Anschero-Sudschinsk Stadt im Zentrum der russischen Krise

1.    Text für das Begleitheft

Unterwegs in Sibirien: Die Fahrt geht nach Anschero-Sudschinsk. Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet: Mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, ist die Stadt der Kern des sibrischen Krisengebietes. Die ersten Proteste, welche die langen Jahre des Streikverbots Ende der Achtziger ablösten, gingen von hier aus. Hier entzündeten sich die ersten Proteste gegen gegen Michail Gorbatschow, in deren Verlauf Boris Jelzin an die Macht kam. Von hier ging die Bewegung aus, in deren Verlauf die Berrgarbeiter im Sommer und Herbst 1998, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres, der das Ende der Ära Jelzin, das heißt das Ende der einfachen Raubprivvatisierung einleitete. In Zukunft muß russische Politik sich wieder sozialen Fragen zuwenden, wenn sie Revolten vermeiden will.
Zu sowjetischen Zeiten gehörte Andschero-Sudschinsk, ebenso wie andere Städte des Kusbass zu den privilegierten Orten des Landes. Bergarbeiter in den fünf Zechen der Stadt zählten zu den Spitzenverdienern; die soziale Infrastruktur – Kantinen, Kindergärten, betriebliche Sozialversorgung – die logistische Struktur der Städte und der Region – Strom, Gas, Wasser, Straßennetz usw. galten als vorbildlich. Noch heute sind die Straßen des Gebietes ohne Schlagloch-Slalom befahrbar. Neue Städte wie etwa Tscharipowa in der Region Krasnojarsk wurden noch Ende der Siebziger aus dem Boden gestampft. Für Lenonid Breschnjew hatte der Ausbau des Kusbass zum sibirischen und darüberhinaus zum euroasiatischen Energiezentrum, das nicht nur Sibirien, sondern auch die damals an die UdSSR angrenzenden  Staaten in Ost und West mit Strom versorgen sollte, den Charakter eines Jahrhundertprojektes. Zu tausenden strömten noch Anfang der Achtziger junge Familien, organisiert vom Kommunistischen Jugendverband, den Komsomolzen, zum sozialistischen Aufbau aus allen Teilen der Union hier zusammen. Mit der Ölkrise Ende der Siebziger, einer der Ursachen der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika, erstarrte die Entwicklung abrupt und in bizarren Formen wie Wasser in plötzlich ausbrechendem Frost. Heute sind drei der fünf Zechen von Andschero-Sudschinsk geschlossen; im Jahrhundertprojekt Tscharypowa schaut die Tristesse aus den leeren Fensterhöhlen halbfertig stehengelassener Wohnmaschinen.
Andschero Sudschinsk ist heut die Stadt der russischen Föderation mit der höchsten Selbstmordrate. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist arbeitslos, die meisten von ihnen sind dem Alkohol verfallen. Die Frauen, die als Sekretärinnen, Bibliothekarinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Schaffnerinnen usw. meist in Berufen tätig sind, die aus dem kommunalen Budget bezahlt werden, müssen mit Löhnen auskommen, die kaum für die Teekasse reichen. Oft bleiben auch diese Löhne noch aus. Die Bevölkerung lebt, wenn sie nicht zu den wenigen Vermögenden zählt, die aus der Krise ihren Profit zieht, von den Erzeugnissen ihrer Datschen, auf deutsch ihrer Schrebergärten.
Unser Autor ist mit einem Ärzteteam in die Stadt gekommen, das medizinische Hilfe gegen den Alkoholismus leistet. Im Gespräch mit Klienten der Ärzte, mit Passanten, mit dem Direktor der Schule, in dem die Alkoholiker therapiert werden,  mit dem Bürgermeister der Stadt und Fabrikdirektoren aus dem benachbarten Nowosibirsk entsteht das Bild von Andschero Sudschinsk als exemplarischem Krisenherd des heutigen Rußland. Was haben die Streiks gebracht? Wird es bei Streiks beliben? Wird es zu Revolten kommen? Das sind die Fragen, denen der Autor bei seinem Gang durch die Stadt nachspürt. Die Antwort ist so einfach wie bemerkenswert: Die Menschen, obwohl hoffnungslos, suchen nach einer Alternative zur Gewalt. Wie diese Alternative aussehen kann, ist eine offene Frage.

