Russland: Auf dem Weg zum „Nationalen Kommunismus“? Gespräch mit Gennnadij Schuganow, Vorsitzender des ZK der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ und Leiter ihrer Fraktion in der staatlichen Duma.

Die Bomben von Grosny haben deutlich gemacht, dass Boris Jelzin nicht mehr allein Herr der Lage ist. Zeit also, sich mit der Opposition genauer zu befassen. Einen Schlüssel zum Verständnis dessen, was als „patriotische“ Alternative zu Boris Jelzin möglich ist, liefert Gennadij Schuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.
Mit Schuganow stritt sich Kai Ehlers.

Kasten:
Gennadij Schuganow wurde im Februar 1993 zum ersten Vorsitzenden des Zentralkomitees der nach Aufhebung des KP-Verbotes neugegründeten „Kommunistischen Partei der Russischen Föderation“ gewählt. Dem ZK der neuen Partei gehören unter anderen Nikolaj Ryschkow, sowjetischer Premierminister unter Michail Gorbatschow, und Jegor Ligatschow an, der im Westen als orthodoxer Gegenspieler Gorbatschows galt. Bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember `93 wurde die Partei mit 12,4 Prozent der Stimmen und 65 Parlamentsitzen drittstärkste Kraft.
Schuganow war in sowjetischen Zeiten, so seine Selbsteinschätzung, wissenschaftlicher Parteiarbeiter und Universitätsdozent für Philosophie, Theorie und Ideologie. Beim Ende der KPdSU saß er bereits im ZK.
Seinen eigenen Angaben zufolge wurde die Partei in allen russischen Republiken, Verwaltungsbezirken und Regionen wiederaufgebaut und hat mittlerweile 550 000 Mitglieder. Nach einer ganzen reihe von Parteiversammlungen und wissenschaftlichen Konferenzen formulierte sie im April 93 ein Minimalprogramm. Darin setzt sie sich auf ökonomischer Ebene für vielfältige Formen des Eigentums ein. Priorität soll aber Gemeineigentum haben. Sie strebt eine breite „Union aller staatstragenden patriotischen Kräfte“ an, die Boris Jelzin ablösen soll. Sie soll sich für Gerechtigkeit, Humanität und „Duchownost“ einsetzen. Dieser Begriff hat seine Wurzeln in der Geschichte der russischen Staatskirche. Heute wird er im Sinne von höherer Geistigkeit benutzt, wobei die religiöse Bedeutung deutlich mitschwingt. Es geht, sagt Schuganow, um „Ideale, die charakteristisch sind für Russland, und zwar nicht nur für die letzten siebzig Jahre, sondern für die ganze russische Geschichte und Kultur.“

K. Ehlers: Es heißt, Sie seien unbestrittener Chef der Partei,
ähnlich wie Schirinowski.

G.Schuganow: Nein, nein! Schirinowski hat einer „Führerpartei“. (deutsch) Er trifft Entscheidungen, die sind verbindlich. Bei uns gibt es nichts dergleichen: Bei uns wirkt ein Präsidium. Darin sitzen äußerst seriöse Leute, Leute mit hoher wissenschaftlicher Ausbildung, Leute die in hohen Strukturen der Verwaltung gearbeitet haben. Das sind alles Akademiker, wissenschaftliche Korrespondenten, Direktoren großer Unternehmen, Universitätsdozenten, Abgeordnete staatlichen Wirkens…

K. Ehlers: Der Vergleich mit Schirinowskis Partei wird aber von vielen im Lande gezogen…

G.Schuganow: Das scheint mir ein ungesundes Interesse. Wenn Sie diese Frage interessiert, wenden Sie sich an Schirinowski. Ich halte es nicht für nötig, meine Zeit mit der Erörterung dieses Themas zu verschwenden. Ihm wird viel zu viel Aufmerksamkeit auch von Ihrer Seite gewidmet – weitere Ausdehnung des Landes, die Vernichtung der nationalen Kultur, die „Lumpenisierung“ der Bevölkerung, das legt einen Grund für politischen Extremismus. Eine solche Politik ist nicht nur für uns tödlich, sondern für ganz Europa.

