konfliktstoff: Sjuganow fordert die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das: Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das Wohn- und das Wassergesetz, das Gesetz zur Privatisierung des Bodens, des Waldes sowie das Arbeitsgesetz, das Streiks faktisch illegalisierte. Das alles sind Gesetze, welche die traditionellen Elemente der Gemeinschaftsversorgung durch Geldwirtschaft ersetzen sollen.

Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet daher nicht: Putin oder Medwedew. Sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial? Durchsetzung „europäischer Normen“, wie die Liberalen es nach wie vor fordern, oder Bewahrung eigener russischer Strukturen? Anders gesagt: Es stellt sich die Frage, auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet, was unwahrscheinlich ist. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen.

veröffentlicht in: Deutsche Zeitung Moskau

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