Heißer Herbst in Rußland? „Hauptsache die Kartoffeln kommen raus“ Eindrücke aus einem ruhebedürftigen Land.

Take A/1: Nowosti-Melodie                      (025)

Regie: O-Ton stehen lassen bis zum Stichwort „Moskwje“, dann abblenden.

Erzähler:  Moskau: „Unruhen werde es nicht geben“, erklärte Russlands             Ministerpräsident nach der Auflösung des obersten Sowjet durch Boris Jelzin. Für die Bevölkerung sei das Wichtigste zu Zeit, dass die Kartoffeln rechtzeitig rauskämen.
Die Ereignisse haben ihm Recht gegeben. An der Revolte in Moskau war die Bevölkerung nicht beteiligt. Sie blieb Zuschauer.
Ein Blick über die blutigen Szenen vor dem „Weißen Haus“ ins Land hinaus zeigt, warum das so ist.

tanke A/2: Straßengeräusche in Sawjala.            (025)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:  Sawjala, Ortsmitte. Bezirkszentrum im Kreis Altai             nahe der Grenze Kasachstans. Früher ein wohlhabender Ort, bekannt in der ganzen Union durch seinen Heilschlamm im Salzsee vor dem Ort. Wie lebt man dort mit der neuen Zeit?
In der örtlichen Verwaltung gibt man sich zuversichtlich. Sogar ein Ventilator ist in Betrieb, der die sibirische Hitze erträglich macht.

take B/1: Verwaltungsangestellte                  (017)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Übersetzerin:  „Ich weiß gar nicht so recht, besser oder             schlechter? Nun, früher gab es ein schreckliches Defizit beim Einkaufen. Jetzt gibt es alles. In dieser Beziehung ist alles wunderbar. Wenn Geld da ist, kannst du kaufen. Früher war Geld da, aber du konntest nicht kaufen. Jetzt kriegst du alles, was du willst.“

Erzähler: Zwei junge Frauen vor dem Gebäude der Stadtverwaltung sind anderer Ansicht.

takeA/3:Junge Frauen.                    (045)

Regie: O-Ton verblenden, Text kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Nun, was denken wir? – Wir mühen uns ziemlich ab,             das muss man wohl sagen. Man muss ja leben, irgendwie weiterexistieren: Wir leben ja nicht, wir vegetieren, wie man sagt.

Erzähler: Arbeit gebe es nicht, erzählen sie. Niemand wolle             die Jungen haben. Man brauche viel Geld für die Ausbildung, gleich ob Tänzerin oder Krankenschwester. Man müsse sich irgendwas einfallen lassen, kaufen, verkaufen, sich mit Kommerz befassen.
Über Versprechungen, am Ende des  Jahres werde alles gut sein, können sie nur lachen.

takeB/2: Junge Frauen, Forts.                 (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Erzähler-Text beenden.

Übersetzerin: In 50 Jahren ganz sicher! So schnell gibt es das             alles nicht. Wir leben heute; was morgen ist, dass wissen wir schon nicht mehr.

Erzähler:   Im Dorf finden sie das Leben besser als in der             Stadt: Mehr Fleisch, Gemüse, es sei sicherer, wenn man ausgehen wolle. Aber insgesamt sei jetzt eine unsichere Zeit. Die Krise spitze sich zu. Die Menschen seien es einfach nicht gewohnt, wie in Amerika zu leben. Diese Privatisierungsschecks etwa. Was solle man damit machen?

takeA/4: Junge Frauen, Forts.                (020)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, danach hochziehen.