K. Ehlers: Also, zu anderen Fragen, Privatisierung: Im Volksmund heißt sie schon lange „Prichwatisazija“, Raub. Jetzt hat Ihr verehrter Präsident einen Ukas herausgegeben, demzufolge nun eine zweite Phase der Privatisierung beginnen soll. Was bedeutet das?

G. Schuganow: Was in Russland Reform genannt wurde, erschien zunächst als Dezentralisation der Verwaltung, als Privatisierung, als Liberalisierung der Preise und als Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Praktisch hat sich das alles genau ins Gegenteil verkehrt. Eine Demokratisierung gibt es nicht, stattdessen Alleinherrschaft des Präsidenten und der ihn umgebenden Kreise, die niemand gewählt hat und die unkontrolliert und unverantwortlich das Vermögen des Landes vergeuden. Die Privatisierung verkehrte sich in massiven Raub, vor allem durch die staatlichen Beamten. Da gibt es reichlich Beispiele. Tschubais prahlte erst kürzlich damit, dass er aus der Privatisierung ein Einkommen von gut 27 oder ich weiß nicht wie viel Milliarden erzielt habe. Entschuldigung, aber das sind 30 Millionen Dollar! Das heißt, er hat das Land um ein Kapital gebracht, das ungefähr dem einer mittleren Firma entspricht. Da kann man sich vorstellen, wohin das übrige Geld verschwunden ist und auf welche Weise und wer den Nutzen davon hat. Außerdem ist die Privatisierung in einer solchen Weise durchgeführt worden, dass sie sich heute scheuen, vor Vertretern der Volksvertretung offenzulegen, wie diese erste Etappe, die sogenannte „Voucher“-Privatisierung („Volksaktien“) abgelaufen ist und wo diese Mittel abgeblieben sind. Für mich ist das Wesen dieser ganzen Operation vollkommen klar: Wenn man die internationalen Statistiken anschaut, dann wurde in unserem Lande über viele Generationen hinweg ein Vermögen von 150 000 Dollar pro Kopf gebildet. Statt dieses nun in der Weise zusammenzutragen, dass das Kapital in die Hände der Arbeitskollektive kommt und damit dem gemeinsamen Aufbau dient, wurde alles getan, dass es genau anders lief: ein winziger Teil wurde als Aktien ausgegeben und für ein paar Dollar aufgekauft, das waren damals 10.000, gut 1.000 Dollar) den Rest von 149.000 Dollar verteilten sie unter sich.
Die zweite Etappe der Privatisierung beinhaltet, bei bereits paralysierter Produktion, durch massive Bankrotte, mit den Mitteln verschiedener Aufkauffonds einzelner Clans von Ganoven und der Mafia und unterstützt von ausländischem Kapital, das Vermögen zusammenzuziehen, das es inzwischen im Lande gibt. Das ist schon keine Privatisierung mehr, sondern De-Nationalisierung, Zerstörung des Staates, seiner elementaren Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, eine noch nie gesehene Versklavung und Demontage der industriellen Entwicklung des Staates und Wiederkehr der alten Ausbeuterstrukturen.
Es gibt jedoch ein großes „Aber“: Ein solches System, wo einer den anderen beraubt, während er vorgibt, ihm zu helfen, hat noch nirgendwo funktioniert, angefangen in Rom: Es gibt keine Ethik, Gesetze gelten nicht, sogar die, die sie schreiben, zerstören sie am nächsten Tag. Aber jetzt hat man sich zum Ziel gesetzt, dass Eigentum in der Hand von drei, maximal fünf Prozent zu konzentrieren und alle anderen auszurauben. Dabei hat man die Restlichen aber schon bis ins Unerträgliche ausgeraubt. Man hat sie schon zu Arbeitslosen gemacht. Jeder Zweite im Lande erhält schon keinen Lohn mehr. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Zuschlägen, sondern von Lohn! Zwanzig Millionen sind heute schon ohne Arbeit. Alle tragenden sozialen Garantien, angefangen bei der Bildung bis zur medizinischen Versorgung sind zerstört. Den Menschen wird es bald reichen. Dann werden sie fragen: Wo ist meine Arbeit?

K. Ehlers: Ich verstehe die die neu angekündigte Phase der Privatisierung so, dass jetzt der Kampf um die Vorherrschaft beginnt.

