Moskau – Kampf der Alternativen? (Text)

Im Frühjahr 1992 etwarf Boris Kagarlitzky, ein auch im Westen bekannter Reformsozialist, mir ein bedrückendes Szenario: Boris Jelzins „Schockprogramm“, insbesondere die Strategie der Privatisierung, die das Jelzin-Kommando in Verfolgung der IWF-Richtlinien umsetzen wolle, werde sich sehr schnell als nicht durchführbar erweisen. Gegen Ende des Jahres `92, spätestens zum 1. Januar 93, wenn seine Sondervollmachten endeten, mit denen er im August ’91 als Sieger aus dem Machtkampf mit Michail Gorbatschow hervorging, werde die Krise keineswegs, wie versprochen, überwunden, sondern im Gegenteil Jelzin am Ende sein. Die Direktoren der industriellen und landwirtschaftlichen Staatsbetriebe, gestützt auf die von ihnen vertretenen Arbeitskollektive, würden eine Änderung der Politik von ihm erzwingen. Er werde Gaidar fallen lassen müssen. Wenig später werde er selbst gehen und den Platz für Alexander Ruzkoi freimachen oder selbst auf dessen politische Position rücken müssen. Aber auch das werde nur ein Zwischenspiel sein. Am Ende werde so etwas stehen wie der Kriegskommunismus nach der Revolution von 1917, eine nationale Stabilitätsdiktatur, die die Privatisierung der Staatsbetriebe stoppen und im übrigen zur rigiden staatlichen Lenkung der Wirtschaft übergehen werde. Ob dem später eine Demokratisierung folgen könne wie in Chile, sei offen.
Die jetzigen Ereignisse in Moskau erscheinen vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Szenarien, wie eine Aufführung nach Drehbuch: Jegor Gaigar mußte Viktor Tschernomyrdin, einem Mann der „Bürgerunion“, also des Direktorenkorpus, weichen. Boris Jelzin tritt den Souveränitätsbetsrebungen innerhalb der russischen Föderation hart entgegen. Sein Außenminister reklamierte in der „Nato Review“ den ehemaligen sowjetischen Staatsbereich in Euro-Asien jetzt als Einflußzone Rußlands. Die Koversionspolitik, die die Rüstungsmonopole an den Rand des Bankrotts trieb, ist einer neuen Rüstungspolitik gewichen – diesmal unter „marktwirtschaftlichen“ Vorzeichen. Jelzin selbst kritisierte sein Wirtschaftskabinett wegen zu großer Zurückhaltung in dieser Frage. Die vaterländische Rechte hat sich inzwischen als „Nationale Rettungsfront“ zu einer ernstzunehmenden Kraft entwickelt, gegen die sogar die großrussischen Positionen von Alexander Ruzkoi noch maßvoll wirken. Aber Ruzkoi und die „Bürgerunion“ sind sich nicht zu schade, den Präsidenten jetzt im Bündnis mit diesen Kräften noch weiter auf ihre Linie zu drängen – wenn er nicht den Hut nehmen will.
In den neuesten taktischen Wendungen auf der Moskauer Bühne sieht es so aus, als könne Boris Jelzin noch etwas mehr Zeit herausschinden, als von seinen Kritikern erwartet. Aber die Tagesprognosen, die in den Medien ausgegeben werden, schwimmen an der Oberfläche. So galt der Präsident nach seinem letzten Zug, mit dem er ein Plebiszit für den 25. April ankündigte, den einen als Sieger, den anderen als Verlierer, den dritten schlichtweg als interessanter Spieler.
Nur in einem ist man sich in der westlichen Berichterstattung fast vollkommen einig: daß es um einen Machtkampf zwischen Demokratie und kommunistischer Reaktion gehe. US-Präsident Clinton versprach Soforthilfe. Staatspräsident Mitterand eilte vor Ort, um den angeschlagenen Jelzin zu stützen. Bundeskanzler Kohl ermahnte die Japaner, nun endlich aus der Reserve zu kommen. Die Konferenz der „G-7“-Staaten in Honkong beschloß sofortige „konkrete und sichtbare Unterstützung“. Gewaltenteilung oder Gewaltenkonzentration, demokratisches oder sowjetische Prinzip, Marktwirtschaft gegen Kommandowirtschaft. Das seien die Alternativen, heißt es, um die es gehe.
Aber ist damit die gegenwärtige Krise beschrieben?
Was Boris Jelzin absichern lassen will, ist ja keineswegs ein demokratisches System, das aus Initiativen von unten erwächst und sie fördert. Es ist ein System von Präfekten, das er im Lande aufgebaut hat, die von ihm selbst oder seinen Vertrauten bestellt werden. Das geht von den Landes- bis hinunter zu den Dorfadministratoren. Nach dem August 1991 zogen sie überall als „neue demokratische Macht“ in die Rathäuser und Dorfverwaltungen ein. In der Praxis erwiesen sie sich keineswegs als die Pioniere des Aufbaus neuer demokratischer Infrasturkturen, sondern als Instrumente der Liquidierung, über die die Strategie der Totalprivatisierung gegen die widerstrebenden Sowchosen, Kolchosen und sonstigen Kollektive durchgesetzt von oben und von den Regionen her gesehen von „Moskau“ aus durchgesetzt werden soll.
