Über den „gespaltenen Zentralismus“ Gespräch mit Valentin Falin im „Institut für Friedensforschung“

Valentin Falin war von 1971 bis 1978 Botschafter der UdSSR in Bonn. „Sieben Jahre, vier Monate, drei Tage“, sagt er. Seit dem 14.1.92 hält er sich in Hamburg auf, wo er im „Institut für Friedenforschung“ ein wissenschaftliches Projekt über Verlauf und Ergebnisse der Perestroika verfolgt. Mit Valentin Falin sprach Kai Ehlers.

I: Herr Falin, sie leben jetzt in Deutschland. Kamen Sie freiwillig oder als Emigrant?

F: Freiwillig wäre überzogen gesagt. Es ist vor allem die Notwendigkeit, einen Ersatz zu schaffen für meine verlorenen Voraussetzungen, zuhause wissenschaftlich zu arbeiten. Ich habe in Russland meine wissenschaftliche Bibliothek verloren, die Notizen, die aus den letzten dreißig Jahren stammen. Sie waren in meinem Büro im ZK. Ich habe sie nicht herausbekommen. Hier sind die Bedingungen für eine normale analytische Arbeit viel besser. Deswegen haben meine Frau und ich das Angebot des „Instituts für Friedensforschung“ angenommen.

I: Sie sind bekannt als jemand, der auch während der Zeit der etwas gespannteren Beziehungen zwischen Ost und West immer für einen Dialog eingetreten ist. Wie kommt es, dass in einer Situation, in der der Ost-West-Dialog im Mittelpunkt steht, gerade Sie in solche Schwierigkeiten kommen?

F: Es ist nur ausgewählten Personen bekannt, was ich zu verschiedenen Zeiten zu tun versuchte, um die Partei umzuordnen, unsere Gesellschaft, unsere Innen- und Außenpolitik. Das ist ziemlich lange her. Ich hatte Möglichkeiten, mit ersten Personen des Staates und der Partei einen ganz direkten Kontakt zu pflegen. Ich begann meine Arbeit in einer Analysezentrale, die für Stalin Papiere verfertigte. Später, Anfang der sechziger Jahre, hatte ich das Privileg und (lächelt verhalten) die Strafe jede Woche seinen Nachfolger Chruschtschow zu sprechen und ihn zu hören…

I: Wieso Strafe?

F: Weil seine Monologe nicht immer so überaus interessant war. Am Ende war es auch ein bisschen traurig, zu beobachten, wie ein Mann zugrunde ging, indem er über sich selbst stolperte.

I: Wie stehen Sie zu dem sogenannten Putsch?

F: Das ist ein merkwürdiger Putsch in jeder Beziehung. Ich würde ganz definitiv sagen: Wenn dieser Versuch im Geheimen vorbereitet war, so vor allem geheim gegenüber der Partei. Ich selbst war zu der Zeit der Auslösung des Putsches im Urlaub. Ich kam erst nach Moskau, als die Krisensitzung, die ich als Präsident leiten sollte, schon beendet war und konnte nur, sozusagen am Rande, meine Fragen stellen. Da bekam ich von dem geschäftsführenden Mann, Schenin, die Antwort: Stellen auch Sie keine Fragen, auf die Sie keine Antworten kriegen! Mein hartnäckiges Bohren provozierte eine weitere Replik von ihm: Das sei vor allem eine Frage des Staates und nicht der Partei! Am nächsten Tage habe ich, wie auch die anderen, erfahren, der gleiche Schenin habe im Namen des Sekretariats ein Telegramm an die Parteiorganisation des Ortes verbreitet, in dem es hieß, dass man namens der Organisation das Komitee unterstütze. Es wurde in dem Telegramm aber auch gefragt, wie weit die Maßnahmen der Verfassung entsprächen. Heute wird der zweite Teil des Telegramms weggelassen, der sich auf die Verfassung bezieht. Es wird nur der erste zitiert, also, die Maßnahmen des Komitees zu unterstützen. Das wird als Beweis angeführt, dass die Führung der Partei in die Vorbereitungen und Ausführung des Putsches involviert war. Das war nicht der Fall!

I: Abgesehen von dem, was sich da im Hintergrund alles abgespielt hat, hätten Sie sich mit den Zielen des „Notstandskomitees“ identifizieren können?