G. Schuganow: Ja, der Kampf zwischen den Clans, die ihr Gründungskapital zusammengetragen haben, hat schon begonnen. Die Kapitale sind aber vor allem im Finanz-System zusammengetragen worden. Der Kampf findet also zwischen Bank-Kapital und Industrie statt. Die, welche große Mittel zusammengekauft haben, wollen das jetzt in Waren materialisieren, in Nahrungsmitteln, in Immobilien.

K. Ehlers: In den letzten Monaten sind Moskau, St. Petersburg und andere größere Städte sichtbar aufgeblüht. Die Läden sind voll. Wer Geld hat, kann kaufen – und die Leute kaufen. Das gilt sogar für kleinere Orte in der Provinz. Im Land aber sieht man, dass die Produktion steht, dass die Landwirtschaft vor sich hinkrankt. Ich erlebe die Blüte als künstlich, als Scheinblüte.

G. Schuganow: Ich stimme dem zu, aber sie ist nicht nur einfach künstlich, sondern künstlich herbeigeführt. Der Anschein der äußeren Verbesserung besteht nur an einzelnen, herausgehobenen Punkten, in Moskau zum Beispiel, St. Peterburg. Zwischen den größeren Zentren auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite, vor allem dem Lande bildet sich inzwischen ein Verhältnis heraus wie zwischen erster und dritter Welt, verstehen Sie? Durch Moskau zum Beispiel werden heute ungefähr 70% der finanziellen Ressourcen Russlands geschleust. der Rest ist bloß noch fetter Schaum, der sich auf die restliche Bevölkerung verteilt, die weiter verarmt. Eine Seelenlosigkeit ohne Gleichen breitet sich aus, der Konsum wächst ins Unermessliche; auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen den Ärmeren und den Reicheren schon um das Dreiundzwanzigfache gewachsen, in Fragen der sozialen Sicherheit um das Zehnfache. Gleichzeitig sind die Preise für Industrie-Produkte gewachsen, die für Textilien zum Beispiel, für landwirtschaftliche Ausrüstung. Eine Erneuerung der Ausrüstung ist nicht möglich. Das ist praktisch in allen Verwaltungsbezirken und Regionen so. Wenn sie in die Provinz gehen, sehen sie sterbende Dörfer, stillstehende Produktion, eine „lumpenisierende“ Bevölkerung, wachsende Hilflosigkeit. Womit das endet, kann man voraussagen.

K. Ehlers: Die Regierung erklärt, die Situation habe sich stabilisiert. Es gibt auch Gerüchte über eine bevorstehende Geldreform.

G. Schuganow: Die Stabilität ist ziemlich niedrig. Es findet eine Atomisierung der Gesellschaft statt, eine Betonung des privaten Interesses. Das ist wirtschaftliche Alchimie, obwohl auch die, die zuerst heiße Aktien erhielten, schon erste große Schocks erlitten haben. Das ganze dauert bis zum 1. Oktober. Danach wird man sehen, dass die landwirtschaftlichen Betriebe nicht zurechtkommen, dass keine Heizungsmöglichkeiten bestehen, dass sich die Energieversorgung unzureichend ist. Das umschließt die Möglichkeit von Kälte-Aufständen, die sich über ganz Russland ausbreiten. Dazu gibt es keinerlei Lebensmittelvorräte für diesen Winter. Deshalb werden da noch völlig neue Schwierigkeiten auf die Regierung zukommen. Das ist ganz offensichtlich.

K. Ehlers: Mein Eindruck ist, dass die Leute bescheid wissen, aber an Aufstand denken sie nicht. Vor Unruhen haben alle Angst.

G. Schuganow: Das ist richtig. Das ist bei uns schon ein genetisches Gedächtnis: In Russland gab es in den letzten hundert Jahren vier große Kriege, schwerste Repression. Sie hat 100 Millionen Menschen vernichtet. Deshalb verstehe ich meine Landsleute vortrefflich. Sie sind für friedliche, ruhige Entscheidungen der Widersprüche. Sie sind nicht auch bereit für sofortige Neuwahlen des Präsidenten. Deshalb bereiten wir gegenwärtig nicht eine Unterschriftenliste für vorgezogene Präsidentenwahlen vor, sondern dafür, dass ihr Termin durch eine zentrale Versammlung festgelegt wird.

