Sibirien – Ursprung der Völker und Land der Zukunft? (Text)

Programmtext für  gleichnamiges Fature

Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus. Die einen fühlen sich an endlose Weite, an unberührte Natur erinnert. Sie denken an schamanische Rituale, die heute wieder in Sibirien auferstehen. Das gilt besonders für den Süden Sibiriens, wo auch heute mongolische, tatarische und turkstämmige Völkerschaften in Republiken oder Regionen wohnen, die nach ihnen benannt sind wie etwa die Burjäten am Baikal, die Chakasen am Fuße des Altai, die Altaizi und die Tuwa an der Grenze zu Kasachstan. Viele der genannten Völker leben heute teils in Rußland, teil in der Mongolei, in Kasachstan oder auch in China.
Sibirien – dieses Wort löst aber auch Schauder aus. Bilder von Straflagern, von Verbannung, von Schrecksszenarien des GULAG, des Systems der stalinistischen Arbeits- und Umerziehungslager kommen hoch. Darauf legen sich die seit der Öffnung der früher verschlossenen Städte bekanntgewordenen und immer noch weiter bekannt werdenden Szenarien ökologischer Katastrophen, die aus der schnellen Industrialisierung und der rücksichtslosen Vernutzung der Natur durch eine ausufernde Militarisierung resultieren. Wer heute durch Sibirien fährt, trifft überall auf die Zeugen dieses industriellen Kriegszuges gegen die Natur, gegen den Wald, gegen die Steppe und gegen die Menschen.
Aber Sibirien – das sind auch die schier unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, die ökologischen Potentiale eines noch nicht erschlossenen Raumes bis hin zu einer unerforschten Vorgeschichte. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier leben, Kinder von Kolonisatoren aus dem Westen, aus Rußland die einen, Nachkommen einheimischer, zumeist nomadischer Völker aus dem zentralsibirischen Raum die anderen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Altai. Aus Hunnen, Mongolen, Tataren, Turkvölkern und anderen Nomaden auf der einen, aus kolonisierenden Siedlern auf der anderen Seite entstand eine Verbindung von aus nomadischer und seßhafter Gesellschaft, die ihre eigenen Verhaltensweisen, ihre eigenen Ideale von menschlichen Beziehungen hervorgebracht hat. Es ist der Pionier, der unterwegs ist im Kampf mit den widrigen Umständen einer rauhen Natur, gegebenfalls aber auch einer ihm feindlichen Gesellschaft, die ihn als politischen Verbannten, als Kriminellen oder auch als Andersgläubigen ausgestoßen hat. Eine sehr eigensinnige Ethik entwickelte sich hier, die einerseits der Freiheit, ja, Ungebundenheit des Einzelnen, zugleich aber auch der Einordnung in die natürlichen Gegebenheiten und ins soziale Kollektiv, der Hilfe auf Gegenseitigkeit einen hohen Wert beimißt. Wenn heute von politischer Renaissance in Sibirien die Rede ist, dann sind diese Traditionen gemeint.
Sibirien ist aber auch, angestoßen durch die forcierte Industrialisierung nach der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch nach der Verlagerung der russischen Industrie in den sibirischen Raum vor und während des zweiten Weltkrieges zu einem eigenen, hochentwickelten Wirtschaftsraum herangewachsen, der heute an der Schwelle seiner wirtschaftlichen Selbstständigkeit steht. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten noch einmal weitere Schübe in diese Richtung. Perestroika hatte ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß innerhalb des einheitlichen Monolithen der Sowjetunion neue Kräfte herangewachsen waren, deren Wachstum die Hülle der Union sprengen mußte. Nicht von ungefähr kamen die ersten wissenschaftlichen Forderungen zur notwendigen Intensivierung der Produktion durch eine demokratischen Öffnung Ende der Siebziger aus Nowosibirsk. Sie kamen aus der Neuen soziologischen Schule der Tatjana Saslawskaja an der Akadem Gorod, der Akademikerstadt von Nowosibirsk, die dort erstmalig mit empirischen soziologischen Untersuchungen den jahrzehntelang geschönten Ziffern von Plansoll- und Planhaben zu Leibe rückte.
Heute befindet sich Sibirien ebenso in der Krise wie alle Länder und Gebiete der ehemaligen Union. Aber mit seinen natürlichen Ressourcen, mit seiner das Zupacken gewohnten und qualifizierten Bevölkerung und mit seiner entwickelten Industrie verfügt es über Kräfte, die ihm helfen werden, den notwendigen Schritt der Abnabelung zu vollziehen. Es steht zwischen Asien und Europa wie ein Kind zwischen Vater und Mutter, bereit seine eigenen Wege zu gehen, wenn die Eltern es ihm gestatten – und auch wenn sie es ihm nicht gestatten; in dem Fall wird es sich allerdings mit Gewalt losreißen müssen.

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