Zusatztext
Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

II. Manuskript

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise

O-Ton 1 Platzmusik                                0,55
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden , unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
Musik…
Feiern, um die Weltuntergangsstimmung zu vertreiben. Das gilt nicht nur für Andschero Sudschinsk. Das gilt für ganz Rußland. Aber Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet. Die Stadt ist mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, Kern des sibrischen Krisengebietes. Die Streiks von 1998 gingen von dort aus, als die Bergarbeiter, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese  Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres. Am „Tag der Bergarbeiter“ wird dieser Ereignisse alljährlich gedacht

Regie: hier ausblenden

Erzähler:
Alljährlich aber wiederholt sich auch dieses Bild:
Nur wenige Ecken weiter, gerade weit genug, um das laute Treiben nicht mehr zu hören, stehen die Menschen Schlange vor einem kleinen Kiosk, an dem Brot verkauft wird. Hier drehen sich die kargen Gespräche um steigende Preise, um zurückgehaltene Löhne, um nicht gezahlte Pensionen. Der Brotpreis ist nach wie vor subventioniert. Für viele, die keinen Garten haben, ist das die letzte Existenzgrundlage. Aber wie lange wird das so bleiben? Die Forderungen der Bergleute sind bis heute nicht erfüllt; die Verelendung der Region schreitet voran. Den Statistikern gilt Andschero Sudschinsk als sterbende Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der russischen Föderation. Wie geht es weiter? Hatten die Streiks einen Sinn? Wird es neue Streiks geben?

O-Ton 2: Frau in der Schlange                                 0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Nu, (unverständl.) daroga…
“Daß die Gleise blockiert wurden, das war natürlich schon nicht mehr gut.”, meint diese Frau, die selbst an den Besetzungen nicht beteiligt war. „Aber andere Mittel hat man ja nicht mehr“, fährt sie fort. „Kein Geld! Die Menschen hungern doch schon. Selbst Brot für die Kinder können manche sich nicht mehr kaufen.” So etwas, empört sie sich, habe es selbst im Krieg nicht gegeben.
… takowa nje bila”

Erzähler:
Den Versprechungen der Regierung glaubt niemand mehr.

O-Ton 3: Mehrere Menschen, Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nje veru ja…
„Ich glaube nicht ein Wort“, sagt der Mann. Die Frau stimmt ihm zu: „Immer wieder Versprechungen, immer wieder dasselbe.“ So könne es nicht weitergehen, meint ein anderer. Das Wort Revolution klingt auf.

O-Ton 4: Schlange in Andschero-Sudschinsk                             0,16
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Ne snaju, normalno…“
„Ja, das wäre normal”, sagt der Mann. “Man muß möglichst bald eine Revolution machen. Dann gibt es vielleicht wieder Ordnung.”
Und er fügt an, was er unter Revolution versteht: “Oben muß aufgeräumt werden; ein Umsturz muß her!”
…djelat nada“, Straße

O-Ton 5:  Forts. Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 1. Absatz des Erzählers hochziehen

Erzähler:
“Nam mnoga krowje…
“Viel Blut würde fließen“, wendet ein anderer ein. Die Umstehenden nicken. “Man muß alles auf friedlichem Wege machen,” fährt der Mann fort. Doch wie das geschehen könnte, weiß er nicht. “Wir sind die Arbeiterklasse, “sagt er, “darüber sollen die da oben nachdenken.”
…tam verhach”, Stimmen