K. Ehlers: Auch von Klassenkampf wollen die Menschen nichts wissen.

G. Schuganow: (lächelt nachsichtig) Ungeachtet dessen findet aber eine Proletarisierung der Masse der Bevölkerung statt, das bedeutet die die Entstehung von Klassenbewusstsein.

K. Ehlers: Die polit-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die Marx für den westlichen Kapitalismus beschrieben hat, scheinen hierzulande aber zurzeit offenbar nicht zu greifen…

G. Schuganow: (lacht) Bei uns greifen zurzeit überhaupt keine Gesetze, nicht einmal die Ukase des Präsidenten.

K. Ehlers: Die soziale Differenzierung wird aufgefangen durch patriarchale Fürsorgestrukturen. Das „Wir“ steht über der Differenzierung.

G. Schuganow: (lacht) Das ist einfach unsere Mentalität, die kollektivistische, der komplizierte Charakter einer traditionellen Gesellschaft. Wir haben keine bürgerliche Gesellschaft vom Typ Deutschlands. Deutschland ging seinerzeit vom religiösen Typ einer Gesellschaft zur bürgerlichen über. Bei dieser Prozedur hat es damals fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Das War auch äußerst krank und schwierig. Wir haben dagegen eine korporativistische und kollektivistische Art zu Denken und die korporative Art, die Regierung zu organisieren, liegt uns näher. Also ist uns Japan näher oder China, um uns bei Entscheidungen zu helfen, als Amerika, das uns mit Gewalt Leute aufdrängt, die selbst zu Haus die Praxis nicht kennen.

K. Ehlers: Wenn ich die aktuelle Blüte in den Städten beobachte, dann drängt sich mir die Frage auf: Woher kommt das Geld?

G. Schuganow: Das ist schnell erklärt: Das Land ist reich. Man verschleudert Straßen, ganze Städte, Häuser, Stadtviertel. Man verkauft die eigenen Wohnungen zu wahnsinnigen Preisen, man handelt mit strategischen Materialien, Metallen. Es wird verkauft, was das Zeug hält. Estland ist auf den ersten Platz im Verkauf von Edelmetallen gerückt. Geld in der Produktion anzulegen, ist nicht profitabel. Wenn Du investierst, verheizt Du es: Steuern, achtzig bis fünfundachtzig Prozent, die Kreditbedingungen. Profitabel ist, mit Geld oder mit Waren zu handeln, die du vermittelst, schnell umschlägst, in die du aufs Neue investierst. Da kriegst du solides Fett.

K. Ehlers: Und wie lange, glauben Sie, kann das so weitergehen?

G. Schuganow: Ich denke, im Herbst oder Winter dieses Jahres wird das zusammenbrechen. Die Frage ist allein, in welcher Form das geschieht. Wir sind dafür, die Macht auf friedlichem Wege an die national-staatsbejahenden Kräfte zu überführen: Gründung einer Union der volksverbundenen und patriotischen Kräfte – Kommunisten, Sozialisten, Agrarier, national orientiertes Industriekapital, Veteranenorganisationen, Frauen …

K. Ehlers: Eine Art Volksfront?

G. Schuganow: Eine Volksbewegung. Wir nennen es „Union der staatbejahenden patriotischen Kräfte. In vielen Regionen ist bereits Realität. Dort sind bereits normale, sachkundige Leute miteinander tätig.

K. Ehlers: Normale, sachkundige Leute? Was heißt das in der gegebenen Situation?

G. Schuganow: Einfach Leute, die regieren können, die die Gegebenheiten ihres Landes kennen, die das Schicksal ihres Landes kennen, seine Besonderheiten, die Psychologie seines Volkes, Menschen, die wirklich reflektierten, was geschieht und die nicht in dieser oder jener abseitigen Ideologie engagiert sind, der sie folgen müssen.

K. Ehlers: Schirinowskis Leute und andere Patrioten nennen Russland heute ein „Land der Okkupanten.“ Früher wurden die Deutschen bei Ihnen so genannt. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?