Was ist andererseits von den „Räten“ und selbstbestimmten „obschtschinas“ zu halten, in deren Namen Ruslan Chasbulatow und der Deputiertenkongress die Selbstherrschaft Boris Jelzins beschneiden wollen? Stimmt, der Kongreß noch zu Zeiten Michail Gorbatschows gewählt, als das Parteienmonopol der KPdSU noch galt, setzt sich in seiner großen Mehrheit aus Betriebs-, Sowchosen und sonstigen Direktoren zusammen. Die „Bürgerunion“, eine der stärksten Fraktionen im Kongreß, vertritt praktisch die Interessen der zentralen Monopole, das heißt unter den gegebenen Umständen die Interessen der postsowjetischen Industrie, des militärisch-industriellen Komplexes, darüber hinaus der landwirtschaftlichen Produktion. Arkadi Wolksi, leitende Figur der „Bürgerunion“ ist als Präsident des Unternehmerverbandes, Vizepräsident Alexander Ruzkoi als dekorierter Afghanistan-Veteran dessen passender Repräsentant.
Indessen sind sie nicht einfach die Überreste der alten Nomenklatura. Auch sie vertreten das Volk, und sie sind gleich doppelt gewählt: einmal als Betriebsleiter und zum zweiten als Vertretung von Betriebskollektiven im obersten Sowjet. Wer einmal im Lande war, weiß, daß das Betriebskollektiv, sei es in der Fabrik, in der Sowchose oder einem Institut, auch in der post-sowjetischen Gesellschaft nach wie vor die soziale Grundeinheit ist, über die der gesellschaftliche Austausch geregelt wird. Manches eins dieser Kollektive ist mit einem ganzen Dorf, einer Stadt oder gar einer region identisch. Einerseits zerstört die Krise zwar diese Struktur, andererseits läßt sie die darin liegende Abhängigkeiten noch schärfer hervortreten: Direktoren und Arbeiterschaft entwickeln das gleiche Interesse, nämlich, ihren Betrieb arbeitsfähig, mindestens aber lohnzahlungsfähig zu halten. Damit repräsentieren die Direktoren die real existierende Verfaßtheit der postsowjetischen Gesellschaft.
So stehen sich in der „Präsidialstruktur“ zum einen und den „Räten“ zum anderen nicht Marktwirtschaft und Komnandowirtschaft gegenüber, sondern altes und neues Kommandosystem. Das eine, Repräsentiert durch den Kongreß der Deputiuerten ist nach der Liquidierung der Partei wie ein Körper ohne Kopf, das andere wie ein Kopf, dem der Körper fehlt. Die Gefahr besteht nicht, daß Boris Jelzin eine Präsidialdiktatur errichten könnte. Er hat es bereits – nur fehlt ihm der Rückhalt im Volk und es ist zu bezweifeln, daß er das, was er in „500 Tagen“ nicht geschafft hat, nun in 5 Tagen schaffen könnte, wie es in dem neuesten Präsidenten-Dekret vorgekaukelt wird, wo die Wirtschaftsminister aufgefordert werden, innerhalb von fünf Tagen Vorschläge zur Lösung der Krise zu unterbreiten. Selbst das Heer steht nicht zu seinen Diensten. Er kann bestenfalls appellieren, daß es sich zurückhalten möge. Ebensowenig besteht die Gefahr einer Direktoren-Diktatur. Die Direktoren sind auf das Vertrauen ihrer Belegschaften existenziell angewiesen. Die Gefahr liegt in einem Handel zwischen beiden Kommandosystemen, in dem die soziale Kontrolle des einen mit der diktatorischen Exekutivgewalt des anderen auf der Grundlage des „nationalen Konsenses einer großrussischen Politik eine Synthese eingeht, anders gesagt, wenn das alte und das neue Kommandosystem sich verbinden und von der sozialen Schutzfunktion des Kollektivs nur die Kontrolle und von der Privatisierung nur die Rationalisierung und Verelendung der Masse der Bevölkerung übrig bleibt. Dann hat die Bevölkerung nichts mehr zu lachen.
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So ist zu wünschen, daß der angestrebte Konsens von oben nicht zustande kommt, sondern daß das Volk tatsächlich befragt werden muß, und zwar nicht nur mit einem demagogisch benutzten Referendum, sondern indem es seine eigenen sozialen Interessen von unten selbst formuliert.
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Wenn es eine Chance für eine demokratische und friedliche Bewältigung der post-sowjetischen Krise gibt, dann nur als Dialog zwischen den angeblichen Alternativen, nicht als dessen Unterbindung. Nicht Privatisierung oder Kollektivismus, nicht Kollektivismus plus Autokratismus, sondern individuelle und föderative Selbstbestimmung auf der Grundlage der besonderen kollektivistischen Geschichte Rußlands und der Sowjetunion wären der mögliche Weg. Es bleibt zu hoffen, daß auch die westlichen Beobachterinnen und Helfer endlich begreifen, daß man einer tausendjährigen Geschichte Rußlands nicht in einem Jahr, nicht in zwei Jahren und nicht in einer Generation den westlichen Stempel aufdrücken kann und das das auch nicht wünschenswert ist. Demokratie wird sich auch in Rußland nur nur entwickeln können, wenn sie an den Bedingungen des eigenen Landes anknüpft. Was dabei herauskommt, ist offen.

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