F: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die Putschisten formell die Respektierung des Volkswillens aus dem Referendum vom 17. März 91 zum Ausdruck gebracht und für die Einhaltung der Verfassung plädiert hatten. Soweit die Verfassung existiert, soweit die Gesetze in Kraft sind, egal, ob gut oder schlecht, sollen sie respektiert werden, wenn sie durch andere, durch bessere nicht ersetzt werden. Das ist das Prinzip aller Staaten, egal welchen  Systems. Aber, was die Methoden angeht, die Gewalt und vor allem die Pläne des „Komitees“, ihre Opponenten in Konzentrationslager zu verbannen und alle regelmäßigen Treffen außer Kraft zu setzen, das würde ich strikt ablehnen. Das haben wir in unserem Lande schon erlebt. Für mich war es vollkommen undiskutabel, so etwas zu wiederholen.

I: Wenn ich mir heute anschaue, wie Jelzin regiert, dann ist das doch genau das Notstandsregime, für das vorher die Putschisten eingetreten sind.

F: Ich kann bedingt der These zustimmen, dass Jelzin nicht gerade weich regiert und außerordentlichen Methoden nicht vollkommen fremd ist. Das ist auch Gegenstand der Kritik an ihm im Kongress der Volksdeputierten. Es ist auch eine besondere Frage, die eine Analyse braucht, wie drei Personen alle Verträge und alle verfassungsmäßige Entscheidungen aus dem Jahre zweiundzwanzig und später außer Kraft setzen konnten und der Existenz der Sowjetunion ein Ende bereiteten. Das schafft viele ungesetzliche Situationen. In dem Sinne ist unser Land noch weiter von einem Rechtsstaat entfernt als je zuvor.

I: Es gibt Stimmen bei Ihnen im Land, die die Sache so sehen, dass im Grunde ein Zustand erreicht worden sei, wie vor der Perestroika – nur unter anderer Form.

F: Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema. In außerordentlichen Situationen ist es unmöglich, mit ordentlichen, weißen Handschuhen  zu regieren. Es ist nur eine Frage des Maßes und des rechtlichen, wenn Sie gestatten, Taktes. Ich selbst würde vorziehen, dass keine Rückschläge in der Frage der Rechtspflege entstünden. Kontinuität beim Aufbau einer Gesellschaft, in der das Recht regiert und nicht Personen, wäre mir lieber. Dafür bin ich immer eingetreten, längst vor Perestroika. Ich habe zum Beispiel versucht, Chruschtschow zu überzeugen, dass eine Regierung der Sachverständigen viel vorteilhafter wäre als die Regierung der Parteifunktionäre. Aber ich würde eine andere Frage in den Vordergrund stellen, nämlich: Welches Programm der Präsident ausführen soll und entsprechend dem Programm würde ich seine Vollmachten bestimmen, nicht umgekehrt.

I: Wie beurteilen Sie das, was unter den Stichworten der Privatisierung und der Marktwirtschaft bei Ihnen im Lande passiert? Mir scheint, da entsteht nicht Marktwirtschaft, sondern Chaos.F: Ich stimme Ihnen zu. Dieses Chaos ist von der Tatsache abzuleiten, dass die Leute, die über Marktwirtschaft, über Privatisierung sprechen, im Grunde nicht verstehen, worüber sie sprechen. Was ist ein Markt? Man sagt bei uns, das sei die Frage des Eigentums. Aber Markt ist vor allem die Frage des Wettbewerbs. Ob ein Staatsmonopol oder ein privates Monopol existiert, dem Markt ist das gleichermaßen schädlich, ebenso für den Konsumenten. Wenn wir einen Markt erreichen wollen, müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, dass von diesem Markt die verschwinden, die imstande sind, den anderen Dank ihrer Monopolstellung ihren Willen aufzuzwingen, ihre Preise, ihre Quantität, ihre Qualität und vieles andere mehr. Ich habe versucht, das dem Generalsekretär zu erklären, später dem Präsidenten Gorbatschow, den Kollegen im obersten Sowjet, in der Führung der Partei. Man darf das nicht verwechseln. Man muss erst mit der Demonopolisierung der Wirtschaft beginnen.

I: Schließt das die nationale Selbstständigkeit mit ein?

I: Welchen Weg würden Sie beschreiten wollen?

F: Einen demokratischen.

I: Eine Förderation?