G. Schuganow: (lacht verhalten) Es liegt eine gewisse Wahrheit darin. Ich habe seinerzeit alle Dokumente gelesen, die mit der deutschen Besetzung zusammenhängen. Da gab es Empfehlungen der Art, besonderes gute Verbindungen mit Leuten herzustellen, die öffentlichen Einfluss haben, Schriftsteller, Leute mit Autorität usw. Es gab sogar Empfehlungen, die kollektiven Strukturen der Sowchosen und Kolchosen nicht vollkommen zu zerstören, weil eine hungrige Bevölkerung andernfalls unruhig werden könnte. Jetzt reißt man dagegen alles auseinander. In unseren Dörfern kann man heute nichts kaufen und nichts produzieren, keinen Traktor, keinen Mähdrescher, nichts. Unsere heutige Elite, Schriftsteller, Künstler, Spezialisten haben angesichts ihrer gebrochenen Existenz (lacht unfreiwillig sarkastisch) sehr schnell begriffen, dass ihr Leben durch die Ankunft der Okkupanten nicht besser geworden ist, sondern schlechter. Ich selbst benutze den begriff nicht. Ich denke, der Hauptwiderspruch in unserem Lande verläuft zur Zeit zwischen national-staatlichen Kräften und der kompradorischen Ausverkäufern, die nicht nach links und nicht nach rechts schauen, wenn sie nur verkaufen und sich dabei bereichern können.

K. Ehlers: In welchem, Verhältnis steht die von Ihnen beabsichtigte Bewegung staatsbejahender patriotischer Kräfte zu nationalen Bewegungen in den Republiken?

G. Schuganow: In einen Vielvölkerland ist es sehr wichtig eine Politik zu betreiben, die maximal die eigene Traditionen, Sprache, Gewohnheiten, Kultur schützt und für deren weitere Entwicklung eintritt. Aber verbunden damit muss man auch für den Schutz der Spezifika eintreten, die für die Gründung der russischen Staats-Union, der UdSSR galten. Einer der Gründer dieser Union war eben das russische Volk. Deshalb ist es notwendig, sich dem Schutz der russischen Sprache zu widmen als der Sprache der zwischen-nationalen Beziehungen. Wenn Sie jetzt ein paar Schritte weiter auf die Twerskaja (eine der großen Straßen Moskaus), da erleben Sie, dass dort fast nur noch Englisch gesprochen wird.

K. Ehlers: In einem ähnlichen Gespräch wie diesem hat mir Alexander Prochanow letztes Jahr wörtlich erklärt, er sei Faschist. Auf die Frage, was das bedeute, sagte er: „Ich bin ein traditioneller Imperialist (Schuganow lächelt) in dem Sinne, dass ich allen ihren eigenen kulturellen Weg zubillige, vorausgesetzt, dass sie unsere Vorherrschaft akzeptieren. Wir Russen sind die wichtigsten, die kultiviertesten, die stärksten.“ Sie kooperieren doch mit Prochanow. Wie stehen Sie zu solchen Äußerungen?

G. Schuganow: Nun, ich denke, Prochanow hat nicht gesagt, dass er Faschist sei. Das ist nicht wahrscheinlich. Er ist ein Mensch, der national-staatliche Interessen verfolgt und das mit seinen Mitteln macht. Er ist ein befähigter, talentierter Schriftsteller, Literat und Publizist, dem zuzuhören mir angenehm ist. Aber da sind die Fakten, da ist die Geschichte der Entwicklung des russischen Staates: Wer war der Sammler der Erde? Das Moskauer Zarentum, die Kiewer Rus, die russische Herrschaft. Was war die UdSSR- die geopolitische Form des russischen Imperiums? In jedem beliebigen Staat gibt es ein Volk, welche den Aufbau des Staates trägt. Die Russen stellen in der jetzigen Föderation 84% der Bevölkerung. Man muss die Traditionen, Gewohnheiten, Kulturen genau ansehen, muss sehen, wer in die Republiken gegangen ist, nach Mittelasien, Kaukasien, dort technische Hilfe für die Produktion hingebracht, dort entsprechende Institute entwickelt hat, wer zum Beispiel dort die schwierigeren Teile der Produktion leistet. Jetzt nimmt man die Russen auf, die von dort kommen, Massen, die ihre Häuser zurücklassen, Wohnungen, ganze Fabriken. In Kirgisien ist die Schwerindustrie praktisch zum Stillstand gekommen – aus eigenen Kräften schaffen sie es dort nicht. Das ist die bekannte historische Mission und es verbietet sich, das in der gegebenen Situation nicht anzuerkennen. Wer hat das geopolitische Gleichgewicht hier aufrechterhalten, das russische Imperium, die Sowjetunion im Laufe von drei Epochen? Jetzt ist diese Balance der Kräfte zerstört worden. Jetzt werden neue geopolitische Räume gebildet und es ist nicht ausgeschlossen, dass uns alle äußerst unangenehme Entwicklungen erwarten. Deshalb müssen die besonderen Wege verschiedenster Völker und Staaten unbedingt als Lehre für die weitere Entwicklung genommen werden.