Übersetzerin: „Früher war es um vieles besser. Ohne die             kommerziellen Geschäfte war es viel leichter. Süßigkeiten lagen da frei aus. Jetzt gibt es sie nicht oder sie tauchen nur für Tausender auf. – Aber irgendwie muss man doch leben!“

takeB/3: Scherengeklapper beim Friseur         (020)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:  Friseur. Hier wurde soeben privatisiert. Bisher             habe sich nichts geändert, höre ich. Geld wolle der Chef machen, das sei alles. Überhaupt, was heiße schon Veränderung?

take A/5: Friseuse bei der Arbeit                 (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:  „Wir waren und Bettler und wir werden Bettler             sein“, sagt die Frau. Mit dem See sei es auch nicht besser: Nur kleine Hütten! Nichts sei dort vernünftig aufgebaut worden. Ein Sanatorium sei lange geplant, mehr als zehn Jahre. Aber wann es gebaut werde, wisse niemand. Schlamperei. Kein Geld! Und wenn es Geld gebe, dann wisse man nicht, wo es bleibe.
Ob sie Angst vor der Zukunft habe?

take B/4:  Friseuse, Forts.                       (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:   „Nun, Angst? Die sind wir gewohnt. Das ganze             Leben verbringen wir so: Politik beachten wir nicht. Was da in Moskau passiert, das weiß keiner. Was soll’s, uns interessiert das ohnehin nicht. Wir haben unsere Probleme, die haben ihre: Wir haben zu Haus unsere Wirtschaft. Da müssen sehen, dass wir zurechtkommen. Die Kartoffeln müssen jetzt raus. Der Art sind unsere Probleme: Geld auftreiben, einfach überleben! Die haben wirklich andere Sorgen.“

take: A/6: Straßengeräusche                       (130)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, von 116 bis 118 hochziehen, abblenden, weiter unterlegen.

Erzähler:      Auf der Straße. Mehrere junge Männer warten hier,             bis sie beim Friseur an die Reihe kommen.
Er arbeite bei den Kühen, erzählt der erste. Privat, nicht auf einer Sowchose. Fünf Tiere seien es, außerdem Schweine und Hühner. Nein, Bauer sei er nicht: nur „Chosein“, Hausherr, aber davon lebe er. Das sei nichts Besonderes. „Alle leben so“, erklärt er. Eine bessere Arbeit gebe es nicht. Er könne auch auf einer Sowchose arbeiten. Aber wofür? Viel Arbeit für wenig Geld!
Der zweite ist Bauarbeiter. 16.000 Rubel verdient er. 22.000, weiß ich, gilt zurzeit als Existenzminimum. Der Dritte ist Waldarbeiter. Er verdient 10.000 im Monat. „Eine gute Jacke kostet eine halbe Million“, sagt er.

Regie: Ab 116 bis 118 hochziehen, dann weiter unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:       Wie kann man so existieren? „Die eigene             Wirtschaft hilft“, antwortet er. „Man klaut, was möglich ist, man handelt“, ergänzen die anderen beiden. Baumaterial. Holz. Futter! So etwas kaufe doch heute keiner! „Wer klaut, lebt gut“, fasst einer zusammen.

take B/5: Arbeiter, Forts.                   (152)

Regie: O-Ton Langsam kommen lassen, Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler: Eine Alternative sehen sie nicht. Aber den Ort             verlassen wollen sie auch nicht.

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen.

Übersetzer:  „Nein, jetzt nicht. Jetzt kommen alle aus             Tadschikistan, aus Kirgisen, aus Kasachstan. Alle flüchten in den Altai, nach Russland. In Tadschikistan ist ja Krieg! Das gibt es viele Russen, Deutsche und andere. Alle flüchten hierher. In Russland ist es ruhig. Aus Armenien kommen sie auch. Von überall kommen sie hierher.“

Erzähler: Viele junge Leute gebe es jetzt hier, erzählen             sie weiter. Sie selbst, erfahre ich, sind auch soeben gekommen. Früher hätten die meisten Jugendlichen den Ort verlassen. Heute bekomme man sogar Hilfe beim Hausbau. Die Hälfte gebe die Verwaltung dazu.
Man ist froh, hier bleiben zu können. Die Hälfte der Bevölkerung Sawjalas und der umliegenden Dörfer, wenn nicht mehr, sind inzwischen Flüchtlinge. Heftig widersprechen die drei auch dem, was die jungen Frauen erzählt haben. Arbeitslosigkeit? Nein, auf den Dörfern gebe es genug Arbeit. Die reiche für alle. Nur bezahlt werde eben wenig.
Was sie von der Zukunft erwarten?
Wie könne einer, der sein Haus verloren habe, noch über Zukunft reden? fragen sie zurück. Moskau? Das interessiere sie nicht. „Es wird so, wie es war“, sagen sie. Perestroika? „Alles Gerede! Wir kümmern uns nicht um Politik. Das läuft ohne uns.“