Erzähler:
Die Geduld der Menschen ist am Ende. Seit Mitte der 80er stemmen sie sich mit allen Mitteln des friedlichen Protestes gegen den Niedergang der Region, die noch in den Siebzigern als Rußlands Energiezentrum galt und zu den reichsten Region des Landes zählte, deren Arbeiter priveligierte Löhne und soziale Leistungen erhielten. Mit der Krise Mitte der Achtziger, ausgelöst vom Ölpreisverfall auf dem Weltmarkt, kam der Kohleabbau an die Rentabilitätsgrenze, die Gruben verfielen, „Jahrhundertprojekte“ des sibirischen Energiezentrums wurden von heute auf morgen eingefroren, die Bergarbeiter rutschten von der Spitze der sozialen Pyramide an deren Boden. Sie forderten Hilfe und Selbstbestimmungsrechte von Michail Gorbatschow, als er noch Parteisekretär war. In vorderster Reihe trugen sie zu dessen Rücktritt bei, als nichts geschah. Mit Boris Jelzin schlossen sie einen Vertrag, der die Erfüllung ihrer Forderungen vorsah. Als wieder nichts geschah, die Privatisierung der Zechen statt dessen dazu führte, daß die Kohle zu Dumpingpreisen verschleudert wird, der Erlös in schamloser Offenheit von moskauer, aber auch örtlichen Finanzbürokraten privat beiseitegeschafft wird, während die Belegschaften um ihre Löhne betrogen, entlassen oder einfach vergessen werden, da schritten sie zur Blockade der Schienen.
Geschehen ist wieder nichts, aber zur Revolution ruft niemand auf. Warum nicht? Ein jüngerer Mann, leicht angetrunken, wie es scheint, Facharbeiter in der ebenfalls stillgelegten größten Maschinen-Fabrik des Ortes, erklärt das so:

O-Ton 6: Facharbeiter, Forts.                                 0,41
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Da,  potschti revolutionni…
„Ja, es ist eine nahezu revolutionäre Situation. Ich weiß nicht, wie sie zustandekam, aber erwächst jedenfalls nichts Gutes aus ihr. Deshalb haben die Herrschenden begriffen, daß Gewaltanwendung hier nicht möglich ist. Es gab keine Polizeieinsätze. Selbst die Sondertruppen der OMON hielten sich zurück. Sie sind ja selbst in der gleichen Lage. Sie kriegen ebenfalls ihren Lohn nicht. Sie wissen, daß die Menschen gegen das Elend aufstehen. Deshalb sind sie mindestens neutral. Einige haben sich sogar offen solidarisch erklärt. Aber es wird nicht lange gut gehen. Es müssen Maßnahmen her, welche die Menschen beruhigen. Jelzin hat die Bergarbeiter betrogen, er muß weg. Das ist klar. Aber ob das etwas nützt? Ich weiß nicht, das ist schwer zu sagen. Es ist eine nicht vorhersagbare Situation.“
…nje pedskasuimaja situatia“

Erzähler:
In der Schule Nr. 8, einer der besseren aus einem Dutzend Schulen des Ortes, versammelt sich eine andere Gruppe von Menschen. Es sind Trinker, begleitet von ihren Frauen, Müttern und Töchtern. Die Männer wollen sich bei einer Ärztegruppe, die aus Nowosibirsk, der sibirischen Metropole, über eine Entfernung von dreihundert Kilometern angereist ist, von ihrer Alkoholsucht heilen lassen:

Ton aus: Was ist das russische.. Ton: B: O-Ton 16: Klinik 2000
O-Ton 10: Laser-Akupunktur-Behandlung                            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Gut dreißig jüngere und ältere Männer unterziehen sich der Prozedur einer Laser-Akupunktur-Behandlung, mit der sie ihr Verlangen nach Alkohol blockieren lassen wollen. Mehr als zwei Monatsgehälter müssen sie dafür hinlegen. Der Alkoholismus ist eine der schlimmsten Plagen der Stadt. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung neigt heute zum Alkoholismus, zunehmend auch Frauen. Zudem wird immer öfter gepanschter Fusel, anstelle des früher staatlich geprüften Wodkas verkauft. Auf den Dörfern der Region ist es noch schlimmer. Dort hängen oft sämtliche halbwegs erwachsenen Bewohner an der Flasche:

O-Ton 11: Bergarbeiter und Frau                            1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei männlicher Stimme wieder hochziehen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzählerin:
„Mnoga, konjeschna…
„Viele haben das Problem, bestätigt einer der Wartenden, ein ehemaliger Kumpel. Er hat sich entschlossen trocken zu werden, weil sein Alkoholkonsum das Familienbudget endgültig zu ruinieren droht. Die graue Dumpfheit der Stadt sei Schuld, erklärt seine Frau, die Perspektivlosigkeit und ihr Mann ergänzt:

Übersetzer:
„Es gibt so viele Probleme, Probleme sozialen Charakters, Wohnprobleme. Die Pension wird nicht rechtzeitig gezahlt, kein Lohn, die Menschen verkommen.  – Noch viel mehr Leute würden sich hier gern behandeln lassen, wenn sie könnten. Aber ihnen fehlt schon das Geld dafür.“
… nje swje imeet wasmoschnost.“

Erzähler:
Die ersten Streiks nach dem Einsetzen der Perestroika sind dem Alten noch frisch im Gedächtnis:

O-Ton 12: Bergarbeiter und Frau, Forts.                         1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Posle raswala sowjetskaja…
„Klar, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, da war der erste Streik in Rußland hier, neunundachtig war´s,  im August. Das war auch hier in Andschero. Von hier aus ergriff der Streik den ganzen Kusbass. Damals dachten wir schon, wir seien am Ende. Aber richtig am Ende sind wir erst jetzt. Was wir erreichen wollten, haben wir nicht erreicht. Wir haben auf Jelzin gesetzt, aber es wurde nur noch schlimmer. Heute ist es doch so, daß der Präsident im Grunde auf das Volk pfeift. Bei der Regierung geht es nur um die Macht, um die eigene persönliche Macht. Mehr nicht! Das tut einem in der Seele weh.“
…kak my gaworim.“

Erzähler:
Tiefschwarz, schwärzer als der Schnee, der in dieser Gegend im Winter dunkel vom Himmel fällt, ist die Resignation, die von den in der Schule Versammelten ausgeht. Wortkarg, aber bitter sind ihre Urteile. Privatisierung – das ist für sie Raub; Politiker sind für sie Verbrecher. Demokratie heißt bei ihnen Darmokratie. Sie selbst sehen sich aufg ihre Ersparnisse, auf  Zuwendungen Verwandter oder ihre Datschen, Schrebergärten, reduziert. Wer das auch nicht mehr hat, verkauft seine Wohnung, verfällt der Obdachlosigkeit und Asozialität. Versicherungen, caritative Organisationen, Armenhäuser gibt es nicht:

O-Ton 13: Klientenrunde in der Schule                        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz aufblenden, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Abidna. tolka…
„Eine Schande ist das“, meint diese Frau. „Das Geld geht dahin, an westliche Wiederverkäufer, an unsere Zwischenhändler. Bei denen, die produzieren, bleibt nichts. Raub ist das, ein Verbrechen. Es ist diese Ausweglosigkeit, die das Volk aufbringt.“ Nicht daß sie Stalin wiederhaben wolle, fährt die Frau fort. Aber unter Stalin seien die Preise jedes Jahr gesunken.