Ich weiß, wie sich beispielsweise Deutschland herausgebildet hat: ein Reich, das zweite, das dritte. Da ist eine besondere Seite der Geschichte. Aber ich kann in Ihrer Literatur nicht sehen, dass man sich jeden Tag gegenseitig dafür beschimpft, dass Hitler an die Macht kommen konnte und dass man sich bis auf die Haut deswegen zerfleischt.  Bei uns dagegen zieht man die Untersuchungen über die Vergangenheit ins Endlose und beschäftigt sich in keinster Weise mit der Gegenwart. Man hat die Generationen auseinandergerissen, die ältere gegen die jüngere gehetzt, die jüngere dabei verloren, unklar wofür und für wen. Jetzt plündern sie die Geschichte, einfach erniedrigend, völlig ohne Perspektive.

K. Ehlers: Was Hitler betrifft, irren Sie. Bei uns gibt es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.

G. Schuganow: Ich habe drei Jahre in Deutschland gedient. Ich kenne Ihre Gegebenheiten ganz gut. Man hat Literatur darüber, das Thema wird erörtert, aber ohne Selbsterniedrigung. Man untersucht, versucht zu ergründen, aber ohne von jedem zu fordern, dass er ständig seine Geschichte ausbreitet.

K. Ehlers: Ich möchte noch einmal zu Prochanow zurückkehren. Er sagte mir, sei Faschist in dem Sinne…

G. Schuganow: (unterbricht grob) Ich bitte Sie, diesen Terminus nicht zu gebrauchen. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Ich habe davon nie etwas gehört…

K. Ehlers: Ich kann ihnen sagen, was er mir direkt ins Mikrofon diktiert hat: Er wolle den Korporativismus Mussolinischen Typs und den russischen Anarchismus vereinen, das werde möglicherweise Faschismus – aber ohne rassistische Aspekte. Halten Sie das für eine vertretbare Position?

G. Schuganow: Nun, wenn Sie auf dem Thema weiter herumreiten, dann sage ich Ihnen geradeheraus: Was kann ein Mensch denken, dessen Vater, dessen sämtliche Verwandte an der Front umkamen, um ihr Vaterland zu schützen und der sich jetzt persönlich dafür einsetzt, die Gerechtigkeit in seinem Lande zu verteidigen? Faschismus unterscheidet in ideologischer Hinsicht durch zwei Qualitäten davon: das ist der nationale Antrieb und die nationale Ausschließlichkeit. Beides ist Russland, aber auch dem russischen Menschen absolut fremd. Und zum zweiten hat der Faschismus, als er an die Macht kam, als allererstes die Kommunisten an die Wand gestellt. Nichts dergleichen hat es in Russland gegeben und gibt es auch jetzt nicht, wenn ich es nicht an Gaidar und Co festmachen will. Die fordern nämlich zur Zeit ein Verfahren gegen alle führenden Kräfte, die Mitglieder der KPdSU waren, fordern die Aberkennung von Titel, die in der KPDSU erworben wurden bei mehr als der Hälfte der Schriftsteller, die dort waren. Das Herumreiten auf der Vorstellung eines Faschismus in Russland erweist sich damit als künstlich.
Überhaupt: „Rot-braun“ ist nicht mehr als ein gut ausgedachter psychologischer Begriff, um die Roten zu erniedrigen, die doch die Braunen in Europa aufgehalten haben, die dem deutschen Volk damit geholfen haben und die dafür nicht nur mit zwanzig Millionen Menschen bezahlt haben, sondern mit weitaus mehr. Bei der Volkszählung in Russland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten 194 Millionen Menschen in Russland. Das Wachstum der Bevölkerung betrug fast vier Millionen. 1945 hätten es 200 oder 215 Millionen Menschen sein müssen. Geblieben sind uns 167 Millionen. Wir verloren also fast 50 Millionen. Deshalb sind alle Versuche, faschistische Philosophie auf russischem Boden zu installieren, insbesondere unter meinen Bekannten in der Partei, moralisch völlig unannehmbar. Da wird nur versucht, Unvereinbares miteinander zusammenzukleistern: Was ist denn „rot“ in der russischen Sprache? Schöner Platz, schönes junges Mädchen, schöner Ort, schönes altes Bauernhaus. Nein, nein, das ist ein Versuch, die ganze nationale Kultur und Sprache, die sich in tausenden von Jahren geformt hat, zu vernichten. Nein, das ist ein psychologischer Trick derer, die Russland erniedrigen, es verachten, zerstückeln, sich die größte Mühe geben, das nationale Bewusstsein und die nationale Kultur zu zerstören. Ich halte das für eine scheußliche Angelegenheit. Bedauerlichewerweise beschäftigen sich damit viele unserer Journalisten, die die Spaltung sähen, also die alte von der jungen Generation trennen. Sie bemühen sich um die „Neuen Russen“, für die sogar gewaltsame Auflösung des Parlaments (Schuganow benutzt das für diesen Fall auch im Volksmund gebräuchliche Wort „rastrel“, Erschießung für Auflösung) ein Schauspiel ist, aber keine nationale Tragödie, für einige von ihnen.