takeA/7: Bank                               (025)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler: In der Bank. Ich will wissen, wie die Bevölkerung             auf die Sperrung der alten Rubel reagiert hat. Das sei nach ein paar Tagen erledigt gewesen, winken die Frauen ab. Stattdessen erklären sie mir, was es mit der Arbeitslosigkeit auf sich hat. Eine Frau zeigt auf einen Aushang:

takeB/6: Bankangestellte                               (058)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann unterlegen.

Übersetzererin: „Da, hundertzwölf Leute! Gestern hatten wir zwei             Listen mit noch einmal so vielen.“

Erzähler: So gehe das jeden Tag, höre ich. Nicht, dass es             keine Arbeit gäbe! Nein, die Vermittlung sei das Problem, die mangelnde Organisation. Früher hätten die Sowchosen oder Betriebe das selbst geregelt. Jetzt würden deren Arbeitsplätze abgebaut; häufig gebe es keine Information darüber; neue Arbeitsplätze würden nicht bekannt gemacht, viele seien nur übergangsweise zu haben. Ja, sicher gebe eine Arbeitsbörse. Drüben in der Verwaltung. Aber wer komme da schon hin? Zur Unterstützung würden deshalb die Listen in der Bank ausgehängt.
„Es ist eine schwere zeit“, klagen sie. 20.000 Rubel hätten sie im Monat.

take A/8: Forts. Frauen in der Bank                (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:       „Nur gut, dass man sich noch auf die eigene             Wirtschaft stützen kann“, sagt eine. Das reiche wenigstens für das Notwendigste. Aber das Leben sei eng geworden. Nach der Arbeit gebe es nur noch Haus, Garten und die Versorgung der Tiere. Aus dem Dorf, ja aus dem haus komme man kaum noch heraus. „Früher war das Leben interessanter“, meint eine junge Frau. Da habe der Komsomol alles organisiert. Da sei abends noch etwas los gewesen. All das gebe es jetzt überhaupt nicht mehr.

takeB/7: Halbwüchsige                        (055)
Regie: O-Ton verblenden, unterlegt halten, am Textende hochziehen.

Erzähler: Vor der Post treffe ich auf eine Gruppe             Halbwüchsiger und Kinder. Ein Zwölfjähriger arbeitet als Telegrammbote. Sein Vater sei tot, seine Mutter arbeitslos, erklärt er. Da bleibe nichts anderes. 20.000 mache er im Monat.
Jetzt wartet er hier auf Aufträge. Seine Freunde leisten ihm Gesellschaft. Was sie von der Auflösung der Pioniere halten?
„Nichts“, sagt der Kleine. Vorher habe es mehr Freundschaft gegeben. Die Pioniere hätten für Sauberkeit gesorgt, meint ein Älterer, hätten überall den Dreck beseitigt, die Natur geschützt. Jetzt beginne alles zu verdrecken. Keiner setze sich für etwas ein. Jeder denke nur an sich selbst. „Man müsste sich um die Natur kümmern“, sagt er. Aber wie? Hilflos zucken sie mit den Schultern.

take A/9: Alte Bäuerin                            (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler:      Dorfstraße, morgens um elf. Ich will Milch             kaufen. Zwei Kühe, fünf Schweine, Hühner; Söhne, Schwiegertöchter und Enkel habe sie, zählt die alte Frau auf. In dieser Reihenfolge. Milch bekomme ich nicht mehr. Zu spät. Das Wenige ist schon verkauft. Aber mein Besuch ist willkommen.  Die Alte wohnt allein. Ihr Mann ist tot, Kinder und Enkel leben woanders. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take  B/8: Bäuerin Fortsetzung                   (115)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler (bei Stichwort „Krach“) hochziehen.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch             für sich selbst lebt: Habe ich Maschinen, einen Traktor und alles, dann kann ich leben, haben andere nichts, dann können sie sterben.