F: Es kann auch eine Konföderation sein. Eine Föderation würde den internationalen Trend mehr entsprechen, aber keine aufgezwungene, sondern eine freiwillige, erkannt aus ökonomischen, ökologischen und anderen Imperativen, die uns bei Gründung des Staates dahin bewegten, nicht auseinander, sondern zusammen zu gehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Auf diesem riesigen Territorium, das früher Sowjetunion hieß, gab es in der Geschichte kein einziges Jahr, in dem es überall zugleich eine gute Ernte gab. Das heißt, bei den vielfältigen klimatischen Bedingungen, die in dem Lande existieren, sind oder waren verschiedene Teile des Volkes und des Landes aneinander gebunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die russische Dorfgemeinde bis Anfang dieses Jahrhunderts existierte. Nur gemeinsam, als eine Gemeinde im Dorfe, als eine gemeinsame Institution der oder anderer Art war es möglich, mit diesen Herausforderungen der Natur fertig zu werden. Wie jetzt? Wie wird es jetzt sein? Das ist eine Frage, auf die man keine Antwort gibt und die Frage, die man gerne vermeidet.

I: Die KPdSU, als zentraler Mechanismus, hat die alten gemeinschaftlichen Strukturen ja praktisch, nun sagen wir, vom Anspruch her ersetzt. Jetzt ist sie zerfallen. Was kann an ihre Stelle treten?

F: Nun, es wird so sein: Anstelle einer Staatsideologie wird eine andere eingepflanzt, die als demokratische oder als demokratischere bezeichnet wird. Aber wie ein Monopol in der Wirtschaft, so führt auch das Monopol in der Ideologie, in der Kultur in der Politik in die Sackgasse. Das ist mit unserer kommunistischen Partei geschehen. Das wird auch mit anderen geschehen, die versuchen, eine Ideologie zu erfinden und sie zu pflegen, egal wie sie heißt. Vom Wettbewerb der Ideen – das konnte in einer Partei schon geschehen. vom Wettbewerb von verschiedenen Schulen der Philosophie, der Kultur, der Kunst usw. kann man sich etwas versprechen. Gerade in diesem Punkt hat Stalin – und seine Nachfolger auch – den Marxismus der Seele beraubt. Was Stalin aufbaute, war Antisozialismus. Stalins Modell hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Und wenn man heute über den Niedergang des Stalinsozialismus spricht, dann, korrekter gesehen, trägt man den Antisozialismus stalinschen Schlages zu Grabe.

I: Ich sehe darin schon eine Entwicklungsform des Sozialismus. Man darf sich nicht um die historische Kritik drücken.

F: Es ist nicht die heutige Erkenntnis, dass Stalin etwas dem Sozialismus Entgegengesetzes aufgebaut hat. Das ist zum ersten Male im August 1932 formuliert worden, und zwar von Rüting. Stalin tötet unter dem Motto „Leninismus!“, unter dem Motto „Proletarische Diktatur“. Das war damals schon Leuten klar. Später war es bequem aus verschiedenen Gründen, auch aus materiellen, diese Lehren zu vergessen. Und dieser langwierige Abschied vom Stalinismus: sechsundfünfzig mit Chruschtschow eingesetzt und bis zum Ende der Perestroika nicht zu Ende geführt!  Wie anders konnte die Partei von den Methoden dieser grausamen Zeit Abstand nehmen, als dass sie letztenendes ein eigenes Todesurteil unterschrieb! Ich habe das ganz offen gesagt, 1957, mehrmals später ’68 aus Anlass des Prager Frühlings, dann ’80 aus Anlass der Geschehnisse in Polen, ’86 aus Anlass der Gestaltung des ideologischen Programms der Perestroika. Aber es gab die Weiseren, die imstande waren, der Führung etwas anderes nahezulegen.

I: Halten Sie eine politische Sammlungsbewegung unter Gedanken des konservativen Kommunismus in der ehemaligen SU für möglich?

F: Das hängt davon ab, wohin das Land weiter steuert. Wie der Weg, der heute beschritten wird, die Bevölkerung herausfordert, auf die Straße zu gehen. Wenn, was ich befürchte, dieser Sommer eine katastrophale Missernte bringt, weil auf dem Lande alles fällt, dann – Ende! Dann ist nichts ausgeschlossen! Dann wird es den Ruf nach einer „harten Hand“, einer Art von Stalin, Neo-Stalin oder ich weiß nicht wie geben. Das wird leider nicht so verstanden. Es wäre das für lange Zeit das Ende des Versuches, eine unblutige Veränderung zustande zu bringen. Bei allem, was Gorbatschow gut oder schlecht gemacht hat, bei all dem, was wir heute mit dem sogenannten Putsch in Zusammenhang bringen – man vermied Blut, Meere von Blut! Das schien mir eine ganz neue Qualität in der Entwicklung nicht nur unserer Ordnung zu sein, sondern in der Entwicklung der internationalen Politik überhaupt, weil es bis dahin kaum jemanden gelang, den Sprung aus einer sozialen und politischen Qualität in die andere ohne Opfer zu unternehmen.