K. Ehlers: In den „Moskowski Nowosti“ ist soeben ein Artikel unter der Fragestellung „Nationaler Kommunismus?“ über ihre Partei erschienen. Trifft das Ihre Linie?

G. Schuganow: (lacht verächtlich) Was diesen sachunkundigen, talentlosen Artikel betrifft, so entspricht sein Inhalt mit Sicherheit nicht der der realen Meinung unserer Partei. Was das Wort „Kommunismus, Kommune“ angeht, so ist ja das nur die Übersetzung des russischen Begriffes von gemeinschaftlich (Schuganow sagt, „obschteschstwenni“, das leitet sich von „obschtschina“ her, Bauerngemeinde). Da geht es einfach um das Primat gemeinschaftlicher Interessen vor privaten. Durch die ganze Geschichte zieht sich der Kampf dieser zwei Tendenzen: Aber das kann ich voraussagen: Wenn diese privatistische Tendenz siegt, dann wird in zwanzig Jahren von unserem Planeten nichts übrig bleiben. Man wird alles ausplündern und zugrunde richten. Schon lange sind die individuelle, gemeinschaftlichen Bedürfnisse und die privaten in schweren Widerspruch mit der Natur geraten. Auch Deutschland wird nicht blühen, wenn diese Probleme nicht gelöst werden.
So haben wir auch jetzt den Kampf dieser Tendenzen und er wird sich entscheiden. Die Annäherungen an eine Lösung sind verschieden. Zum Beispiel Deutschlands Verwirklichung der Marktwirtschaft, das ist ja Ergebnis einer Geschichte, die Sie auch nicht besonders erfreut. Wenn man also jetzt beginnt, mein Land mittels verschiedner historischer Tatsachen runterzumachen, der Art, dass es da den Oktoberumsturz gegeben habe um., dann frage ich nur: Und die Massenaufstände Iwan Obolotnikows, Stepan Rasins, Emiliano Pugatschows – von wem wurden die unterdrückt. Was war mit ihnen? Waren sie Bolschewiken? Waren sie Kommunisten? Der Aufstand der Dekabristen, der Offiziere und viele andere Ereignisse? Nein, wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie, kollektivistisch, ökumenisch (Schuganow benutzt den religiösen Terminus „sobornost“, heilige Versammlung), korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.