Übersetzerin:
„Danals as die Menschen noch Vertrauen in den Staat hatten, da haben sie selbst den Krieg überlebt. Aber heute? Wir ackern mehr, aber wir haben weniger! Vergleichen Sie ihre Gesellschaft mit der unsrigen. Um die Familie er erhalten, müssen die Frauen  bei uns arbeiten wie im Lager. Jawohl, wir leben im Lager!  Was hier geschieht, ist ein glatter Völkermord.“
…genozid naroda…“

Erzähler:
Selbst Stalin und der zweite Weltkrieg erscheinen der Bevölkerung, die sich aus einer privilegierten Lage zum sozialen Schlußlich des Landes erniedrigt sieht, erträglicher als die allmähliche, unabsehbare Verelendung heute. Einer der aus Nowosibirsk angereisten Ärzte, durchaus kein reformfeindlicher Scharfmacher, sondern als Mitglied dieser selbstständig praktizierenden Kooperative von Medizinern und Psychotherapeuten selbst Nutznießer der Perestroika, bemüht sich, die Gefühle seiner Klienten statistisch zu erläutern:

O-Ton 14: Arzt                                1,58
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, kak gawerjat…
„Nun, der Begriff Genozid hängt vielleicht ein bißchen in der Luft. Aber Tatsache ist: Die Regierung vernichtet das Volk, weil sie es nicht benötigt, genauer gesagt, schon nicht mehr benötigt. Je weniger es von uns gibt, um so besser für die Regierung. Die mittlere Lebenserwartung in Rußland beträgt für Männer heute 57 Jahre! Das ist offiziell. Das heißt, wir erreichen das gesetzliche Pensionsalter nicht. Nimm als Zweites die staatlichen Förderungs- und Unterstützungsprogramme: Da siehst du,  daß die ungeschützteste Schicht unserer Gesellschaft heute die Kinder sind. Im Sozialismus waren sie die am besten versorgte Kategorie. Im totalitären Staat galten sie ja als die Garanten der Zukunft. Unsere Regierung heute hat die Kinder vollkommen vergessen. Die Schulen befinden sich in einem Zustand, in dem sie nur noch von den Eltern unterhalten werden. Ein normaler Mensch mit normaler Arbeit kann sein Kind heute praktisch nicht zu einer besseren Schule schicken. Dafür reicht sein Verdienst nicht. Mit der Ausbildung ist es das Gleiche. Und für solche Kinder kommt dann gleich die Armee. Man weiß ja, was das bei uns bedeutet: Die ist schlimmer als das Gefängnis, ganz zu schweigen von Tschetschenien und all diesen vernichtenden Einsätzen. Kurz, eine Chancengleichheit, wie sie propagiert wird, gibt es bei uns ganz und gar nicht. Alles hängt vom Einkommen der Eltern ab.“
… Dochodom roditeli.“

Erzähler:
Schriftsteller wie Alexander Solschenyzin waren schon seit Jahren vor einem Aussterben des russischen Volkes. Rechte politische Kräfte versuchen mit diesen Tatsachen nationalistische Stimmungen zu schüren. Die Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß ausgerechnet der Direktor einer Schule, nämlich Alexander Malawanow, der bereits die Räume der Schule Nr. 8 für die Nowosibirsker Ärzte zur Verfügung stellte, sich als besonders aktiver Unterstützer der Streiks erweist. Zusammen mit dem Lehrpersonal anderer Schulen, mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, mit der Leiterin der örtlichen Bibliothek und anderen sogenannten Budgschetnikis, also aus dem kommunalen oder staatlich Budget finanzierten Angestellten, deren Wohlergehen davon abhängt, daß die Bergleute ihren Lohn erhalten, hat er sich dafür eingesetzt, die Streikenden zu versorgen und deren Ziele in der Öffentlichkeit zu erläutern. Auszahlung ausstehender Löhne, Auszahlung der Pensionen seien anfangs die Hauptforderungen gewesen, so Malawanow; die Forderungen nach Rückgabe unrechtmäßig angeeigneten Volksvermögens und nach Rücktritt des Präsidenten, erst recht aber der Plan der Besetzung  sei erst aufgekommen, als nichts geschah. Als Abgeordneter der städtischen Duma hat der Direktor außerdem dafür gestimmt, daß der Bürgermeister, der sich mit den Streiks nicht solidarisieren mochte, zurücktreten mußte. Warum er sich so engagiere? Für ihn, so der Direktor, sei Andschero Suchinsk nur ein Beispiel für die Schieflage, in die Rußland geraten sei:

O-Ton 16: Direktor der Schule Nr. 8                            1,30
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Krise sdes po moemu obsche…
„Die Krise hier ist meiner Meinung nach eine allgemeine russische, nicht nur eine Strukturkrise. Denn wenn man Betriebe schließt, dann muß der Staat sich Gedanken machen, wohin mit den Kindern der Menschen, deren Betriebe geschlossen werden. Aber nichts dergleichen geschah. Hier ist nur einfach geschlossen worden: Anschersker-Schacht – geschlossen, Sudschinsker Schacht – geschlossen, weiterverarbeitende Fabriken – geschlossen! Aber wohin die Kinder, wohin die Arbeiter gehen, darüber hat niemand nachgedacht. Die Arbeiter haben keinerlei Chance sich irgendwo etwas Neues aufzubauen. Da werden in Moskau die tollsten Stützprogramme für die Entwicklung mittleren Unternehmertums, für Umschulung usw. versprochen. Aber nicht ein Mensch macht die nötigen Gelder dafür frei. Das bleibt alles auf dem Papier.“
…Nikto nje dajot.“

Erzähler:
Hauptadressat der Proteste, da ist der Direktor der Schule Nr. 8 ganz einer Meinung mit der übrigen Bevölkerung des Ortes, muß daher Moskau sein, nicht die örtlichen Direktoren. Nicht wenige örtliche Direktoren seien selbst Opfer der Moskauer Mafia, die sich Kohle kommen lasse, aber nicht bezahle. Wenn Moskau nicht einlenke, werde es unvermeidlich zu neuen Aktionen, vielleicht sogar zu Revolten kommen. Von Revolution aber will auch der Direktor nichts hören. Eine andere Politik sei gefragt, findet er. Auch Streiks, obwohl unvermeidlich, sind für ihn auf Dauer keine Lösung. „Die Streiks haben faktisch nichts gebracht“, erklärt er. Ein Monatslohn sei nachgezahlt worden, der Rest stehe immer noch offen. Wenn Moskau den Kurs nicht ändere, werde am Ende eine Eskalation stehen, über die er gar nicht nachdenken möchte.
Für den Direktor ist daher klar:

O-Ton 16: Direktor, Forts.                            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nu ja sam schiwu…
„Nun ich lebe ja nun mal selbst in einer Bergarbeiterstadt. Die Stadt ist in einen Abgrund geschliddert. Es gibt so viele Arbeitslose, so viele Menschen ohne Aufgaben, so viele Frauen, die nicht wissen, wie sie die Kinder groß kriegen sollen – tiefer können wir nicht mehr sinken! Das haben inzwischen nicht nur die Einwohner von Anschero-Sudschinsk begriffen, das hat inzwischen ganz Rußland verstanden. Deshalb ist die Forderung immer wieder: Wechsel, Wechsel, Wechsel! Wechsel des Kurses unserer Reformen!“
…naschich reform.“

Erzähler:
In der Stadtverwaltung, wo man kritischere Töne gegenüber den Aktionen der Bergarbeiter erwartet, klingt es verblüffenderweise nicht sehr viel anders. Viktor Ifschan, der neue Bürgermeister, war während der Unruhen noch Direktor der größten Maschinenfabrik des Ortes. Jetzt hat er als neuer Chef der Administration die  Hinterlassenschaft der Streiks zu bewältigen. Sein Urteil, obwohl unmißverständlich aus der Sicht des örtlichen Ordnungshüters, ist so zweideutig wie die ganze Situation:

O-Ton 17:  Administrator von Anschero-Sudschinsk                    0,34
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„No, objektivna…
„Außer negativen Folgen haben die Streiks für die Stadt nichts gebracht. Das muß man sagen. Man muß aber auch sagen, daß die Bevölkerung sich in einer ziemlich schwierigen Lage befindet, insbesondere mit dem nicht gezahlten Löhnen, offener und versteckter Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat das Recht dagegen zu protestieren, wenn er sich an die Gesetze hält. Warum dagegen einschreiten? Ich habe, noch als Direktor der Maschinenfabrik, meinen Leuten erlaubt, sich für drei Stunden am Tag an den Aktionen zu beteiligen.“

Erzähler:
Überdies, erklärt der Bürgermeister freimütig, hätten die Ereignisse ja auch Nützliches gebracht: Moskau habe sich endlich um die Region kümmern müssen:

O-Ton 18: Administrator, Forts.                                 0,35
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Obsche korne problemi…
„Die allgemeine Ursache der Probleme liegt ja darin, daß wir gegenwärtig nicht wissen, was wir aufbauen, wohin wir gehen. Der Staat hat sich aus der Verantwortung gezogen. Verschuldung beim IWF,  innere Verschuldung, also Einbehaltung der Löhne, Sparpolitik. Das alles wird der Bevölkerung aufgelastet. Würde jemand  sagen, wohin der Zug geht, dann würde die Bevölkerung noch lange aushalten, nicht ewig, aber lange. Objektiv sind die Menschen bei uns ja bereit, auszuhalten, wenn sie nur wissen, wofür.“
… kudasche mi idjom“
Erzähler:
„Wir sind ja ein Volk von Kleingärtnern“, antwortet er auf die Frage, wie die Menschen die Situation weiter aushalten sollen, wenn sie ihren Lohn nicht erhalten. Aus den Gärten könne die Mehrheit der Bevölkerung sich immer noch und vermutlich noch lange mit dem Allernötigsten versorgen – und wenn die Familie nur von den eigenen Kartoffeln lebe. Der Administrator sucht deshalb den Dialog, nicht die Konfrontation. Im Dialog zwischen örtlichen Direktoren und Belegschaften möchte er einen Weg finden – gemeinsamer Gegner ist Moskau.
Wie der örtliche Administrator, so denkt auch der Gouverneur der Republik Kemerowo, Tulejew. Er sprach sich klar gegen jede gewaltsame Lösung des Konfliktes aus. Stattdessen wagte er den Konflikt mit Moskau, indem er Einsätze gegen die Streikenden verweigerte. Seit den Streiks hält er auch Steuerzahlungen an das zentrale Budget in Moskau zurück.
Je weiter man sich vom Streikgebiet entfernt, umso geringer wird jedoch das Verständnis für die Aktionen. So etwa schon in Nowosibirsk. Hier war man nicht mehr an den Aktionen beteiligt, von deren Auswirkungen aber betroffen. In Nowosibirsk wettert Nicolai Matschalin, der Direktor der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“  gegen die Streiks der Bergleute. Aus seiner Sicht sind solche Aktivitäten Provokationen gegen das russische Volk:

O-Ton 19: Fabrikdirektor Matschalin                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oni tam sedeli…
„Sie haben da gesessen und blockiert – wir haben keinen Zement bekommen, keine Bauteile usw.  Wir konnten die Steuern nicht zahlen, weil wir nicht produzieren konnten; unsere Pensionäre kriegten ihre Rente nicht, meine Arbeiter keinen Lohn, weil sie ihn nur bekommen, wenn sie arbeiten. Wie kann da die Beziehung zu den Streikenden sein? Nun, natürlich nur extrem negativ! Das geht fast bis zum Haß. Der Staat, der Polizei und Spezialtruppen hat, OMON und andere, der wäre verpflichtet gewesen, die Bergarbeiter da wegzuräumen.“
…ubratj schachtörow srelzow“