Erzähler: „In der Kolchose waren wir alle gleich“, fährt sie             fort. „Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet.“ Sie selbst sei vierzig Jahre auf dem Traktor gefahren. Aber jetzt sei das anders. Der eine habe die Kühe, die anderen müssten viel Geld für Milch ausgeben. Alles werde gekauft, verkauft; aber für das Geld bekomme man nichts. „So ein System ist jetzt gekommen“, sagt sie. „Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“

Regie: Bei 045 (mit Stichwort „Krach“) kurz hochziehen, weiter unterlegen, am Textende hochziehen.
Übersetzerin: „Für mich habe ich keine Angst mehr, aber für             meine Enkel. Ich bin sicher, Gott, hat es vorausgesagt: Bald sind wir kaputt. Man kann nur beten, beten, beten. Nicht Du, nicht der Nachbar, Gott allein kann noch helfen.“

take A/9: Nachbarin                                (065)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Auf der Straßenseite gegenüber. Ein ähnliches             Bild: drei Kühe, ein paar Schweine, Hühner. „Man muss in Freundschaft leben!“ empfängt uns die Hausfrau, so wie früher, als es noch die Sowchosen gegeben habe. Da habe jeder seinen Platz gehabt. Sie ist ein paar Jahre jünger als die Nachbarin. Eine Schande sei es, meint sie, wenn Menschen so allein leben müssten wie die alte Frau nebenan. Die Alten seien die eigentlichen Verlierer der neuen Zeit. Und die Flüchtlinge. Sie habe selbst Verwandte in Kasachstan, auch viele deutschsprachige Bekannte. Schrecklich, sagt sie, wenn die Leute sich gegenseitig erschießen, statt sich zu helfen. Erst kürzlich habe man jemanden aus Kasachstan umgebracht, der sich hier mit ein paar anderen eine neue Existenz habe aufbauen wollen. Viele Deutsche seien inzwischen schon nach Deutschland ausgewandert.

take B/9: Nachbarin, Fortsetzung                  (025)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Ich bin nicht einverstanden mit dieser             Politik“, erklärt sie zum Abschied auf die Frage, was sie von der Regierung in Moskau halte. „Die denken nicht an uns – an uns denken die nicht! Aber zurück? Nein, das werde nichts bringen. „Oder vielleicht doch?“ zögert sie. Wenigstens Ordnung? Dass die Leute sich nicht mehr gegenseitig erschlagen?
Am Ende verabschiedet sie sich mit dem Seufzer:

take A/10: Nachbarin, Forts.                        (060)
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende der Übersetzung hochziehen.

Übersetzerin:  „Nun es ist schwer, schwer, sehr schwer! Ich habe             ja an Jelzin geglaubt. Das erste Mal habe ich ihn gewählt. Aber das zweite Mal habe ich schon nicht mehr für ihn gestimmt.

Erzähler:     Eine Alternative jedoch sieht sie nicht:

Übersetzerin: „Ich weiß nicht. Ich glaube, es fehlt überhaupt             die richtige Person. Ich hatte ja noch die Hoffnung auf Ruzkoi. Die habe ich jetzt auch nicht mehr. Ich weiß nicht, wenn ich denen da zuhöre und zusehe, dann möchte ich ihnen ja nicht einmal die Hand geben.“

take B/10: Privat-Bauer

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler  Rundgang im Hof der Pitschennikows. Das sind             Wassiljew, pensionierter Brigadier; Maria, seine Frau und Jefgeni, der Enkel. Stolz zeigt der Alte seinen Besitz. Auch eine Sauna fehlt nicht.
Als Privatbauern gehören die Pitschennikows zu den Hoffnungsträgern der neuen Zeit. Sechzehn sind es im ganzen Bezirk. Seit anderthalb Jahren bewirtschaften sie ihren eigenen Hof, 120 Hektar. Aber sie fühlen sich allein gelassen:

take A/11:  Privatbauer, Forts.                   (065)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:  „Ja, ganz allein! Es gibt keinerlei Hilfe!             Einen Kredit habe ich bekommen, aber dafür musste ich sofort Saat-Getreide kaufen. Dann habe ich noch einen Treibstoff-Kredit aufgenommen. Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Aber die Kredite geben sie nur zu enormen Zinsen. Generell gesagt, wir quälen uns ab, in jeder Beziehung. Es ist eine sehr schwere Sache. Die Arbeit ist sehr hart. Wir haben keine Technik.“
Erzähler:      Einen Traktor habe er. Den teile er sich             zudem noch mit dem zweiten Bauern im Ort, mit dem er zusammenarbeite. Alles andere wie Mähdrescher, Korntrockner uam. müssten sie sich in der Sowchose leihen. Die aber lasse sie ständig auflaufen. Von morgens um fünf bis in die Nacht seien sie auf den Beinen. Die Leute seien zudem neidisch und misstrauisch. „Uns hier hat man das arbeiten abgewöhnt“, wettert der Alte. Wenn jetzt einer selbstständig arbeite, dann sei allein das schon verdächtig. Tatsache sei: „Wir leben wir nicht besser, wir arbeiten nur mehr als die anderen.“

take A/12: Privatbauer, Forts.

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler:      „Nicht für mich mach ich es, sondern für meinen             Enkel“, antwortet der Alte auf die Frage, warum er unter solchen Umständen diese Plackerei auf sich nehme. Der verstehe auf diese Weise vielleicht, dass man so wie bisher nicht weiterleben dürfe.
Der Enkel sitzt wortlos daneben. Ist er, sind andere junge Leute einverstanden mit dieser Sicht? An seiner Stelle fährt sein Großvater fort:
take A/13: Privatbauer, Forts.               (038)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.
Übersetzer: „Ja, sie wären einverstanden, wenn es klare             Gesetze gäbe, dass nicht wieder zurückgegangen würde. Bei uns gibt es ja bisher keine gültigen Gesetze. Ich verliere ja nichts mehr, wenn sie alles wieder umschmeißen. Aber die Jungen! Es gibt ja Verordnungen, es gibt ja Gesetze, die die Erbfolge regeln. Aber bei uns ist es so mit den Gesetzen: heute gilt dies und morgen kommt wieder ein neues heraus. Keine Beständigkeit der Gesetze“!

take A/14: Privatbauer, Fortsetzung                (033)
Regie: O-Ton anschließen, stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: An seiner Meinung für den Grund der ganzen Misere             lässt der Alte keinen Zweifel.

Übersetzer:     „Moskau ist weit von uns. Hier haben sie sich             eigene Fürstentümer aufgebaut. Die haben eine tierische Angst vor effektiver Arbeit. Hier ist man Fürst! Man tut nichts, man denkt über nichts nach, man wird im Wagen kutschiert, deswegen lassen sie keinerlei Weg für irgendeine Entwicklung in dieser Frage zu.

take A/15: Maria, Frau des Bauern                   (010)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Sie entscheiden für sich. Und so wie sie             entscheiden. So wird es.“

take A/16: Privatbauer                              (060)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer: „Es ist eine einzige Mafia, in der sich alle             gegenseitig decken. Alles hängt mit allem zusammen. Sie verstehen. Das ist beängstigend! Das bringt nichts Gutes hervor! Nicht ein einziges solches Fürstentum sollte es geben. Es sollte eine Verfassung geben. Russland sollte  e i n s  sein, nicht zerstückelt. Ich verstehe, dass man in Kasachstan, Usbekistan eigene Bräuche hat. Soll man doch auf eigene Art leben, sich auf eigene Art entwickeln! Aber die wirtschaftlichen Verbindungen muss man erhalten.“

Erzähler: Bauer Pitschennikow ist kein Nationalist. Die             Parolen der vaterländischen Rechten sind ihm ein Gräuel. Alexander Prochanow, einer ihrer Ideologen, sei kein Führer, findet er, sondern ein Betrüger, ein Egoist, ein Rassist. Bei den Oberen in Moskau habe er vielleicht Chancen. Aber die einfachen Leute könne er nicht gewinnen. Die Bevölkerung wolle einen friedlichen, gutwilligen Weg gehen, wolle arbeiten. Leute wie Prochanow seien ja nicht einmal in der Lage, Kartoffeln zu sammeln. Ich nenne sie Müßiggänger, Schmarotzer!“

take A/17: Privatbauer:                              (027)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:  „Es wird kein Chaos geben. Die Leute werden das             nicht zulassen. Trotz allem wacht das Volk doch noch auf. Es brütet lange auf etwas, es zögert lange, aber dann kommt es und sagt: So nicht! Für Leute wie Prochanow braucht man nur ein Gesetz: Aufräumen! Verbieten die ganze Sache, einfach verbieten!“