I: Betrachten wir in diesem Zusammenhang die Politik des neuen Deutschland. Nützt sie einer solchen friedlichen Transformation?

F: Nun, die Bundesrepublik vertritt ihre eigenen Interessen. Das ist legitim und verständlich. Die Regierung will beweisen, dass das, was erreicht wurde, Wiedervereinigung Deutschlands, Abschaffung einer militärischen Gefahr, Ergebnis einer langfristigen Ostpolitik war, an der die CDU, zum Teil die FDP aktiv teilgenommen, die sie zum Teil mitgestaltet habe. Nach diesen Vorstellungen ist alles, was im Osten passierte, ein Sieg des Staates, ein Sieg der Regierung, ein Sieg der Ordnung, die hier in der Bundesrepublik existiert. Man versucht sogar den Gedanken zu entwickeln, die Ostpolitik am Anfang der 70er Jahre (also, die der SPD – K.E.) sei eine falsche Politik gewesen. Hätte man sie nicht betrieben, wäre der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR schon früher eingetreten! Das heißt, man unterstellt, dass die Politik der Gewalt eine produktive gewesen sei. Sie soll fortgesetzt werden in der oder einen anderen Form. Die Zeit für solche Politik ist nicht abgelaufen. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Neben den Vorteilen, die aus der Entwicklung entstanden sind, erkennt man auch klare Nachteile: Es gab eine stabile Situation im Osten, solange die Sowjetunion existierte. Es gab eine überschaubare Politik des Landes, soweit es überhaupt möglich ist. Es hatte sich auch eine Praxis herausgebildet, die eine Kontrolle über die Rüstungen ermöglichte etc. Praktisch sind wir heute alle in einer Null-Situation. Wir müssen vieles aufs Neue beginnen. Es ist zwar merkwürdig, aber doch eine Tatsache, dass der Abrüstungsprozess sich irgendwie im Stillstand befindet. Man braucht neue Konzepte, braucht neue Mechanismen, braucht vieles weiteres Neues. Aber wie dieses Neue aussehen wird, weiß niemand im Moment.

I: Ist die deutsche Vereinigung ein Ergebnis erfolgreicher deutscher Politik oder des Zusammenbruchs, bzw. einer klugen Politik von Seiten der Sowjetunion?

F: Beides gehört zusammen. Es gibt keine einheitliche und nicht nur eine einzige Antwort auf eine solche Frage. Ich würde Folgendes sagen wollen: Die Frage, wann die Spaltung überwunden werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Aber es ab verschiedene Modelle der Entwicklung. Es gab auch verschiedene Zeitvorstellungen für eine solche Wiedervereinigung und die damit zusammenhängende Überwindung der Spaltung Europas, Überwindung der Spaltung in der Welt. Wenn es anders verlief, so ist das zum Teil Ergebnis der von der sowjetischen Führung herbeigeführten Politik, von Manövern in dieser Politik, die bis heute nicht erklärt sind. Zum Teil ist es auch Ergebnis der sehr dogmatischen Position der damaligen DDR-Führung. Und letztenendes war es auch eine Entwicklung der ganzen Situation im Warschauer Pakt-Bereich.

I: Wenn Sie das Ergebnis betrachten, das dabei herausgekommen ist, dieses neue Deutschland: War es das wert?

F: Dieses neue Deutschland wird in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die heutige Entwicklung ist viel teurer als die, die möglich gewesen wäre, wenn man Alternativen berücksichtigt hätte. Sie ist vor allem für die einfachen Menschen teurer, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist. Letztenendes wird das technologische Niveau in den neuen Bundesländern höher sein als in den alten Bundesländern, zum Teil höher als in anderen europäischen und möglicherweise auch in nicht-europäischen Ländern. Man setzt neueste Produktionen ein wie nach einem Kriege. Neueste Technologien, die nicht im Kompromiss mit alten in Angriff genommen werden, sind den alten immer einige Jahre voraus. Kein Land inklusive Japan ist imstande so etwas zuhause zu leisten. Das ist einfach zu teuer. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen es schaffen, obwohl das, ich wiederhole, ungeheuer viel materielle, moralische und menschliche Kosten verursacht. Aber letztendendes bin ich sicher, soweit alles normal in der Welt verläuft, ist das erreichbar für dieses dynamische Volk und für diesen dynamischen Staat. Dies haben die Deutschen nicht nur einmal in der Geschichte bewiesen.

I: Kann dieses Deutschland, das Sie so beschrieben haben, Modell sein für die ehemalige Sowjetunion?