Erzähler:
Moskau habe seine Schwäche gezeigt, fährt der Direktor fort, um sich gleich darauf zu korrigieren – vielleicht ja auch seine Stärke, indem es die Aktionen einfach ignoriert habe. Für diejenige, die arbeiten wollten, wende sich die Lage durch die Untätigkeit Moskaus aber noch weiter zum Schlechteren. Ein russischer Pinochet müsse her, ein Diktator, der entschlossen für Ordnung sorge, meint der Direktor. Und er verhehlt auch nicht, wie er sich das vorstellt:

Aus: O-Ton 13 Aus: Kann man Rußland noch…
O-Ton 20:  Direktor, Forts.                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Kak nowodil parajadok…
„Wie hat Pinochet die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß er dem Giutarrenspieler Viktor Jara die Hände  zerschlug; ja, stimmt, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land! Und es war General Pinochet, der es zum Blühen brachte; danach ist er von selbst gegangen. Eisenhower, de Gaulle! Sie alle waren starke Generale, welche die Autorität des Volkes nutzten. Wenn bei uns jetzt ein paar hundert Leute im Stadion ohne Essen und Wodka zusammengetrieben würden, das gäbe ein bißchen Aufruhr, aber sonst gar nichts.“
… i nitschewo nje bila“

Erzähler:
Das sind harte Töne, die Arges befürchten lassen. Im nächsten Atemzug aber bedauert der Direktor, daß es im heutigen Rußland keine Führungspersönlichkeit gebe, die dazu bereit wäre, diese Rolle zu übernehmen. Dies gelte auch für den von ihm verehrten General Alexander Lebed, der zwar einen starken Staat anstrebe, aber leider nicht bereit sei, den Weg der Diktatur zu gehen. Derselbe Direktor Matschalin macht seine Entscheidungen zur Betriebspolitik von Beschlüssen der Aktionärsversammlung abhängig, die im Fall der Betonfabrik Nr. 4 zudem identisch mit der Belegschaft ist. Kriege wie den in Tschetschenien lehnt er ab wie sein Vorbild General Lebed selbst. Die Ärzte des Nowosibirsker Therapeutenteams,  nach Abschluß ihres Einsatzes in Andschero Sudschinsk schon wieder unterwegs in die nächste Station des Krisen-Reviers, kommentieren solche Ausbrüche ihrer Landsleute in verständiger Gelassenheit:

O-Ton 21: Ärzte in der Bahn                        0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…Bahngeräusche. „Wremena revoluti…
„Die Zeit der Revolution von 1917 ist lange vorbei. Die Menschen stehen heute natürlich unter Spannung und sie sind bereit zu extremen Schritten. Aber es gibt keine Führer, welche die Menschen begeistern könnten, keine Vorstellungen, wie man das Budget so in Ordnung bringen kann, daß die Bergleute ihr Geld zurück bekommen könnten. Es gibt keine Ziele; es gibt bisher keine gut ausgearbeiteten Losungen, keine Ideen, keine Theorien. Nichts.
… idee, theoria, njetto.“

Erzähler:
Revolution ohne Revolutionäre, das ist der Eindruck, den man aus dieser Stadt mitnimmt. Die oben können nicht mehr, die unten noch nicht wieder. Die Zeiten des Versorgungsstaats sind vorbei. Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert; jeder muß sich um sich selbst kümmern. Neue soziale Formen müssen erst wieder entstehen. Es ist die Not, die zu gegenseitiger Hilfe zwingt. Darin liegt Hoffnung, daß neue Wege gefunden werden. Kein Mensch will gewaltsame Lösungen, alle fürchten die mögliche Eskalation.

O-Ton 22: Musik    Steht auf:     1998, B, 160 – 174
Regie: Musik langsam kommen lassen, zum Schluß hin hochziehen, ab 0,46 frei stehen lassen

Erzähler:
Wohin morgen das Pendel ausschlägt, wenn die Verhältnisse sich weiter zuspitzen,  ist offen. Vorerst werden noch Feste gefeiert, um wenigstens für ein paar Tage die Probleme zu vergessen. Auch darin liegt eine Kraft.

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise
Zusatztext

Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

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