Take B/11: Terentjew, Athmo                  (027)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.
Erzähler:      Einer der Fürsten, von denen der Alte gesprochen hat, ist Valerie Terentjew. Wir sitzen in einer Laube auf dem Gelände des alten Pionierlagers direkt am Ufer des medizinischen Sees. Terentjew ist hier Hausherr, denn nach altem Brauch ist die Verantwortlichkeit für das Lager unter verschiedene Organisationen der Stadt aufgeteilt. Als Parteimitglied war Terentjew früher Vorsitzender des technischen Zweiges der „Agroprom“, der Landwirtschaftsverwaltung. Heute ist er der Chef derselben Organisation. Nur heißt sie jetzt technische Kooperative.
Sein Hauptproblem ist die zunehmende Desorganisation. Dass der Heilschlamm des Sees nicht systematisch genutzt, in letzter Zeit sogar zunehmend unkontrolliert einfach wagenweise privat weggeschafft wird, findet er schlimm. Schlimmer noch findet er die Desorganisation der Landwirtschaft, wo kein Rad mehr ins andere greife. Darüber hinaus quält ihn der generelle Bruch der wirtschaftlichen Beziehungen.
Aus seiner Alternative macht er kein Hehl:

takeA/18:Terentjew, Zitat            (043)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Übersetzer:  „Nun, es ist wohl nicht der beste Weg, wenn sich             alle in einzelne Fürstentümer auflösen. Wir hängen voneinander ab.  Soll Moskau also meinetwegen das Zentrum sein! Aber dann geben wir soviel, wie es braucht, für Unterhalt der Regierung, für allgemeine Aufgaben, also Medizin, Wissenschaft. Alles, was einzelne Republiken nicht allein unterhalten können, muss man zentralisieren. Alles Übrige aber muss man in die sozialen Belange, in die Infrastruktur, in die Entwicklung der eigenen Region stecken. Das muss hier bleiben, damit man nicht in Moskau betteln und mit dem Hut in der Hand den Bückling machen muss.

take A/19: Terentjew, Forts.                  (030)
Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler: Dies alles verblasst für Terentejew jedoch vor dem,             was er als Hauptproblem sieht:

Übersetzer:  „In einer Woche beginnt die Ernte. Aber die             Leitungen haben Angst, mit der Ernte zu beginnen: Kein Brennstoff! Treibstoffe gibt es zu solch wüsten Preisen. Wenn sie anfangen, wenn sie die Ernte einbringen und dem Staat abgeben, dann arbeiten sie allein für den Treibstoff. Wovon aber leben? Das ist das gegenwärtige Dilemma. Die Ernte muss rein!“

Take A/20:  Terentjew, Forts.                (050)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden, am Textende hochziehen, dann langsam ausblenden.

Erzähler:  Wie alle anderen ist auch er überzeugt:

Übersetzer:    „Chaos, nein! Chaos wird es nicht geben. Das Volk             ist äußerst geduldig. Nur, es gibt keine Ziele, so dass man klar wüsste, wohin. Ich jedenfalls weiß es nicht, ebenfalls nicht. Generell, denke ich ist es notwendig, Neuwahlen durchzuführen, und zwar für die Sowjets, also die Parlamente, wie auch für den Präsidenten.“
Erzähler:  In diesem Punkt sind sich zurzeit alle einig.             Aber wird das ermüdete Volk nach den erlittenen Enttäuschungen die Bereitschaft für einen solchen neuerlichen Kraftakt aufbringen können? Und woher kommen die sachlichen, nicht zuletzt auch die personellen Alternativen?

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*