K. Ehlers: Das wäre Ihr Weg für Russland?

G. Schuganow: Nun, jeder hat seinen Weg. Da sind die japanischen Besonderheiten, da ist Ehrhards Weg. Gaidar macht alles genau umgekehrt: Ehrhardt hat die Liberalisierung der Preise ganz an den Schluss gesetzt, das war der letzte Akt seiner Reform, er wusste sehr gut, warum. Es gibt das chinesische Modell, die chinesischen Besonderheiten. Es gibt einen nationalen Charakter des Menschen. Das kann man nicht übergehen. Kann man halb Russe und halb Estländer sein? Man kann. Kann man zur Hälfte Russe sein und zur Hälfte Ukrainer? Man kann. Aber man kann nicht zur Hälfte katholisch und zur Hälfte prawoslawisch (russisch-orthodox christlich) sein. Das muss man begreifen. Es gibt nationales Kolorit und nationale Besonderheiten. Ich zum Beispiel habe in Deutschland mit Vergnügen „Ordnung ist Ordnung“ gehört. In Russland gibt andere Traditionen…

K. Ehlers: Welche Bündnispartner kommen für Sie in Frage, welche nicht? Wie ist es etwa mit Schirinowski, wie mit Barkaschow?

G. Schuganow: (lacht aggressiv) Man hat mir gesagt, sie seien ein seriöser Mensch. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie solche banalen Fragen stellen, hätte ich mich auf das Gespräch gar nicht eingelassen. Das ist sinnlos. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, bitte, das ist nichts für mich. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, die keinen Krieg in Russland wollen, keine territorialen Aufspaltungen, mit allen im Hause, die damit übereinstimmen. Schirinowski ist Delegierter der Staatsduma. Er ist Mitglied des Rates genau wie Gaidar, Jawlinksi. Er sitzt nebenan und redet mit. Das ist die Realität, die ich anerkenne, die ich anerkennen muss. Hinter Schirinowski steht zudem nicht die ganze Partei, nicht einmal die gesamte Fraktion. Da gibt es verschiedene Leute und Leute mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Deshalb arbeiten wir mit allen zusammen, die nicht wollen, dass Russland in der Tragödie eines massiven Umsturzes untergeht.

K. Ehlers: Das Ganze läuft doch auf eine Erneuerung der im Herbst 93 aufgelösten „Front der nationalen Rettung“ hinaus?

G. Schuganow: Ja, die Schaffung einer Union der staatsbejahenden patriotischen Kräfte ist der Schlüssel für die Lösung der Krise. Bei uns sind alle Systeme zerstört: Der Staat existiert nicht mehr. Das Eigentum ist in räuberischer Weise verteilt. Die Sicherheit geht gegen Null. Unsere Armee wird zur Gefahr, statt dass sie gegen Gefahr schützt. Die Hälfte ihrer Vertreter blieb ohne Wohnungen in diesem kalten Winter. Mit einem Menschen, der die Automatische in der Hand hat, darf man so nicht umgehen. Die kulturellen Traditionen sind zerstört. Die Mediensysteme geben nicht das Bild, Man drängt dem Land fremde Religionen auf. Das ist nicht mehr nur einfach gefährlich, das ist schon eine Situation, die mit gewöhnlichen Mitteln fast nicht mehr zu heilen ist. Mit jedem Tag verstärkt sich diese Situation und Ihr guter Freund (er meint Schirinowski), der bereits Regisseur eines Orchesters wurde, hat kaum die Rezepte zur Heilung.

K. Ehlers: Eine abschließende Frage: In der deutschen, aber auch in der russischen Politik beginnt man neuerdings wieder von einer „deutsch-russischen Achse“ zu sprechen. Was halten Sie davon?

G. Schuganow: Ich schätze, dass die geopolitischen Interessen Deutschlands und Russlands einander nicht widersprechen. Beide Länder können auf sämtlichen Gebieten zusammenarbeiten, auf wirtschaftlichen, auf kulturellem, in der Sicherheit, bei in geopolitischen Verbindungen, beliebig. Objektiv sind Deutschland und Russland an der Entwicklung einer Beziehung interessiert.

K. Ehlers: (697) Meinen Sie, dass da eine privilegierte Beziehung entsteht?

G. Schuganow: Es ist auf jeden Fall einer der Prioritäten russischer Politik.

K. Ehlers: Sie wissen, dass die Nachbarstaaten Angst davor haben?

G. Schuganow: Nun, Große und Starke fürchtet man immer.

*

Soeben erschien von Kai Ehlers:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 300 Seiten.

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