F: Ja, wenn Deutschland seine Potenzen in einer konstruktiven, friedlichen Politik zu verwirklichen sucht und nicht in einer Politik der Gewalt, direkt oder indirekt, wenn Deutschland versteht, das es ein Teil Europas und der Welt ist, und nicht ein Zentrum und, dann ja. Ich möchte aber auch unangenehme Aspekte nennen, die leider auf Grund der Analyse nicht auszuschließen sind: Ein äußerer Zwang, so zu sein, ist auch für Deutschland verschwunden. Die Existenz der DDR bewegte Bundesdeutschland, stärkeres Gehör zu entwickeln gegenüber Forderungen von Mittelschichten, Bauern, Rentnern, als unter anderen Umständen politische Führungen bereit sind zu zeigen.

I: Es gibt bei uns viele Leute, die sich einem neuen starken Deutschland fürchten.

F: Solche Gefahren sind immer latent. Es hängt davon ab, ob die Atmosphäre, die materiellen und die anderen Voraussetzungen existieren, die aus dieser latenten Gefahr eine akute machen. Die jüngsten Wahlen in Baden-Würthemberg und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass dies als ernste Herausforderung zu verstehen ist. Ich möchte nicht zu denen gehören, die solche Gefahren überschätzen. Unterschätzen und überschätzen ist gleichermaßen falsch. Man muss genau wissen, woher der Wind weht und welche Methoden es gibt, um die Entwicklung nicht nur zu überwachen, sondern nach Möglichkeit zu beeinflussen. Das ist die Kunst der Politik, die Kunst, die uns zu eigen zu machen wir verurteilt sind, wenn wir uns über die Zukunft der nächsten Generation Gedanken machen wollen.

I: Viele beklagen ja auch die gegenwärtige Weltunordnung und sehen sich zum früheren Status quo zurück. Was halten Sie davon?

F. Die Bi-polare Welt beugte manchen Amokläufen der einzelnen Nationen vor. Andererseits ist die heutige Entwicklung kein Schlusspunkt. Die andere Ordnung wird sich etablieren, die den modernen Herausforderungen adäquater ist als die, die es gegeben hat.

I: Welche neue Ordnung, gar welche neue Utopie könnte sich Ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenbruch entwickeln?

F: Erst einmal war das keine Utopie. Das war ein praktischer Versuch, eine praktikable Ordnung zu gründen, ein Versuch, der im Laufe der Entwicklung entartete, auf Grund des Kampfes auf Leben und Tod mit dem anderen System, also praktisch Sozialismus in einem Lande und nach dem Kriege in mehreren Ländern. Dieser Versuch hat keine friedliche Stunde erfahren. Das war ein permanenter, zermürbender Kampf. Auch in diesem Kampf hätte eine Ordnung, die sich als sozialistische bezeichnet, allerdings nicht zugrunde gehen müssen, wenn die Führer dieser Ordnung eine korrekte Politik durchgeführt hätten. Das war aber auch nicht der Fall.Trotz allem hat die sozialistische Idee in diesem Jahrhundert ganz tiefe Spuren hinterlassen. Wenn Sie den Kapitalismus von heute mit dem Kapitalismus aus dem Jahre ’17 vergleichen, dann sind auch das zwei verschiedene Ideologien. Das ist nicht von ungefähr vom Himmel gefallen, Das ist ein Ergebnis der Anpassung des Kapitalismus an die neue Welt, die dank dieses Versuches, Sozialismus aufzubauen, entstanden ist. Wenn schon der Versuch solche Folgen gehabt hat, dann können wir uns vorstellen, welche produktiven Potenzen in der Idee der sozialen, der nationalen und der menschlichen Gerechtigkeit liegen. Das ist nicht die Frage des Marxismus etc. Der Sozialismus ist viel älter als der Marxismus. Die Idee ist wenigstens zweitausend Jahre alt. Deswegen die Idee zu Grabe zu tragen, weil die marxistische Variante dieser Idee sich nicht so gerechtfertigt hat wie gewünscht, ist weder fair noch praktikabel.

I: Welche Schlussfolgerungen haben Sozialisten Ihrer Meinung nach aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen?

F: Sozialisten sollen einmal irgendwann versuchen, nicht nur sozialistisch zu plaudern, sondern sozialistisch zu denken und vor allem zu handeln. Sozialistisch, das heißt, die Moral in den Vordergrund zu stellen, das Wort der Tat gleich zu machen. Es heißt, keine leichten Versprechungen zu verstreuen, um Stimmen zu gewinnen, und dafür Sorge zu tragen, dass nicht die Gewalt die Welt regiert, sondern Recht und nicht einzelne Personen die Schicksale der Zivilisation und des Individuums gestaltet.